18
Samstag, 4. August
Um acht Uhr öffnete Kjell das Fenster des
Besprechungsraums. Erst vor einer Viertelstunde hatte es aufgehört
zu regnen. Die feuchte Luft mischte sich mit dem Kaffeeduft. Das
Zimmer übertraf die anderen Räume der Gruppe an Größe. Aber es
enthielt nicht mehr als eine Junggesellenküche und den Tisch. Als
einziger Schmuck hing ein gerahmtes Titelblatt der Broschüre »Hallo
Polizeiaspirant! Teil 2« an der Wand, für das man Sofi in der Woche
nach ihrer Vereidigung als Covergirl ausgewählt hatte, weil sie
fotogen und zugleich ein wenig ausländisch aussah, aber auch nicht
so ausländisch, dass man Angst bekam.
Sie löffelte wie jeden Morgen eine Avocado aus,
während sie die Papiere überflog. Das half gegen schlaksigen
Körperbau. Barbro und Henning kamen gemeinsam an. Barbro schritt
entschlossen auf ihren Stuhl zu und warf auf dem Weg dorthin ihren
Regenschutz, der aus drei Schichten bestand, wie eine
Mehrstufenrakete ab. Sie rieb sich die Hände, nippte an ihrer Tasse
und maulte, dass er wie brennender Phosphor schmecke, weil Kjell
nicht gerne mit dem Kaffeepulver sparte.
»Hast du noch etwas von Oskar gehört?«, wollte
Kjell wissen. Barbro hatte am Abend noch angerufen, nachdem sie
Josefins Bruder endlich erreicht hatte.
»Sie sind vor drei Stunden nach Trosa übergesetzt.
Er wollte sich gleich melden, wenn er in Stockholm ist.«
Auch wenn sich für die Ermittlung dauernd die
Bedingungen änderten, beruhigte es, dass nur Josefin verschwunden
und der Bruder Oskar anscheinend gar nicht an der Sache beteiligt
war. Er hatte die letzten Tage mit Freunden auf einer Insel im
Himmerfjord verbracht. Als am gestrigen Abend der Sturm aufkam, war
den jungen Männern doch etwas mulmig geworden. Sie hatten ihre
Telefone eingeschaltet, um beim Wetterdienst anzurufen.
»Die Insel ist nämlich so winzig, dass nur ein Haus
und ein paar Bäume darauf Platz haben«, erklärte Barbro.
»Wenn man berücksichtigt, dass sich der Fall
schneller wandelt als das Wetter draußen, stehen wir gar nicht so
schlecht da«, begann Kjell die Morgenbesprechung und zählte auf,
was in den vergangenen dreißig Stunden geschehen war. Die Säpo
arbeitete auf Hochtouren und ohne jedes Ergebnis. Barbro hatte am
Vortag einen kurzen Abstecher zu Lennart Rosenfeldt gemacht und die
Zeittabelle der vergangenen Wochen vervollständigt. Der Vater hatte
um einen Tag Ruhe gebeten. Nach der Besprechung wollte Henning ihn
gleich aufsuchen. Wenn es dort irgendetwas zu entdecken gab, würde
Henning es bis zum Abend finden.
»Wenn wir doch nur irgendwelche persönlichen
Unterlagen fänden«, sagte Sofi.
Ja, dachte Kjell, so denkt man im Sommer an den
Schnee. Dann hätten sie andere Probleme. »Josefin hatte all das in
Frankreich dabeigehabt, auch ihren Computer. Das stellt uns vor die
Wahl. Entweder hat die Doppelgängerin oder ein anderer alles
Persönliche beseitigt. Oder sie hat die Wohnung seit ihrem Urlaub
in Frankreich nicht mehr betreten.«
»Dass sie in Stockholm gelandet ist, steht
allerdings außer Zweifel«, bemerkte Henning. »Sie ist abgeflogen,
gelandet und war in der Kanzlei.«
»Diese Ludmilla Kaleberg, die Kanzleichefin, kann
also beschwören, dass Josefin dort war?«
Barbro nickte. »Rosenfeldt hat schon im
Justizministerium mit ihr zusammengearbeitet. Sie kennt Josefin
seit vierzehn Jahren und hat an dem Tag auch mit ihr gesprochen.
Auch die Rezeptionistin hat sie erkannt, und dann noch einige
andere im Haus.«
Kjell zeichnete das Kreuz auf dem Zeitstrahl an der
Wandtafel nach, damit die Striche dicker wurden. Je dicker, desto
sicherer, das war sein Prinzip. »Nun haben wir aber auch von der
Toten keinen persönlichen Gegenstand gefunden, und ich kann mir
daraus kein Bild machen.«
»Weil du Kjell bist«, behauptete Barbro. »Wenn
jemand in der Wohnung war, hat er alles mitgenommen.«
Henning schüttelte den Kopf, dann schüttelte Kjell
den Kopf.
»Du vergisst Sesselja«, wandte Sofi ein. »Sie ist
sich sicher, nie ein Portemonnaie oder einen anderen persönlichen
Gegenstand von ihr im Wohnzimmer gesehen zu. In Josefins Zimmer war
sie kaum.«
Barbro seufzte. »Sesseljas Rolle ist doch überhaupt
nicht klar. Sie kann lügen.«
»Das kann sie, aber ihre Geschichte stimmt. Die
Telefonate zwischen Schweden und Island haben stattgefunden.«
»Zurück zur Wohnung«, mahnte Kjell. »Der
Eindringling hat nichts mitgenommen. Er hatte keine Zeit dazu. Aber
da ist noch etwas viel Entscheidenderes.«
»Nämlich?«, fragte Barbro.
»Er hat die Falsche getötet«, nahm Henning seinem
Kollegen die Worte aus dem Mund. Und der stand vor Verwunderung
weit offen. Weit ausholende Vermutungen von Henning Larsson erlebte
man seltener als Kugelblitze.
»Wie kommst du darauf?«, wollte Kjell wissen.
»Weil sie auch nach Oskar gesucht haben. Und warum
glaubst du es?«
»Weil wir es mit einem professionellen Mord zu tun
haben. Niemand täuscht einen Selbstmord vor, wenn er weiß, dass bei
der Leichenschau alles herauskommen wird.«
Sofi räusperte sich. »Ich habe beim Schlafen
darüber nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das
nichts heißen muss. Da wir sonst keinerlei Hinweise haben, reicht
es doch, sie zu töten, wenn man etwas vertuschen will.«
»Wer ist sie?«
»Darum geht es ja. Es können beide sein. Das ist
die Vertuschung.« Sie zog den neuesten Laborbericht aus ihrer
Mappe. »Vorläufig können wir das graue Sweatshirt keiner der beiden
Frauen zuordnen. Es finden sich Haare von beiden daran. Und es sind
so viele Haare, dass Kontamination unwahrscheinlich ist.«
Henning schob seine Notizen zu einem ordentlichen
Häufchen zusammen. »Dann ist es von beiden getragen worden?«
»Das ist sehr wahrscheinlich. Bei den anderen
Kleidungsstücken ist das noch unklar.«
»Ich finde das sehr aufschlussreich«, sagte Kjell.
»Das Mädchen hat also Josefins Kleider getragen, und zwar, weil sie
keine eigenen besaß oder die Täuschung echter machen wollte.«
Das Telefon klingelte. Sofi lief hinüber ins Büro
und kehrte nach einer halben Minute wieder zurück. »Die
Justizkanzlei. Sie sind auf etwas gestoßen.«