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Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten,
wurde Sofi nicht mehr so stark auf der Rückbank hin- und
hergeschüttelt. Kjell saß am Steuer und redete zugleich auf Henning
ein. Jetzt flogen sie auf der nachtleeren Schnellstraße nach
Nynäshamn dahin. Sofi sah die blau erleuchtete Landschaft an sich
vorbeiziehen und spürte, wie die Erschöpfung sich wie eine schwere
Decke über sie legte.
Barbro wollte drei Hubschrauber starten und nach
Süden fliegen lassen, aber der Wagen würde wahrscheinlich vor ihnen
dort ankommen. Auf den beiden vorderen Plätzen wurde die Frage
diskutiert, ob man mit Truppenstärke über die Insel herfallen oder
sich heimlich anschleichen sollte. Sofi betrachtete die
Luftbildaufnahmen. An der Stelle, wo sie die Anlage vermuteten, war
aus der Luft nicht abzuschätzen, wie steil das Ufer wirklich ins
Meer abfiel. Barbros Kontaktmann beim Must hatte darauf
hingewiesen, dass die Radaranlage nachts senden konnte, und dann
war man in einem Hubschrauber besser nicht in der Nähe.
»In Ösmo müssen wir auf die Inselstraße abbiegen!«,
rief Sofi durch das betäubende Dröhnen hindurch. Henning hatte
Kjell seit dem Gullmarsplan immer mehr bis zur
Höchstgeschwindigkeit angestachelt, so dass man die Sirene nur noch
hörte, wenn man ganz konzentriert lauschte. Über den Rückspiegel
sah Sofi ihren Chef nicken.
»Vielleicht kannst du ja doch noch nach Värmland«,
sagte Kjell aus heiterem Himmel.
Sofi wusste erst gar nicht, wovon er sprach und
musste erst in ihrem Kopf suchen, bis sie darin auf das rote
Ausrufezeichen stieß. Es sollte sie daran erinnern, dass sie immer
noch kein Geschenk besorgt hatte.
»Ich habe Linda gefragt, ob sie deinen Eltern ein
Porträt von dir malen kann.«
Sofi quetsche ihren Kopf zwischen die beiden Lehnen
der Vordersitze. »Und das würde sie machen?«
»Sie fragt, was deine Eltern für einen Geschmack
haben. Meinst du, sie mögen Aquarell?«
»Hm«, antwortete Sofi. »Sie mögen den Wandkalender
von der Apotheke in Råby und freuen sich schon ab September auf den
vom kommenden Jahr.«
Kjell lachte. »Dann lieber Öl.«
Hinter Ösmo verließen sie die Schnellstraße und
bogen auf die Straße ab, die sich über die mit Brücken verbundenen
Inseln schlängelte. Yxlö war die dritte der Inseln hinter Himmelsö
und Herrön. Jetzt wurde die Straße wieder so kurvig, dass Sofi den
Computer weglegen musste. Henning schaltete Blaulicht und Sirene
aus.
Yxlö war eine längliche Insel mit felsigem Grund.
Die Inselstraße durchschnitt sie auf halber Höhe. Die Anlage stand
an der Südspitze. Dorthin zweigte ein kleiner Privatweg von der
Inselstraße ab, dessen Lauf Sofi auf dem Luftbild wegen der dichten
Wipfel der Bäume nur schwer nachvollziehen konnte. Sie befürchtete,
dass er nicht bis zur Südspitze reichte, sondern bei den wenigen
Häusern auf halber Höhe endete. Bis dahin war die Insel mit dichtem
Wald bewachsen, doch südlich des letzten Hauses wurden die Bäume
immer spärlicher.
Mitten auf der Brücke bremste Kjell abrupt und
deutete zum Ende. Unter dem blauen Schild mit der Aufschrift »Yxlö«
war ein weiteres Schild mit gelbem Grund befestigt worden. Es
untersagte Autofahrern wegen einer technischen Versuchsanordnung
das Benutzen von Telefonen bis zum Ende der Insel. Zudem wurde
empfohlen, Navigationsgeräte abzuschalten und der Straße zu
folgen.
