88
Um sieben Uhr war die Arbeit der taktischen Einheit der Reichsmordkommission formal beendet. Sofi konnte zu ihrer Familie nach Värmland fahren.
Nach einer kurzen Untersuchung im Sankt Görans hatte die erste Befragung nur vierzig Minuten gedauert. Stavros Jernberg wäre nie an das Beweismaterial gelangt, das Josefin Rosenfeldt in Yxlö gut versteckt hatte. Doch damit beschäftigte sich Ulrikas Gruppe.
Josefin sprach wirr und konnte sich nicht an Zeitpunkte oder andere Daten erinnern. Kjell erfuhr jedoch, was ihn eigentlich interessierte, wie es zu diesem Verhängnis gekommen war.
Nach seiner Karriere im deutschen Bankwesen war David Schumann bereits vor über einem Jahr nach Schweden gekommen. Er musste irgendwo in Stockholm ein eigenes Apartment haben. Josefin wusste nicht, wo es lag. Die Wohnung in Skarpnäck hatte er erst nach dem Tod seines Großvaters genutzt, als es für ihn gefährlich wurde. David hatte sich mit einer Reihe von Jobs über Wasser gehalten, von denen Josefin die beiden wesentlichen kannte. Neben seiner Anstellung als Techniker bei der Radaranlage musste er für die Gunnar-Gruppe immer wieder kriminelle Dienste am Computer erledigt haben. Anscheinend hatte er auf der obersten Ebene direkt für Gunnar gearbeitet, denn David hatte an irgendeinem Tag in diesem Frühling Klara Jernberg getroffen.
»Er hat erst gar nicht gemerkt, dass sie autistisch war. Er muss sie bei irgendeiner Gelegenheit in Stavros’ Haus kennengelernt haben. Sie ist erst vor Kurzem nach Schweden gekommen, weil ihre Eltern gestorben sind. Eigentlich hat sie in einem Pflegeprojekt außerhalb der Stadt gewohnt, weil die Stadt für Menschen wie sie eine einzige Belastung ist. Ihren Bruder besuchte sie wohl nur ab und zu. Sie war das Einzige, was er geliebt hat. Seine Liebe muss groß gewesen sein, hat David gesagt, weil er sehr auf seine Schwester aufgepasst hat und oft bei ihr war. David hat dann mit den Briefen angefangen, so haben sie sich einander genähert.«
Als Kjell sie auf die Schriftart ansprach, wusste sie zuerst nicht, worüber er da redete, bis ihr einfiel, dass Klara in ihrer Wahrnehmung sehr auf solch formelle Dinge und Strukturen ausgerichtet war. Er hatte einmal beobachtet, wie Klara große Buchstaben einer Zeitungsüberschrift mit dem Finger nachfuhr. Deshalb hatte er die Schrift benutzt, und soweit Josefin es wusste, hatte Klara diese Zusammenhänge sogleich verstanden.
Kjell konnte sich noch nicht vorstellen, wie die Beziehung zwischen den beiden ausgesehen hatte. Hier wusste Josefin genau Bescheid. Im Versteck hatten die beiden genug Zeit gehabt, darüber zu reden.
»Es ist ihm nie geglückt zu erfahren, was sie für ihn empfand, so wie man das bei einem normalen Partner weiß. Er konnte es nur indirekt aus ihrem Verhalten ableiten. Zwischendurch hatte er Angst, sie könnte einfach nur auf ihn fixiert sein, so wie sie auf gewisse Gegenstände fixiert war. Später war es ihm egal. Und dann haben sie alles gemacht, was man unbekleidet tun kann, wirklich alles. David war ganz oft dort, wo sie gelebt hat. Und Stavros hat nichts gemerkt.«
Doch es war Josefin gewesen, von der alles ausgegangen war. An jenem Tag im Frühling, als die Zeitungen zum ersten Mal berichteten, dass der Justizkanzler die Ermittlungsakten zum Estonia-Fall angefordert habe, klingelte spät am Abend in der Privatwohnung Rosenfeldts am Norr Mälarstrand das Telefon. Josefin hatte abgehoben, und eine junge Männerstimme hatte grußlos behauptet, dass eine verbrecherische Organisation mit dem Namen Gunnar in die Sache verwickelt sei. Gunnar sei der Polizei auch gut bekannt. Der Anrufer wollte Beweise beschaffen, dass weite Teile der Polizei mit Gunnar kooperierten.
