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Süden der Bretagne
 
Dort musste es sein. Josefin fuhr von der Straße ab und ließ den Wagen langsam auf die Wiese rollen. Noch bevor er ganz stillstand, öffnete Clément die Tür und sprang hinaus. Mit den Augen gab er ihr ein Zeichen, dass er nachschauen wolle. Josefin zog den Schlüssel ab und pustete die Luft aus ihren Lungen. Ihr Blick folgte Clément, als er über den ausgedörrten Rasen auf die Stelle zuschlenderte, wo sich der Wald zu einem dunklen Loch öffnete. Kurz darauf hatte es ihn verschluckt. Sie drückte die Tür auf. Sofort brannte die Mittagssonne auf ihrem ausgestreckten Arm. Beim Aussteigen war es, als prallte sie gegen die Mittagshitze, die nach nichts roch und nach nichts schmeckte. Josefin schützte ihre Augen mit der Hand und versuchte, Clément zu erspähen, doch das Licht ließ allen Dingen nur die Wahl, zu erblassen oder schwarz zu werden.
Clément störte es nie, wenn er auf sie warten musste, aber dennoch zwang sie sich, ihn rasch einzuholen. Staunend betrat sie den Wald. Obwohl die Stämme dicht beieinander standen und die Wipfel der Bäume sich zu einem kompakten Dach zusammenfügten, war es gar nicht finster. Die Luft war nur ein wenig kühler als draußen und roch nach dem trockenen braunen Erdboden. Anders als zu Hause gab es kaum Grün auf dem Boden, und es ragten auch keine Felsbrocken aus der Erde hervor. Die Öffnung war der Beginn eines geraden Weges, der wie ein ausgetrocknetes Bachbett tief in die weiche Erde eingesunken war. Hundert Schritte weiter hatte Clément seinen Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete die Baumkronen.
Es war so still. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es kein Summen und Flirren von Insekten gab und auch keine Vögel. Das lag vielleicht an der Mittagszeit, aber trotzdem fühlte sie, dass die Zeit diesen Wald verlassen hatte.
Clément war nie ungeduldig. Weil er auf nichts wartete, wusste sie. Deshalb verbrachte sie die Sommer so gerne mit ihm. Seit der Kindheit. Manchmal küssten sie sich. Sie tat es vor allem, weil sie die Unkompliziertheit, mit der sie es manchmal taten und manchmal nicht, so unglaublich fand und unbedingt auskosten wollte. Er jedoch, weil es ihm schmeckte.
Als sie ihn erreichte, lächelte er nicht. Sonst tat er das immer, deshalb deutete sie es so, dass auch er die Geschlossenheit dieses Waldes spürte. Ob das auch so war, wenn man von seiner Geschichte gar nichts wusste? Den Geist des Ortes hatten die Römer das genannt. Josefin glaubte daran.
Der Weg setzte sich in gerader Linie fort, in alle Unendlichkeit, wie es schien, wie ein Bild, das den Betrachter verwirren soll. Dabei war der Wald gar nicht so groß.
Sie folgten schweigend dem eingesunkenen Weg, an dessen Kanten die Wurzeln der Bäume in die Luft ragten. Es bereitete ihr kein Unbehagen, immer tiefer in dieses Bild zu gehen. Aber dass sich der Wald überhaupt nicht veränderte, wunderte sie. Als wiederholte er sich dauernd. Zu Hause, im fortschrittlichsten Land der Welt, wandelte sich sogar der Wald auf Schritt und Tritt, wenn man ihn durchstreifte. Dort zeigte er einem dauernd neue Bilder, die einen zum Weitergehen anspornten.
Nach einer Viertelstunde blieben sie stehen und blickten zurück. Der Lichtpunkt des Eingangs war verschwunden. Josefin zog die Wanderkarte aus ihrer Gesäßtasche und studierte sie. Der Hinkelstein hätte längst kommen müssen. Es gab auch keinen Zweifel, dass es nur diesen Weg gab, obwohl er inzwischen nicht mehr so tief im Boden lag, und man ihn leicht verlassen könnte.
»Druiden gibt es auch nicht«, murmelte Clément in seinem rollenden bretonischen Französisch. Dann blickte er wieder hinauf in die Baumkronen.
Der die Bäume kennt, schoss es Josefin durch den Kopf, »dru« war ein altes indogermanisches Wort für Baum oder Holz, das hatte sie in ihrem Griechischbuch entdeckt. Und »uid«, das stand für »wissen« und gehörte zum selben Wortstamm. Wie Caesars vidi, ich habe gesehen.
Wer gesehen hat, der weiß. Erst wollte Josefin es Clément erzählen, doch er interessierte sich nicht dafür, wie die Dinge zusammenhingen, er wollte sie lieber spüren, und es hätte ihm nichts ausgemacht, wenn die Dinge gar nicht miteinander verbunden, sondern einfach nur für sich da gewesen wären.
