29
Montag, 6. August
Sofi seufzte vor Behagen, als das Flugzeug die Wolkendecke durchbrach. Weißgelbes Sonnenlicht breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Die Wolken reichten bis zum Horizont und schwebten wie eine zweite Erdoberfläche in geringer Höhe. Am Horizont schimmerten die Ränder rosa. Seit dem Einsteigen klebte sie mit der Nase an der Scheibe, und schon kurz nach dem Abheben hatten sich ihre Gedanken ganz in dem trostlosen Anblick des Bahnhofsplatzes von Märsta verloren. Von oben war er noch grauer als vom Fenster eines Pendelzugs aus.
Als Sofi sich Kjell zuwandte, flogen sie längst über Småland. Sie zog die deutsche Zeitung aus der Ablage und faltete sie auf. Wenn sie die bis zur Landung schaffen wollte, musste sie sich beeilen, dachte Kjell. Sofi hatte ihm erzählt, dass sie seit ihrer Schulzeit kein Deutsch mehr gelesen hatte.
Er selbst hatte keine Ruhe zum Lesen. Sich auf die Deutschlandspur einzulassen, war riskant. Für ihn als Ermittlungsleiter blitzte nach jeder größeren Entscheidung die Angst auf, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Verließ man zudem noch das Zentrum des Geschehens, war die Sorge beklemmend.
»Glaubst du, dass es die Fingerabdrücke des Mörders sind?«, murmelte sie, ohne den Blick von dem Artikel zu heben, an dem sie gerade las.
»Er hätte sie kaum zurückgelassen. Er hätte das Buch nicht zurückgelassen.«
Sofi raschelte beim Umblättern.
»Solange es nur keine Botschaft ist. Wenn man Henning glaubt …«
»Dann stammen die Abdrücke nicht vom Mörder.«
Sofi zuckte mit den Schultern. »Wir werden ja hören, was die Deutschen uns zu berichten haben. Willst du was von der Zeitung?«
»Ich kann jetzt nicht lesen.«
»Das hier! Da steht was über dich.«
»Über mich?«
»Ja, und Linda. Angeblich sollen Töchter von alleinerziehenden Vätern später in die Pubertät kommen.«
Sie grinste mit abgewandtem Gesicht vor sich hin.
»Und warum?«
»Um Inzucht zu vermeiden. Du sonderst chemische Duftstoffe aus, und sie reagiert mit einer verzögerten Hormonentwicklung. Damit du nicht über sie herfällst.«
»Der Gedanke ist völlig abwegig.«
Sofi grinste ihm unverhohlen ins Gesicht und schwieg. Frechheiten wie diese erlaubte sie sich nur so hoch über den Wolken, im Büro würde sie so etwas nicht wagen.
Sie hatten sich auf Gleis eins am Centralen getroffen, um den Expresszug zum Flughafen zu nehmen. Sofi war in einem Pariser Sommerkleid durch die Schiebetür getreten und hatte einen kleinen Koffer im Stewardessenformat hinter sich hergezogen. Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie ihre Augenlider dunkel geschminkt. Deren tropisch-schwüler Anblick hatte später beim Zoll dazu geführt, dass er unbemerkt mit je einem halben Kilo Einkronenmünzen in jeder Hosetasche durch die Detektorschleuse gehen konnte, während die vier Zöllner all ihre Aufmerksamkeit auf Sofi richteten. Neben ihrem Sommerkleid fühlte er sich schon die ganze Zeit mickrig, obwohl er die halbe Nacht gebügelt hatte.
»Natürlich ist Linda nicht wie andere in ihrem Alter«, sagte er, denn niemand konnte sich vorstellen, wie sehr einem dreizehnjährigen Mädchen die Mutter fehlen konnte. Dabei hatten Linda und ihre Mutter nie die gleiche Sprache gesprochen. Madeleine hatte im Justizministerium gearbeitet. Dass die schwedische Anklage jetzt auf vier Zentren in Stockholm, Göteborg, Malmö und Umeå verteilt arbeitete, war eines von Madeleines letzten Verdiensten vor ihrem Unfall vor vier Jahren gewesen. Erstaunlich, dass sich so jemand am Abend hinsetzte und einen Dankesbrief an den Chef von Ica verfasste, um ihm für den neuen Fitnesstrinkjoghurt zu danken, der seit Kurzem in den Kühlregalen stand. Weil der so lecker schmeckte. Erstaunlich, dass das überhaupt jemand tat. Das hatte jedenfalls der Chef von Ica geantwortet. Er hatte noch nie einen Fanbrief bekommen und ein wenig verunsichert zurückgeschrieben.
Sofi blickte wieder aus dem Fenster. Es kam mitunter vor, dass er Sofi mit Linda verglich. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war sie nur acht Jahre älter als seine Tochter, und wenn sie fahrlässiger geschminkt war als heute und man ihre nackten Knie nicht sah, rief sie durchaus väterliche Gefühle in ihm hervor. Jetzt spürte er eine unbekannte Fremdheit zu ihr.
Als er ihr einmal geholfen hatte, den neuen Kühlschrank in die Wohnung zu tragen, hatte ihn in der Küche eine sehr junge Mutter von einem Foto angesehen, hell wie eine Juninacht. Die Mutter musste in den letzten beiden gemeinsamen Jahren zu unvorhersehbaren Ausbrüchen geneigt haben. Ob Sofis irrwitzige Anpassungsfähigkeit daher rührte, wusste er nicht. Es war ihre Form der Intelligenz. Und manchmal ihre Schwäche. In hektischen Momenten konnte sie nahezu kindlich reagieren. Sie stürzte sich dann auf irgendein unwichtiges Detail und verlor sich darin. Das mutete Kjell jedesmal wie eine Übersprungshandlung an.
Die Falsche Tote
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