Die falsche Tote
Ein Fall für Kommissar Cederström
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Daniel Scholten
Der Zweite Tod
Ein Fall für Kommissar Cederström
Stockholm in der ersten Schneenacht: Der Altertumsforscher Carl Petersson wird in seinem Arbeitszimmer erstochen aufgefunden. Offenbar stand er kurz vor einer wissenschaftlichen Sensation: Ist es ihm gelungen, die dreieinhalb Jahrtausende alte Inschrift auf dem Diskos von Phaistos zu entschlüsseln? Kommissar Kjell Cederström und seine Kollegen stoßen bei ihren Ermittlungen auf ein rätselhaftes Passwort, das ihnen Zugang zu einem Server verschafft. Doch nicht nur die Polizei ist daran interessiert, das Passwort zu entziffern. Eine tödliche Jagd beginnt …

1

Dienstag, 27. November

Carl Petersson saß in seinem roten Lesesessel im Arbeitszimmer und wartete auf das Ende. Es war weit nach Mitternacht, als es endlich an der Tür klingelte. Er schrak auf. Das Buch auf seinen Beinen machte einen kleinen Satz und klappte mit einem dumpfen Knall zwischen seinen Knien zusammen.
Jetzt war es so weit. Dreißig Jahre hatte er gebraucht. Er hatte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Jetzt erst war er so gut, wie er es sich immer vorgenommen hatte. Noch keiner hatte erreicht, was ihm gelungen war.
Er saß mit durchgestrecktem Rücken regungslos in seinem Sessel und reckte den Kopf. Das Buch rutschte unbemerkt zwischen seinen Knien hindurch, fiel auf seine Füße und dann auf den Boden. Die Zimmertür war halb geschlossen. Er starrte in den dunklen Gang hinaus, ohne die Wohnungstür von seinem Platz aus sehen zu können. Seine Hände lagen schon auf der Lehne, aber er zögerte. Es klingelte wieder. Im Wohnzimmer drehte Mari den Fernseher leiser. Dann brachten ihre wütenden Schritte den Parkettboden im Gang zum Schwingen, das spürte er bis hierher. Er sank ein wenig zurück und horchte. Carl Petersson hörte eine atemlose Männerstimme. Mari wechselte einige Worte mit dem Kurierboten, doch sie drangen nur undeutlich bis zu ihm ins Arbeitszimmer. Sie schloss die Tür. Die Sekunden verstrichen. Warum verstrich bei ihr immer so viel Zeit? Er blickte zur Wanduhr und dann aus dem Fenster. Gleich war es ein Uhr. Im Haus gegenüber waren die letzten Lichter erloschen. Es hatte zu schneien begonnen.
Die lange Zeit der Anspannung war nun zu Ende. Sie hatte Mari besonders zermürbt. Noch ahnte sie nicht, dass jetzt alles anders werden würde. Er hatte ihr viel zu erzählen.
Endlich trat sie ins Arbeitszimmer, das Kuvert hielt sie in der linken Hand. Es war so groß und dick, wie er erwartet hatte. Mari blickte ihn fordernd an, ohne sich für das Kuvert zu interessieren. Sie forderte etwas ganz anderes. Dafür würde bald Zeit sein. Er lächelte, erkannte dann aber sogleich, dass sie das missverstand. Ohne ein Wort legte sie das Kuvert auf die freigeräumte Platte des Schreibtischs, machte aber keine Anstalten, wieder ins Wohnzimmer zurückzukehren. Jetzt konnte sie auch dabei sein.
»Mach es auf«, knurrte er, weil er glaubte, seine Hände würden zu fahrig sein, um es selbst zu tun.
Mari zerrte und rüttelte an der Lasche des Kuverts, begriff dann aber, dass sich das Papier nicht zerreißen ließ.
»Nimm doch den Brieföffner! Das Papier ist reißfest.«
Sie zog die Schreibtischlade auf und wühlte ungeduldig in den Stiften herum, bis sie den Brieföffner mit der geschliffenen Spitze fand.
Carl stemmte sich aus dem Sessel und schlurfte in seinen Lederpantoffeln zu ihr hinüber. Er spürte sein Alter in den Gliedern. Bishops Elamische Paläographie blieb auf dem Boden liegen.
Sie war schön in ihrem Nachthemd. Er erahnte die weiblichen Formen ihres jungen Körpers darunter. Gerne hätte er seine Arme um ihre Hüften gelegt und nach der langen Zeit endlich wieder etwas Zärtliches zu ihr gesagt. Aber sie würde seine Aufmerksamkeit sofort ganz für sich einfordern. Er setzte sich still an den Schreibtisch.
Mit der Spitze des Zeigefingers wischte er über die frisch polierte Platte. Er konnte kaum glauben, wie glatt es lief. Es war ein Meisterstück, sein Meisterstück.
Mari hatte endlich das Kuvert geöffnet, fischte die Papiere heraus und breitete sie vor ihm auf dem Tisch aus. Carl trennte die drei gehefteten Stapel und legte sie nebeneinander. Am Morgen hatte er den Schreibtisch freigeräumt und das Holz gepflegt, um seine Nerven zu beruhigen. Er hatte dreimal nachpolieren müssen, bis der ölige Film ganz verschwunden war. Bildschirm und Computer standen noch auf dem Boden. Er war zu aufgeregt gewesen, um die Kabel wieder zusammenzustecken.
