16
Mit der Ungeduld von zehn trockenen Sonnentagen erwischte das Gewitter Kjell und Sofi, als sie gerade auf dem Parkplatz vor der Gerichtsmedizin im Retziusvägen in Solna eintrafen. Auf dem Weg zum Eingang versuchten sie, sich mit ihren Jacken zu schützen, doch nach drei Schritten gaben sie auf und ließen sich in Würde nassregnen. Suunaat machte verständnislose Eskimoaugen, als verstünde sie nicht, wie man so ein Opfer des Wetters werden konnte. Sie reichte ihnen Handtücher. Außer ihr waren noch drei andere Fachleute dort, der Knochenspezialist Dag Erlandsson, ein unbekannter Genetiker und der Odontologe, der eigentlich Zahnarzt war, jedoch an zwei Tagen in der Woche für die Rechtsmedizin arbeitete und immer so tat, als wäre es eine Gnade, dass er trotz seines gefüllten Kalenders herkam. Während sie versuchten, die Nässe aus ihren Haaren und aus dem Gesicht zu bekommen, setzte Dag Erlandsson zu seinem Bericht an. Doch das Rauschen des Regens füllte den Saal so aus, dass er abbrechen und zum Schalter gehen musste. Die Kippfenster schlossen sich.
»Sie ist jünger«, setzte Dag erneut an. Jetzt hallte seine Stimme. »Nach dem Beckenwuchs ist sie erst achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Im Mund hatte sie eine Goldfüllung und eine aus Kunststoff. Die Verwendung dieses Materials ist weit verbreitet. Eine Firma in Ungarn stellt es her. Dort kommt es am häufigsten zum Einsatz, aber auch anderswo in Zentral- und Osteuropa. Auch in Südostasien.«
»Und Finnland«, fügte der Odontologe hinzu.
»Und Schweden?«, fragte Kjell.
»Gar nicht. Dazu müsste es ein Zahnarzt selbst importieren. Aber dazu hat er keinen Grund. Es gibt sieben gleichwertige oder bessere Kunststoffe, mit denen schwedische Zahnlabore arbeiten.«
Erlandsson fuhr fort. »Letztlich müssen wir die mtDNA und die Isotope abwarten. Aber bei beidem sind wir auf außerordentliches Glück angewiesen. Die europäische Isotopendatenbank ist eine einzige klaffende Lücke.«
»Wie lange?«, wollte Kjell wissen. Ihn interessierte inzwischen nur noch die Zeit.
»Zehn Tage. Mindestens. Jetzt ist Urlaubszeit in Paris.«
Die Stimme des Genetikers klang heiser. »Das Ergebnis der Mitochondrienuntersuchung haben wir schneller.«
»Was wird es bringen?«
»Nicht mehr als die Abstammung der Mutter. Wenn sie Chinesin ist, kann die Familie aber trotzdem seit hundert Jahren in Södermalm leben.«
»Im Prinzip sind wir fertig«, sagte der Genetiker, der auch für alle biochemischen Analysen zuständig war. »Die Haare sind mit Wella Koleston gefärbt, aber das ist verbreiteter als Coca-Cola.«
»Die Haare sind gefärbt?«, fragte Kjell.
»Das sieht man doch.« Er beugte sich über den Tisch, auf dem die Tote lag. »Hier am Ansatz kannst du es sehen. Die natürliche Farbe ist um zwei oder drei Stufen heller, hellbraun. Der Haaransatz beträgt einen Zentimeter. So schnell wachsen Haare in vier Wochen.«
Kjell beugte sich hinab und betrachtete den Ansatz. »Also meine nicht. Bei mir dauert es länger.«
»Im Durchschnitt. Ich kann leider nicht in der Zeit zurückreisen und ihr beim Wachsen der Haare zusehen.«
»Alles klar.«
»Könnte man sie mal auf den Bauch drehen?«
Alle starrten Sofi an.
»Na ja, natürlich«, sagte Erlandsson, nachdem sich die drei Männer ausgiebig genug gewundert hatten, was die Polizeiassistentin denn finden wollte, was sie nicht längst wussten.
Zu viert hoben sie den Leichnam an und wendeten ihn auf den Bauch. Dann traten alle einen Schritt zurück, nur Sofi trat nach vorn.
»Hat jemand einen Kamm?«
Dem Genetiker mit seinem schütteren, anliegenden Haar war durchaus zuzutrauen, dass in seiner Gesäßtasche stets ein Kamm steckte, aber den würde er wohl nicht opfern. Suunaat schlurfte in die Kaffeeküche und wühlte in einer Schublade. Sie kehrte mit einem uralten Kamm aus Perlmutt zurück. Sofi zwängte ihre Hände in schwarze Gummihandschuhe und begann, das Haar der Toten streng über den Rücken zu kämmen, bis die Haarspitzen auf der Mitte des Rückens eine scharfe Linie bildeten. Anscheinend verhielt sich das Haar anders als bei Lebenden. Sofis Gesicht rötete sich, weil sie die Blicke aller auf sich gerichtet spürte. Am Ende lag das Haar in einem sorgfältigen Fächer. Sofi trat zurück.
»Mir sind die Strähnen aufgefallen … seht euch mal diese Gleichmäßigkeit an, ganz feine und viele sind es. Auch der Haarschnitt hat diese Präzision.«
»Du kannst uns verraten, bei welchem Frisör sie war?«, fragte Kjell ungläubig.
Sofi schüttelte den Kopf. »Aber man kann viele ausschließen. Ein normaler Friseur könnte sich gar nicht leisten, so zu arbeiten. Die Kunden würden das nicht bezahlen wollen.«
Kjell steckte die Hände in die Hosentaschen. Das tat er immer, wenn er mit der näheren Zukunft unzufrieden war. Er war eher auf der Suche nach einem großen roten Ausrufezeichen, an dem er sich festklammern konnte. Alle Frisöre mit einem Porträt des Mädchens abzuklappern, war ihm zu vage. Er sah auf die Uhr, in seinem Kopf tickte ein lauter Wecker. Vierundzwanzig Stunden waren um.
Die Falsche Tote
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