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Sonntag, 5. August
Sofi blinzelte. Die Rollos vor ihren Fenstern
waren hochgezogen. Beim Zubettgehen hatte sie zum trüben Himmel
geblickt und keinen klaren Morgen erwartet. Die Sonne schaffte es
sogar bis ins Bad. Sofi sah, dass sie putzen müsste.
Bo Setterlinds Gedichte lagen aufgeschlagen unter
ihrer rechten Wange. Ich liege im Dunkeln bei dir. Die
Überschrift schimmerte unscharf vor ihrem rechten Auge. Das Leben
fand eben mit Leichtigkeit Anspielungen, die jeder verstehen
konnte. Bis auf Seite 130 konnte sie es vor dem Einschlafen
unmöglich geschafft haben. Sie konnte sich erinnern, dass ihr schon
nach drei Seiten zum ersten Mal die Augen zugefallen waren. Sie las
natürlich nicht das Exemplar aus Josefins Buchregal. Das hatte sie
am Abend noch zu Per gebracht. Aber es hatte ihr kein Problem
bereitet, die gleiche Ausgabe auf dem Heimweg im Taschenbuchladen
am Centralen zu bekommen, und auch beim Seven-Eleven in der
Folkungagatan hatten sie es gehabt, ganz hinten neben dem
Kühlschrank und beim Lotto, nicht vorne an der Kasse bei den Krimis
und den rollenden Würstchen. Immerhin, eine aktuelle Ausgabe, die
man überall bekommen konnte.
Es war viel zu früh. Das Fenster ihres
Schlafzimmers lag so, dass sie das Zimmer im Sommer als Sonnenuhr
benutzen konnte. Sie musste weit vor der Zeit erwacht sein. Der
Termin würde erst am Mittag sein. In der Hochphase anstrengender
Ermittlungen kalkulierten sie die Schlafzeiten auf die
Viertelstunde genau. Wenn sie jetzt aufstand, fehlte ihr diese Zeit
später. Sie schielte auf Seite 131. Sterben ist Sieg, nicht
Niederlage. Es scheint über dem Berg. Die Nacht ist Tag
geworden. Die Gedichte handelten alle von Einsamkeit. Es war
nichts in diesem Buch, was mit dem Gedicht auf dem Zettel in
Verbindung stand. Josefin hätte das Kuvert ebenso gut in jedem
anderen Buch als Lesezeichen verwenden können.
Ich muss aufstehen und denken, sagte sie sich. Mit
einem Glas kalter Milch stellte sie sich auf den schattigen Balkon.
Bis dorthin reichte das Sonnenlicht um diese Zeit noch nicht.
Gleich neben dem Haus erhob sich Vita Bergen. Sie war so glücklich
mit dieser Wohnung. Sie hatte Beteiligungswohnrecht, ihr gehörten
2,7% an der Wohnungsgesellschaft Sofiaglück. Wenn man Sofi heißt
und 2,7% an einer Wohngesellschaft mit so einem Namen bekommen
konnte, dann durfte man nicht zögern. Sie musste nur noch 46 Monate
lang 6200 Kronen im Monat abbezahlen, dann war das Sofiglück
unumkehrbar. Als sie zum ersten Mal auf den kleinen Balkon getreten
war, war ihr Applaus aus dem Park entgegengetost. Das
Freilichttheater oben auf dem Hügel, hatte der Makler knapp
erklärt, das lag nur einen Schlagballwurf vom Haus entfernt.
Vorausgesetzt natürlich, ein Mann werfe, ergänzte der Makler, sonst
sähe man es ja. Sofi war den schmalen Weg hinaufgestiegen, um
nachzuschauen. Etwas erhöht hinter zwei Baumreihen lag ein Halbrund
aus hölzernen Sitzreihen. Im Sommer gab es dort am Abend
Theateraufführungen, im Winter konnte man seinen Hund hinpinkeln
lassen.
Sie zog sich rasch an und verließ die Wohnung. In
einem Stadtteil zu wohnen, der so hieß wie sie, hatte ihr auf
Anhieb gefallen. Dann aber nicht mehr, weil sie ihren Namen auch
mit allen Geschäften, Kirchen und Autowerkstätten teilen musste. Am
Sofia-Kiosk kaufte sie sich Dagens Nyheter und zwei Dosen
Ettan-Tabak. In der Meerjungfrau waren alle Tische belegt, obwohl
es nicht mal halb zehn war. Sie wollte ohnehin lieber draußen sein.
Deshalb gesellte sie sich zu den anderen Passagieren ans Fährkai.
An Bord blies ein warmer, kräftiger Wind. Sofi lehnte sich ans
Geländer und überlegte, schon in Sjöstad von Bord zu gehen. Aber
dort hatten die glücklichen Pärchen sicher längst ihre
Neubauwohnungen mit Holzsteg und angelegtem Schilfidyll verlassen,
um im Café Soop zu frühstücken. Und sie wäre dann die Einzige ohne
Mann und Kinderwagen. Sie kam ja nie an Männern vorbei, was sollte
sie da tun? Das bedeutete nicht, dass sie nicht glücklich war.
Gestern Abend zum Beispiel, als sie ganz spät von der U-Bahn
heimgelaufen war, nur sie und die Ampelkästen, deren lautes Ticken
am Tag vom Straßenlärm verschluckt wurde, da war sie sich müde und
erfüllt vorgekommen.