Anrufe und Briefe dieser Art erreichten den Justizkanzler dauernd. An Tagen, wo er mit einer besonderen Sache an die Öffentlichkeit trat, war die Flut sogar kaum zu bewältigen. Josefin schrieb wie immer eine Notiz zu diesem Anruf und gab sie in die Registratur der Kanzlei, denn der Justizkanzler bearbeitete grundsätzlich jede Anfrage und jeden Hinweis. Doch der Anrufer hatte weder seinen Namen genannt noch irgendetwas geliefert, was die Behauptungen untermauerte. So war die Notiz wohl im Verschwörungstheoretikerkarton im Keller gelandet.
Anderthalb Wochen später erhielt Josefin einen Brief, der an ihre eigene Wohnung in der Sigtunagatan adressiert war. Er enthielt den Hinweis, dass Gunnar mit bürgerlichem Namen Stavros Jernberg heiße. Darauf folgte die Information, dass Gunnar den gesamten Frauenhandel nach Ostskandinavien steuere.
Der Brief brachte Josefin zum Nachdenken. Dem Inhalt nach musste er von derselben Person stammen, die auch angerufen hatte. Der Absender musste nach seinem Anruf irgendwie herausgefunden haben, dass sie die Tochter des Justizkanzlers war. Auch ihr Engagement bei Kvinnojouren war ihm nicht verborgen geblieben.
Der Hinweis auf den Frauenhandel sollte sie wohl anstacheln. Besonders beunruhigte Josefin allerdings, dass der Brief an ihre Wohnung in der Sigtunagatan adressiert war. Und diese Adresse war so geheim, dass nicht einmal die Universität davon wusste.
Um herauszufinden, ob an den Behauptungen überhaupt etwas dran war, fuhr Josefin zur Kanzlei ihres Vaters und stöberte in den Geheimakten. Sie bestanden meist nur aus Meldungen, die den JK über wichtige Dinge in Kenntnis setzten. Nur wenn er einen Grund sah, sich näher damit zu beschäftigen, konnte er Akten unter Verschluss anfordern. Das war allerdings sehr umständlich.
Die Meldungen allein hatten Josefin gereicht. Der Begriff Gunnar tauchte darin Dutzende Male auf. Es gab ihn also wirklich, allerdings war der Name nur in Fachkreisen und bei besonderen Einheiten der Polizei bekannt. Wenn der Informant ihn also kannte, dann konnte es sich nicht um einen der üblichen Wirrköpfe und Maniker handeln.
Zunächst wusste Josefin nicht, was sie tun sollte. Also schlug sie das Telefonbuch auf und entdeckte, dass auch Stavros Jernberg tatsächlich existierte und auf Djurgården wohnte.
»Das Haus liegt ja direkt am Uferweg«, sagte Josefin. »Also bin ich dort etwas spazieren gegangen. Ich wollte mir erst einmal einen Eindruck verschaffen.«
Josefins erster Eindruck war Klara gewesen. Ein Wagen hielt oben an der Einfahrt, und zwei brutal aussehende Männer brachten sie von dort zum Haus. Aus Josefins erstem Eindruck wurde sofort ein Urteil. Zwei Tage später kehrte sie zum Haus zurück und sah Klara im Garten stehen.
»Sie stand beim Wasser. Ich bin einfach auf sie zugegangen, weil sonst niemand zu sehen war. Sie verhielt sich ganz merkwürdig. Das habe ich falsch gedeutet. Ich wusste ja nicht, dass sie autistisch war, dass sie es einfach nur nicht verstand, nicht so jedenfalls. Aber dann entpuppte sie sich als Schwester von Stavros, die nicht das Geringste wusste. Ich hatte erst Angst, dass sie mich verraten könnte. Sie schien mir nicht zu glauben. Ich habe ihr dann die Telefonnummer von Saga gegeben, weil sie sich am besten auskennt und überall bekannt ist.«
»Und dort hat sie auch angerufen«, sagte Kjell. »Du weißt also nicht, wer dich damals angerufen und dir den Brief geschrieben hat?«
»Es war David. Er ist in die Sache hineingeraten, ohne zu wissen, in welchen Dimensionen Gunnar tätig war. Er hat nur mitbekommen, dass anscheinend viele bei der Polizei für Gunnar arbeiteten.«
Klara hatte nicht nur bei Saga angerufen. Sie hatte zudem David davon erzählt, dem einzigen Menschen, dem sie außer ihrem Bruder vertraute. Und auch der einzige Mensch, zu dem sie sonst noch Kontakt hatte.