Wie erhebend sich die drei Stapel nun auf der leeren Holzplatte ausmachen würden, hatte er nicht bedacht. Ein Anblick der Klarheit am Ende eines langen Weges.
Zufrieden überflog Carl Petersson die Seiten. Das Rascheln und Knistern des dünnen Durchschlagpapiers füllte die Stille im Zimmer aus, nur vom Wohnzimmer her drang leise eine Frauenstimme aus dem französischen Spielfilm herüber. Jetzt mussten sie nur noch warten, bis es wieder klingelte. Mari würde überrascht sein.
Stattdessen kam der Schlag. Die Wucht ließ seinen Oberkörper einmal vor- und zurückwippen. Etwas Großes und Schweres musste ihn von hinten getroffen haben. Der Schmerz drang spitz und stechend in seinen Rücken ein und breitete sich in Wellen in seinem Körper aus. In seinen Fingern und Zehen schienen ihn winzige Nadeln zu stechen. Die Welle hinterließ überall Taubheit. Sein Körper schlief langsam ein. Die Wurzel seiner Zunge begann anzuschwellen und gegen seinen Gaumen zu drücken. Er bildete sich Gerüche ein, die es hier nicht geben konnte. Mandeln und Veilchen. Er schmeckte die Säure, die aus seinem Magen heraufdrang. Die Überraschung ging in eine träge Schwere über, dazwischen durchlitt er einen Augenblick der Fassungslosigkeit. Wie ein hämisches Echo hallte Sinuhes berühmter Ausspruch durch seinen Kopf.
Das ist der Geschmack des Todes.
Es gab nun keinen Zweifel mehr darüber, auf welchem Wort der Satz zu betonen war. Die wissenschaftliche Diskussion war beendet. Dass er einmal solche Gewissheit erlangen würde, hatte er nicht erwartet.
Das war alles. Weiter kamen seine Gedanken nicht. Carl Petersson drehte den Kopf zur Seite. Mari stand schweigend da und starrte ins Leere. Sie hatte den Blick von ihm abgewandt. Wut, Schrecken, er las beides in ihren Augen. Warum sah sie ihn nicht an? Er griff sich an den Rücken und tastete, bis er kaltes Metall spürte. Ohne zu begreifen, tastete er weiter. Ein unbekanntes Ziel zog seine Finger an, bis seine Hände in ihrer Verdrehung zu zittern begannen.
Der Brieföffner. Mari.
Mari hatte ihm die Klinge in den Rücken gestoßen. Aber er hatte doch einen dumpfen Schlag gespürt! Jetzt erst begriff er, wirklich erst jetzt.
Seine Arme erschlafften nun. Es war ihm nicht gelungen, die Klinge herauszuziehen, obwohl sie nicht so tief in ihm zu stecken schien. Sein lautes Ächzen schreckte Mari aus ihrer Starre auf. Sie tat einige richtungslose Schritte im Zimmer, riss den Aktenschrank auf, wandte sich aber wieder ab und rannte hinaus, um sogleich mit ihrer Sporttasche zurückzukehren. Im Lauf fiel sie vor dem Aktenschrank auf die Knie und rutschte noch einige Zentimeter weiter. Hastig kramte sie in den Fächern herum. Sie entdeckte die Schuldscheine mit ihrer Unterschrift darauf und stopfte sie in die Tasche. Sie entdeckte das Geld und packte alle Bündel dazu. Papiere, für die sie sich nicht interessierte, glitten unbeachtet zu Boden. Sie kümmerte sich nicht darum.
Jetzt sah er, was er nicht begriffen hatte, jetzt sah er all ihre Gedanken in dem, was sie tat.
Er konnte den Kopf inzwischen nicht mehr bewegen und nahm sie nur noch aus den Augenwinkeln wahr. So klar und entschieden hatte er sie noch nie gesehen. Mit kalten Augen blickte sie sich im Zimmer um. Dann riss sie das Telefon aus der Ladestation und rannte wieder aus dem Zimmer, eilte durch die Räume und warf ihre Sachen in die Tasche.
Auf einmal stand sie mitten im Raum, jetzt war sie angezogen. Sie trat hinter ihn und versuchte, die Klinge aus seinem Rücken zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Mari gab auf und stürmte hinaus. Mit harten Schritten kehrte sie erneut zurück und wischte den Griff des Brieföffners, der noch immer in seinem Rücken steckte, mit einem Spüllappen ab. Anschließend warf sie den Lappen als Beleidigung auf den Tisch und verschwand aus dem Zimmer.
Carl Peterssons Gedanken erlahmten. Er war viel zu weit gegangen mit ihr, das musste er sich nicht mehr eingestehen. Es lag nun offen da. Der gelbe Lappen dicht vor seiner Nase stank modrig. Er hatte ihn verdient.
Er würde sie nie mehr wiedersehen. Er verstand, und er verstand nicht. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Sie verriegelte es gewissenhaft. Einmal, zweimal drehte sie den Schlüssel herum und zog ihn heraus.
Damit war das letzte Geräusch verklungen. Carl Petersson saß allein an seinem Schreibtisch und wusste nicht, ob er leben oder sterben würde.