Sie fuhr den Danvikenkanal hinauf und spuckte ihren
Tabak ins Wasser, bevor sie an der Endstation Nybroviken von Bord
ging. Sofi war eine versierte und leidenschaftliche Umsteigerin,
mit dem 69er wollte sie zum Centralen und von dort mit der U-Bahn
zur Universität. Als der Bus kam, erkannte sie, dass ihre Technik
durchaus noch entwicklungsfähig war. Wie immer hatte sie den
Stockholmer Sonntagsverkehr vergessen und kam nicht mal bis zum
Fahrer, um ihre Karte vorzuzeigen. Sie setzte sich in der rechten
Ecke der Vorderscheibe auf das Armaturenbrett. So hatte sie die
ganze Hamngatan entlang eine wunderbare Aussicht auf die
Menschenmassen. Ein Brief. Darin gestand Hesperia ihre Liebe.
Gestanden? Der Brief war doch in der Wohnung geblieben, er hatte
Aisakos gar nicht erreicht. Der Bus hielt vor dem NK-Kaufhaus.
Dreißig Menschen stiegen aus, fünfzig stiegen zu. Sofi wurde gegen
die Scheibe gedrückt. Der Bus fuhr langsam an. Aber das Kuvert war
zugeklebt gewesen. Hatte Josefin ihn abschicken wollen? Oder
übergeben? Wenn Sie doch nur das Ergebnis der Spurensicherung
hätte. Am Abend, hatte Per gesagt. Vorher sollte sie nicht anrufen
und auch nicht vorbeikommen. Am Sergels Torg verließen alle den
Bus. Sofi suchte sich einen Platz. Kjell glaubte, dass der Urheber
des Briefes den Text abgeschrieben und dabei die Schrift nachgeahmt
hatte. Es würde also schwer werden nachzuweisen, dass er wirklich
von Josefin oder der Toten stammte. Und dann war da noch die Frage,
ob der Brief für den Fall überhaupt etwas bedeutete. In Sofis
Wohnung würde die Polizei noch ganz andere Dinge finden, und
darunter gab es einiges, was durch reinen Zufall zu ihr geraten
war. Beim Staubsaugen war sie vor einigen Tagen auf eine alte
Visitenkarte gestoßen, die sie einmal in einem geliehenen Buch
entdeckt und wegen des schönen Kupferstichs behalten hatte. Sie
stammte von einem Mann mit dem Namen Axel Sonnevi. Verschwände
Sofi, würde Axel ganz schön blöd schauen, wenn die Polizei bei ihm
vor der Tür stand. Er müsste erklären, wann und warum er ihr die
Karte gegeben und was er mit Sofi gemacht hatte. Der Bus war kurz
vor der Haltestelle an der Drottninggatan in einen Sonntagsstau
geraten, dass einem angst und bange werden konnte. Sofi begann, in
dem Buch zu blättern, und verglich die Gedichte mit Hesperias
Brief. Ich liege in der Dunkelheit bei dir. Süßer noch, wenn
eine Decke die Liebenden verbirgt. So eine Verbindung fand sich
zwischen vielen Gedichten. Sie hatte eine Idee, nahm das Telefon
aus der Tasche und wählte Kjells Nummer.
Linda erschien wortlos in der Küche und glitt auf
ihren Stuhl. Es war eine sehr alte Angewohnheit der beiden, dass
der Morgen ohne Sprache war, aus der Zeit nämlich, als Linda nur
das Nötigste sprechen konnte und es noch nicht allein auf den Stuhl
schaffte.
Sie stützte den Kopf auf die Hände und sah aus dem
Fenster. Etwas betrübte sie. Er streckte die Hand aus und
streichelte ihr über die Schulter. Das galt den beiden Büchern, die
am Abend aufgeschlagen auf dem Küchentisch gelegen hatten. Der
Dichter hieß Asklepiades und hatte im dritten Jahrhundert vor
Christus gelebt. Kjell musste sich eingestehen, dass er aus dem
Gedächtnis nicht darauf gekommen wäre. Linda hatte nicht nur die
Übersetzung gefunden, sondern auch das Original. Wahrscheinlich
hatte sie es über die Stellenangabe geschafft. Kjell wusste
allerdings nicht, was damit gewonnen war.
»Das Zeichnen klappt überhaupt nicht«, nuschelte
Linda irgendwann durch ihre Hand.
»Du musst dich erst eingewöhnen. Es ist nicht das
Zeichnen, sondern der Ernst der Lage. Am ersten Tag könnte ich auch
nichts zeichnen.«
Linda lachte.
»Wolltest du nicht ausgehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte Besuch
bekommen. Aber der kam nicht.«
»Hast du gewartet?«
Sie nickte stumm. Das Telefon klingelte. Nach dem
Abnehmen meldete sich Sofi.
»Es gibt keinen Aisakos«, sagte sie grußlos. Im
Hintergrund hörte er Straßenlärm. Man konnte sie kaum
verstehen.
»Wo bist du?«
»Centralen.« Sie klang entschlossen.
»Ich bin noch bei der ersten Tasse.«
»Die Briefe. Das sind keine Briefe. Und Hesperia
gibt es auch nicht.«
Kjell musste sich räuspern. Er war noch gar nicht
bereit. »Aber beiden Zitaten ist der Name zugeordnet. Im Original
ist das nicht so.«
Sofi seufzte.
»Warst du schon bei der Dozentin?«, wollte er
wissen.
»Ich fahre hin. Später will ich Sesselja fragen, ob
sie die Tote jemals schreiben gesehen hat. Das ist doch komisch,
oder? Es gibt keine Handschrift von ihr in der Wohnung.«
»Ich bin gerade erst aufgestanden. Du weißt ja, wie
ich dann bin.« Sie beendeten das Gespräch, aber es half nichts.
Sofi hatte ihn unruhig gemacht, zu unruhig, um in der Küche zu
sitzen und seine Gedanken zu ordnen.
»Kannst du mich mit dem Boot nach Kungsholmen
bringen?«, fragte er Linda.
Sie sah aus dem Fenster hinauf zum Himmel.
»Okay«, sagte sie.