24
Sonntag, 5. August
Sofi blinzelte. Die Rollos vor ihren Fenstern waren hochgezogen. Beim Zubettgehen hatte sie zum trüben Himmel geblickt und keinen klaren Morgen erwartet. Die Sonne schaffte es sogar bis ins Bad. Sofi sah, dass sie putzen müsste.
Bo Setterlinds Gedichte lagen aufgeschlagen unter ihrer rechten Wange. Ich liege im Dunkeln bei dir. Die Überschrift schimmerte unscharf vor ihrem rechten Auge. Das Leben fand eben mit Leichtigkeit Anspielungen, die jeder verstehen konnte. Bis auf Seite 130 konnte sie es vor dem Einschlafen unmöglich geschafft haben. Sie konnte sich erinnern, dass ihr schon nach drei Seiten zum ersten Mal die Augen zugefallen waren. Sie las natürlich nicht das Exemplar aus Josefins Buchregal. Das hatte sie am Abend noch zu Per gebracht. Aber es hatte ihr kein Problem bereitet, die gleiche Ausgabe auf dem Heimweg im Taschenbuchladen am Centralen zu bekommen, und auch beim Seven-Eleven in der Folkungagatan hatten sie es gehabt, ganz hinten neben dem Kühlschrank und beim Lotto, nicht vorne an der Kasse bei den Krimis und den rollenden Würstchen. Immerhin, eine aktuelle Ausgabe, die man überall bekommen konnte.
Es war viel zu früh. Das Fenster ihres Schlafzimmers lag so, dass sie das Zimmer im Sommer als Sonnenuhr benutzen konnte. Sie musste weit vor der Zeit erwacht sein. Der Termin würde erst am Mittag sein. In der Hochphase anstrengender Ermittlungen kalkulierten sie die Schlafzeiten auf die Viertelstunde genau. Wenn sie jetzt aufstand, fehlte ihr diese Zeit später. Sie schielte auf Seite 131. Sterben ist Sieg, nicht Niederlage. Es scheint über dem Berg. Die Nacht ist Tag geworden. Die Gedichte handelten alle von Einsamkeit. Es war nichts in diesem Buch, was mit dem Gedicht auf dem Zettel in Verbindung stand. Josefin hätte das Kuvert ebenso gut in jedem anderen Buch als Lesezeichen verwenden können.
Ich muss aufstehen und denken, sagte sie sich. Mit einem Glas kalter Milch stellte sie sich auf den schattigen Balkon. Bis dorthin reichte das Sonnenlicht um diese Zeit noch nicht. Gleich neben dem Haus erhob sich Vita Bergen. Sie war so glücklich mit dieser Wohnung. Sie hatte Beteiligungswohnrecht, ihr gehörten 2,7% an der Wohnungsgesellschaft Sofiaglück. Wenn man Sofi heißt und 2,7% an einer Wohngesellschaft mit so einem Namen bekommen konnte, dann durfte man nicht zögern. Sie musste nur noch 46 Monate lang 6200 Kronen im Monat abbezahlen, dann war das Sofiglück unumkehrbar. Als sie zum ersten Mal auf den kleinen Balkon getreten war, war ihr Applaus aus dem Park entgegengetost. Das Freilichttheater oben auf dem Hügel, hatte der Makler knapp erklärt, das lag nur einen Schlagballwurf vom Haus entfernt. Vorausgesetzt natürlich, ein Mann werfe, ergänzte der Makler, sonst sähe man es ja. Sofi war den schmalen Weg hinaufgestiegen, um nachzuschauen. Etwas erhöht hinter zwei Baumreihen lag ein Halbrund aus hölzernen Sitzreihen. Im Sommer gab es dort am Abend Theateraufführungen, im Winter konnte man seinen Hund hinpinkeln lassen.
Sie zog sich rasch an und verließ die Wohnung. In einem Stadtteil zu wohnen, der so hieß wie sie, hatte ihr auf Anhieb gefallen. Dann aber nicht mehr, weil sie ihren Namen auch mit allen Geschäften, Kirchen und Autowerkstätten teilen musste. Am Sofia-Kiosk kaufte sie sich Dagens Nyheter und zwei Dosen Ettan-Tabak. In der Meerjungfrau waren alle Tische belegt, obwohl es nicht mal halb zehn war. Sie wollte ohnehin lieber draußen sein. Deshalb gesellte sie sich zu den anderen Passagieren ans Fährkai. An Bord blies ein warmer, kräftiger Wind. Sofi lehnte sich ans Geländer und überlegte, schon in Sjöstad von Bord zu gehen. Aber dort hatten die glücklichen Pärchen sicher längst ihre Neubauwohnungen mit Holzsteg und angelegtem Schilfidyll verlassen, um im Café Soop zu frühstücken. Und sie wäre dann die Einzige ohne Mann und Kinderwagen. Sie kam ja nie an Männern vorbei, was sollte sie da tun? Das bedeutete nicht, dass sie nicht glücklich war. Gestern Abend zum Beispiel, als sie ganz spät von der U-Bahn heimgelaufen war, nur sie und die Ampelkästen, deren lautes Ticken am Tag vom Straßenlärm verschluckt wurde, da war sie sich müde und erfüllt vorgekommen.
