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Mit der Ungeduld von zehn trockenen Sonnentagen
erwischte das Gewitter Kjell und Sofi, als sie gerade auf dem
Parkplatz vor der Gerichtsmedizin im Retziusvägen in Solna
eintrafen. Auf dem Weg zum Eingang versuchten sie, sich mit ihren
Jacken zu schützen, doch nach drei Schritten gaben sie auf und
ließen sich in Würde nassregnen. Suunaat machte verständnislose
Eskimoaugen, als verstünde sie nicht, wie man so ein Opfer des
Wetters werden konnte. Sie reichte ihnen Handtücher. Außer ihr
waren noch drei andere Fachleute dort, der Knochenspezialist Dag
Erlandsson, ein unbekannter Genetiker und der Odontologe, der
eigentlich Zahnarzt war, jedoch an zwei Tagen in der Woche für die
Rechtsmedizin arbeitete und immer so tat, als wäre es eine Gnade,
dass er trotz seines gefüllten Kalenders herkam. Während sie
versuchten, die Nässe aus ihren Haaren und aus dem Gesicht zu
bekommen, setzte Dag Erlandsson zu seinem Bericht an. Doch das
Rauschen des Regens füllte den Saal so aus, dass er abbrechen und
zum Schalter gehen musste. Die Kippfenster schlossen sich.
»Sie ist jünger«, setzte Dag erneut an. Jetzt
hallte seine Stimme. »Nach dem Beckenwuchs ist sie erst achtzehn
oder neunzehn Jahre alt. Im Mund hatte sie eine Goldfüllung und
eine aus Kunststoff. Die Verwendung dieses Materials ist weit
verbreitet. Eine Firma in Ungarn stellt es her. Dort kommt es am
häufigsten zum Einsatz, aber auch anderswo in Zentral- und
Osteuropa. Auch in Südostasien.«
»Und Finnland«, fügte der Odontologe hinzu.
»Und Schweden?«, fragte Kjell.
»Gar nicht. Dazu müsste es ein Zahnarzt selbst
importieren. Aber dazu hat er keinen Grund. Es gibt sieben
gleichwertige oder bessere Kunststoffe, mit denen schwedische
Zahnlabore arbeiten.«
Erlandsson fuhr fort. »Letztlich müssen wir die
mtDNA und die Isotope abwarten. Aber bei beidem sind wir auf
außerordentliches Glück angewiesen. Die europäische
Isotopendatenbank ist eine einzige klaffende Lücke.«
»Wie lange?«, wollte Kjell wissen. Ihn
interessierte inzwischen nur noch die Zeit.
»Zehn Tage. Mindestens. Jetzt ist Urlaubszeit in
Paris.«
Die Stimme des Genetikers klang heiser. »Das
Ergebnis der Mitochondrienuntersuchung haben wir schneller.«
»Was wird es bringen?«
»Nicht mehr als die Abstammung der Mutter. Wenn sie
Chinesin ist, kann die Familie aber trotzdem seit hundert Jahren in
Södermalm leben.«
»Im Prinzip sind wir fertig«, sagte der Genetiker,
der auch für alle biochemischen Analysen zuständig war. »Die Haare
sind mit Wella Koleston gefärbt, aber das ist verbreiteter als
Coca-Cola.«
»Die Haare sind gefärbt?«, fragte Kjell.
»Das sieht man doch.« Er beugte sich über den
Tisch, auf dem die Tote lag. »Hier am Ansatz kannst du es sehen.
Die natürliche Farbe ist um zwei oder drei Stufen heller,
hellbraun. Der Haaransatz beträgt einen Zentimeter. So schnell
wachsen Haare in vier Wochen.«
Kjell beugte sich hinab und betrachtete den Ansatz.
»Also meine nicht. Bei mir dauert es länger.«
»Im Durchschnitt. Ich kann leider nicht in der Zeit
zurückreisen und ihr beim Wachsen der Haare zusehen.«
»Alles klar.«
»Könnte man sie mal auf den Bauch drehen?«
Alle starrten Sofi an.
»Na ja, natürlich«, sagte Erlandsson, nachdem sich
die drei Männer ausgiebig genug gewundert hatten, was die
Polizeiassistentin denn finden wollte, was sie nicht längst
wussten.
Zu viert hoben sie den Leichnam an und wendeten ihn
auf den Bauch. Dann traten alle einen Schritt zurück, nur Sofi trat
nach vorn.
»Hat jemand einen Kamm?«
Dem Genetiker mit seinem schütteren, anliegenden
Haar war durchaus zuzutrauen, dass in seiner Gesäßtasche stets ein
Kamm steckte, aber den würde er wohl nicht opfern. Suunaat
schlurfte in die Kaffeeküche und wühlte in einer Schublade. Sie
kehrte mit einem uralten Kamm aus Perlmutt zurück. Sofi zwängte
ihre Hände in schwarze Gummihandschuhe und begann, das Haar der
Toten streng über den Rücken zu kämmen, bis die Haarspitzen auf der
Mitte des Rückens eine scharfe Linie bildeten. Anscheinend verhielt
sich das Haar anders als bei Lebenden. Sofis Gesicht rötete sich,
weil sie die Blicke aller auf sich gerichtet spürte. Am Ende lag
das Haar in einem sorgfältigen Fächer. Sofi trat zurück.
»Mir sind die Strähnen aufgefallen … seht euch mal
diese Gleichmäßigkeit an, ganz feine und viele sind es. Auch der
Haarschnitt hat diese Präzision.«
»Du kannst uns verraten, bei welchem Frisör sie
war?«, fragte Kjell ungläubig.
Sofi schüttelte den Kopf. »Aber man kann viele
ausschließen. Ein normaler Friseur könnte sich gar nicht leisten,
so zu arbeiten. Die Kunden würden das nicht bezahlen wollen.«
Kjell steckte die Hände in die Hosentaschen. Das
tat er immer, wenn er mit der näheren Zukunft unzufrieden war. Er
war eher auf der Suche nach einem großen roten Ausrufezeichen, an
dem er sich festklammern konnte. Alle Frisöre mit einem Porträt des
Mädchens abzuklappern, war ihm zu vage. Er sah auf die Uhr, in
seinem Kopf tickte ein lauter Wecker. Vierundzwanzig Stunden waren
um.