2

Beim ersten Piepsen des Weckers war sie hellwach. Linda Cederström öffnete die Augen, und ihr erster Gedanke war wie an jedem Morgen: Mama ist tot.
Vor vier Jahren nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter war es wie ein notwendiges Mantra gewesen, um die Veränderung in ihrem Leben an jedem neuen Morgen einzuüben, bevor sie aufstand. Aber sie war es nie mehr losgeworden. Heute blieb keine Zeit, ihre liebste Erinnerung dagegenzusetzen. Sie atmete tief durch. Sie hatte gelernt, mit dem heutigen Tag zu leben wie ein Armenier mit dem nächsten Erdbeben.
Es war finster im Zimmer. Sie richtete sich auf und fühlte eine Leere, wie sie im Magen zerrt, wenn man zu kurz geschlafen hat.
Ihr Plan! Ihr schauderte davor. Dennoch ging sie alle Stationen noch einmal in Gedanken durch, bevor sie die Decke von sich riss, aus dem Bett sprang und sich im Dunkeln zur Küche tastete. Dort knipste sie die Tischlampe an, füllte eine Tasse halbvoll mit Milch und erwärmte sie zwei Minuten und zwanzig Sekunden in der Mikrowelle. Diese Zeit nutzte sie, um Wasser im Sieder zu erhitzen und zwei Löffel Kaffee in den Filter zu schaufeln. Sie ließ das Kaffeewasser durch den Filter in die heiße Milch rinnen. Linda war wach und aufmerksam. Das musste an der Aufregung liegen, vermutete sie. Alle Handgriffe verrichteten sich wie von selbst, nachdem sie vor dem Einschlafen jeden einzelnen minutiös durchgeplant hatte, auch das Kaffeekochen.
Linda nahm die Tasse mit ins Bad, stellte sie auf der Ablage über dem Waschbecken ab und trank von Zeit zu Zeit daraus. Eine Viertelstunde später waren ihre Haare trocken genug, um damit ins Freie gehen zu können. In ihrem Zimmer lagen die Kleidungsstücke in der Reihenfolge auf dem Boden ausgebreitet, wie sie hineinschlüpfen musste. Einen Augenblick lang betrachtete sie die Sachen, wie sie so dalagen. Wie eine in Szene gesetzte Gebrauchsanweisung sahen sie aus.
Die Falsche Tote
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