Sie fuhr den Danvikenkanal hinauf und spuckte ihren Tabak ins Wasser, bevor sie an der Endstation Nybroviken von Bord ging. Sofi war eine versierte und leidenschaftliche Umsteigerin, mit dem 69er wollte sie zum Centralen und von dort mit der U-Bahn zur Universität. Als der Bus kam, erkannte sie, dass ihre Technik durchaus noch entwicklungsfähig war. Wie immer hatte sie den Stockholmer Sonntagsverkehr vergessen und kam nicht mal bis zum Fahrer, um ihre Karte vorzuzeigen. Sie setzte sich in der rechten Ecke der Vorderscheibe auf das Armaturenbrett. So hatte sie die ganze Hamngatan entlang eine wunderbare Aussicht auf die Menschenmassen. Ein Brief. Darin gestand Hesperia ihre Liebe. Gestanden? Der Brief war doch in der Wohnung geblieben, er hatte Aisakos gar nicht erreicht. Der Bus hielt vor dem NK-Kaufhaus. Dreißig Menschen stiegen aus, fünfzig stiegen zu. Sofi wurde gegen die Scheibe gedrückt. Der Bus fuhr langsam an. Aber das Kuvert war zugeklebt gewesen. Hatte Josefin ihn abschicken wollen? Oder übergeben? Wenn Sie doch nur das Ergebnis der Spurensicherung hätte. Am Abend, hatte Per gesagt. Vorher sollte sie nicht anrufen und auch nicht vorbeikommen. Am Sergels Torg verließen alle den Bus. Sofi suchte sich einen Platz. Kjell glaubte, dass der Urheber des Briefes den Text abgeschrieben und dabei die Schrift nachgeahmt hatte. Es würde also schwer werden nachzuweisen, dass er wirklich von Josefin oder der Toten stammte. Und dann war da noch die Frage, ob der Brief für den Fall überhaupt etwas bedeutete. In Sofis Wohnung würde die Polizei noch ganz andere Dinge finden, und darunter gab es einiges, was durch reinen Zufall zu ihr geraten war. Beim Staubsaugen war sie vor einigen Tagen auf eine alte Visitenkarte gestoßen, die sie einmal in einem geliehenen Buch entdeckt und wegen des schönen Kupferstichs behalten hatte. Sie stammte von einem Mann mit dem Namen Axel Sonnevi. Verschwände Sofi, würde Axel ganz schön blöd schauen, wenn die Polizei bei ihm vor der Tür stand. Er müsste erklären, wann und warum er ihr die Karte gegeben und was er mit Sofi gemacht hatte. Der Bus war kurz vor der Haltestelle an der Drottninggatan in einen Sonntagsstau geraten, dass einem angst und bange werden konnte. Sofi begann, in dem Buch zu blättern, und verglich die Gedichte mit Hesperias Brief. Ich liege in der Dunkelheit bei dir. Süßer noch, wenn eine Decke die Liebenden verbirgt. So eine Verbindung fand sich zwischen vielen Gedichten. Sie hatte eine Idee, nahm das Telefon aus der Tasche und wählte Kjells Nummer.
 
Linda erschien wortlos in der Küche und glitt auf ihren Stuhl. Es war eine sehr alte Angewohnheit der beiden, dass der Morgen ohne Sprache war, aus der Zeit nämlich, als Linda nur das Nötigste sprechen konnte und es noch nicht allein auf den Stuhl schaffte.
Sie stützte den Kopf auf die Hände und sah aus dem Fenster. Etwas betrübte sie. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr über die Schulter. Das galt den beiden Büchern, die am Abend aufgeschlagen auf dem Küchentisch gelegen hatten. Der Dichter hieß Asklepiades und hatte im dritten Jahrhundert vor Christus gelebt. Kjell musste sich eingestehen, dass er aus dem Gedächtnis nicht darauf gekommen wäre. Linda hatte nicht nur die Übersetzung gefunden, sondern auch das Original. Wahrscheinlich hatte sie es über die Stellenangabe geschafft. Kjell wusste allerdings nicht, was damit gewonnen war.
»Das Zeichnen klappt überhaupt nicht«, nuschelte Linda irgendwann durch ihre Hand.
»Du musst dich erst eingewöhnen. Es ist nicht das Zeichnen, sondern der Ernst der Lage. Am ersten Tag könnte ich auch nichts zeichnen.«
Linda lachte.
»Wolltest du nicht ausgehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte Besuch bekommen. Aber der kam nicht.«
»Hast du gewartet?«
Sie nickte stumm. Das Telefon klingelte. Nach dem Abnehmen meldete sich Sofi.
»Es gibt keinen Aisakos«, sagte sie grußlos. Im Hintergrund hörte er Straßenlärm. Man konnte sie kaum verstehen.
»Wo bist du?«
»Centralen.« Sie klang entschlossen.
»Ich bin noch bei der ersten Tasse.«
»Die Briefe. Das sind keine Briefe. Und Hesperia gibt es auch nicht.«
Kjell musste sich räuspern. Er war noch gar nicht bereit. »Aber beiden Zitaten ist der Name zugeordnet. Im Original ist das nicht so.«
Sofi seufzte.
»Warst du schon bei der Dozentin?«, wollte er wissen.
»Ich fahre hin. Später will ich Sesselja fragen, ob sie die Tote jemals schreiben gesehen hat. Das ist doch komisch, oder? Es gibt keine Handschrift von ihr in der Wohnung.«
»Ich bin gerade erst aufgestanden. Du weißt ja, wie ich dann bin.« Sie beendeten das Gespräch, aber es half nichts. Sofi hatte ihn unruhig gemacht, zu unruhig, um in der Küche zu sitzen und seine Gedanken zu ordnen.
»Kannst du mich mit dem Boot nach Kungsholmen bringen?«, fragte er Linda.
Sie sah aus dem Fenster hinauf zum Himmel.
»Okay«, sagte sie.
Die Falsche Tote
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