Er entdeckte etwas am Boden und ließ sich auf die Knie sinken. Eicheln waren das. Sie lagen dort in Scharen. Clément begann, den vorderen Saum seines T-Shirts hochzuziehen und die Eicheln einzusammeln. Das Hemd benutzte er als Tragetasche.
»Willst du die alle mitnehmen?«
Er nickte. »Das ist doch ein schönes Geschenk, wenn du wieder nach Hause fährst. Dann haben alle deine Freunde bald eine Eiche aus dem Druidenwald in ihrem Garten stehen.«
Josefin lächelte, bis Clément sich wieder dem Boden zuwandte. Dann ließ sie ihren Blick umherschweifen. Diese Verschlossenheit. Und trotz der Bäume wirkte der Wald leer. Wie ein leeres Säulengebäude. Auf einmal fiel es ihr ein. Das Mädchen. Das dunkelhaarige Mädchen aus Stockholm. So eigenartig war sie gewesen. Bei dem Treffen hatte sich Josefin gefragt, was mit ihr nicht stimmte. Aber jetzt wusste sie es. Ihre Augen, hinter ihnen schien eine Leere zu sein, die dieser hier glich. Als hätte sich die Seele weit nach hinten zurückgezogen. Wie immer wieder in den letzten Tagen fragte sich Josefin, ob es ein Fehler gewesen war, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
In Gedanken hatte sie begonnen, auf- und abzulaufen. Da entdeckte sie die kleine Öffnung zwischen den Büschen und spürte sogleich den Drang hineinzuschlüpfen. Es war kein Weg, wie sich bald herausstellte, eher eine natürliche und zufällige Lücke. Nadeläste strichen über ihren Bauch. Hinter den ersten Büschen öffnete sich der Durchgang zu einem bemoosten Pfad. Sie ging weiter, obwohl sie sich immer wieder mit den Haaren verfing und über Wurzeln stolperte.
Dann weitete sich das Gestrüpp zu einer Lichtung. Der Weg war hier zu Ende. Josefin blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihr lag ein kleiner Weiher. Die Strahlen der Sonne schienen über dem Wasser in der Luft zu stehen. Josefin hörte ein Flirren, dessen Herkunft sie nicht ausmachen konnte. Das Wasser roch brackig und nach Moor.
Es war eine gedrängte Welt hinter unsichtbaren Mauern. Sie hatte die klare Erkenntnis, dass sie hier nicht sein durfte. Aber sie konnte sich nicht bewegen, geschweige denn umdrehen und zurückgehen. Dann bemerkte sie die Gänse. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und trieben lautlos auf dem Wasser. Graugänse. Josefin starrte auf das lautlose Gleiten. Im selben Augenblick begannen die Vögel, mit den Flügel zu schlagen und zu schnattern. Sie war zu benommen, um die Tiere zu zählen, aber es mussten fünf oder sechs sein. Die Gänse schlugen dicht über der Wasseroberfläche mit den Flügeln und erhoben sich dann in die Luft.
Die Idylle konnte sie nicht erfreuen. Sie stand einfach nur da und brauchte eine ganze Minute, bis sie sich dem Ort wieder entziehen konnte. Er zerrte an ihr und wollte sie festhalten. Etwas ganz und gar Fremdes war hier. Sie wusste nicht, ob es gut oder böse war. Oder ob sie gut oder böse war.
Als sie zu Clément zurückkehrte, kniete er immer noch an derselben Stelle. Die Vorderseite seines Hemdes bog sich durch. Mehr als hundert Eicheln musste er darin gesammelt haben.
Wohin die Gänse wohl geflogen waren? Vielleicht kamen sie sogar aus Schweden. Sie erzählte Clément nicht, was sie erlebt hatte. Das Bild und die Frage begleiteten sie auf dem ganzen Rückweg bis zum Ausgang des Waldes. Erst dort glaubte sie, sich ganz aus dem Sog befreit zu haben. Als sie die Wiese und das Licht erreichten, wusste sie es. Sie erinnerte sich an ihre Ferien bei Großmutter und daran, dass sie dort nie die alten japanischen Nils-Holgersson-Folgen im Nachmittagsprogramm ansehen durfte. Aber sie konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern, den Großmutter ihr genannt hatte.
Am Wagen nahm sie ihr Telefon aus der Ablage und klappte es auf, um sich zu vergewissern, dass die Zeit nicht vielleicht doch stehengeblieben war. Ihr war ein Anruf entgangen. Josefin prüfte, wer der Anrufer gewesen war. Es war die Nummer des Mädchens.
Die Falsche Tote
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