»Für David war das die Bestätigung, dass ich seinem Hinweis wirklich nachging. Mit Klaras Hilfe! Sie wohnte ja eigentlich in einer betreuten Wohnanlage bei Sala, weil die Stadt für Menschen wie sie eine einzige Belastung ist. Klara hat ihren Bruder besucht. Darüber hat er sich sehr gefreut. Sie mochte ihren Bruder zwar, aber dass sie von allein den Wunsch äußerte, bei ihm zu sein, ist für einen Autisten ganz ungewöhnlich. Stavros wusste ja nicht, dass das Davids Idee war. David suchte über den Computer nach Beweisen. Sein Job bei Gunnar war ja, für absolute Datensicherheit bei den Computern und Telefonen zu sorgen. Er hat rausgeschafft, was er kriegen konnte. Er hat Dokumente kopiert und sogar Telefonate mitgeschnitten. Inzwischen hat Klara im Haus gestöbert. Dort konnte sie sich ja frei bewegen. Sie war ganz schön intelligent, nur große Entscheidungen zu treffen, das vermochte sie nicht ohne fremde Hilfe. Sie hat auch nicht groß darüber nachgedacht, was sie da tat. Der Plan war, überwältigende Beweise zusammenzutragen und sie gleichzeitig an hohe Politiker und die Presse zu schicken.«
Dann kam der Urlaub. Josefin wollte ihrem Vater davon erzählen, aber dann riefen auf einmal Klara und David an. David behauptete, er und Klara hätten etwas Dummes getan, sie brauchten dringend Hilfe.
»Ich bin sofort zurückgereist, aber wir haben dann nicht gewusst, was wir machen sollen. Klara haben wir in meiner Wohnung deponiert, weil sie so nervös war. Wir waren uns sicher, dass Jernberg nichts über mich wusste. Ich habe Klara erklärt, dass sie die Wohnung nicht verlassen soll. Bei ihr war es mehr die Aufregung selbst, die sie so beunruhigt hat. Ich weiß nicht genau, wie sehr ihr die Bedrohung klar geworden ist. Ich habe ihr befohlen, die Wohnung nicht zu verlassen, bis ich wiederkomme. Und das war auch nicht mehr möglich. Sie waren David früh auf den Fersen, und wir konnten nicht riskieren, jemanden dorthin zu führen.«
Klara hatte ihre Sache gut gemacht, nur hatte Jernberg von Josefin dennoch erfahren. Josefin und David hatten weitergemacht. Erst im Nachhinein war ihnen aufgefallen, dass es besser gewesen wäre, Klara einfach zu ihrer Wohneinrichtung in Sala zurückzubringen. David gelang es, alle Spuren auf sich zu lenken. Da Jernberg von der Liebe seiner Schwester zu David nichts ahnte, wäre er nie darauf gekommen, dass sie etwas damit zu tun hatte.
»Vor zwei oder drei Wochen haben wir es gemerkt. Etwas stimmte mit dem Computer nicht. Ich glaube, es war das Passwort. Das haben die gesperrt. Da haben wir gewusst, dass wir wegmüssen.«
»Wo wart ihr da?«, wollte Kjell wissen.
»Für kurze Zeit in der Wohnung in Skarpnäck. Die andere Wohnung von David war nicht mehr sicher. Die kannte Jernberg, aber von Davids Großvater hatte er nichts gewusst. Dass er auch von mir wusste, haben wir erst begriffen, als Klara auf einmal tot war.«
Inzwischen war durch das Beweismaterial verständlich, warum die beiden die Polizei gescheut hatten. Gunnar hatte über hundert Verbindungsleute in allen Organisationen der Polizei. Anscheinend war David am Abend von Klaras Sturz zur Sigtunagatan gekommen und hatte aus dem Polizeiaufgebot vor der Tür den richtigen Schluss gezogen, den falschen aber aus dem späteren Schweigen der Polizei über dieses Ereignis. Die Zeitungen hatten stattdessen über den Superman aus Valla Torg berichtet.
Für David musste es so ausgesehen haben, als würde die Polizei alles unter den Teppich kehren.
»Und der Tote im Park?«
»Bis dahin wollten wir uns verstecken, die Beweise sortieren und dann alles verschicken. Klaras Tod hat alles verändert. Ich hatte zuerst nur Zweifel, ob alles gut klappen würde, aber bei David war es anders. Unser Plan war für ihn nur noch zweitrangig. Es sind immer die Gleichen, die diese Aufträge für Gunnar erledigen, und für David war es nicht schwer, diesen Mann zu finden. Er hat einfach herumtelefoniert und dann vor seinem eigenen Apartment gewartet.«
»Warum bist du nicht wenigstens da zur Polizei gegangen, Josefin?«
Josefin Rosenfeldt schwieg eine Weile, bevor sie den Kopf schüttelte und auf die Tischplatte sah. »Stavros musste erst sterben.«
Dann lächelte sie.
Die Falsche Tote
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