»Hört ihr das?«, rief Sofi und streckte den Kopf
aus dem Fenster.
Die Gänse näherten sich als dreieckige Formation
von Norden und überflogen die Brücke in geringer Höhe. Sofi, Kjell
und Henning drehten ihre Köpfe und blickten ihnen hinterher.
»Genau dorthin müssen wir auch«, sagte Sofi.
»Das muss nichts bedeuten«, fand Kjell. »Hier
fliegen dauernd Gänse, und sie folgen immer dem Wasser.« Er ließ
das Auto langsam weiterrollen, bis sich rechts ein dunkles Loch
zwischen den eng stehenden Bäumen auftat.
»Müssen wir da rein?«, fragte Kjell.
»Soweit ich sehen kann, gibt es keinen Weg bis zur
Südspitze. Der Weg hört auf halber Strecke bei einem Haus auf.
Danach wird es zu felsig. Wir werden den Rest laufen müssen.«
»Wie weit werden wir laufen müssen, Sofi?«
»Anderthalb Kilometer sind es schon.«
Der Kies knisterte unter den Reifen, als sie dem
Weg langsam folgten. Die Sicht reichte nicht weit, weil der Weg
ständig Erhöhungen im Fels ausweichen musste. Nach fünf Minuten
glaubte Sofi, dass die schwarze Fläche auf der rechten Seite nicht
mehr die Finsternis des Waldes war, sondern das Meer. Der Karte
nach musste der Weg bald enden und das erste Haus auftauchen.
Das geschah mit einem Schlag. Kjell bremste, als
die Bäume auf einmal endeten und die Scheinwerfer sich in einem
grasbewachsenen Nichts verloren. Eine Wiese, bemerkte Kjell ganz
unnötigerweise. Aber wie groß war sie? Es war kein Weg oder
wenigstens eine Fahrspur darauf zu erkennen. Kjell fuhr vorsichtig
an. Der Wald löste sich schnell hinter ihnen auf, und dann war es
wie in einem Alptraum, wo man in alle Ewigkeit in vollkommener
Dunkelheit über eine Wiese laufen musste.
»Was ist, Henning«, lachte Kjell. »Soll ich immer
noch Vollgas geben?«
Henning brummte. Er war als junger Mann zur See
gefahren und wurde wohl gerade von Klabautermanngedanken
heimgesucht.
Sofi betrachtete das Luftbild. Es gab da eine nette
Wiese mit einem Durchmesser von dreihundert Metern, aber es war
etwas anderes, im Finstern richtungslos darüber zu rollen.
Wahrscheinlich konnte man hier an sonnigen Nachmittagen Fußball
spielen.
»Ins Meer können wir nicht kippen«, meldete Sofi
nach vorn. »Es kommt noch einmal Wald. Dort stehen auch die
Häuser.«
Kjell bremste abrupt. Mitten vor ihnen stand ein
einzelner Baum.
»Das dürfte dann wohl die Weltenesche sein«,
glaubte Henning. »Am besten fährst du einfach drum herum.«
Auf der Rückbank kippte Sofi um vor Lachen. Kjell
schlug das Lenkrad ein und umfuhr den Baum. Auf einmal ruckelte es
heftig.
»Jetzt hast du auch noch die böse Midgardschlange
überfahren«, rief Sofi.
»Kaum«, sagte Henning. »Die wohnt im Forsavägen in
Bandhagen und ist mit einem U-Bahn-Schaffner verheiratet.«
Auf einmal zeichneten sich Konturen in der grauen
Fläche ab, die das Fernlicht warf. Sie erwiesen sich als Hütten.
Bäume tauchten auf. Sie waren am Ende der Wiese angelangt. Und
jetzt sahen sie auch das große rote Haus. Henning stieg aus dem
Wagen und lief hin. Er klopfte an die Tür, aber nach einigem Warten
gab er auf und drehte eine Runde um das Gebäude.
»Da ist niemand«, berichtete er nach seiner
Rückkehr. »Aber dort hinten steht ein Auto zwischen den
Bäumen.«
Kjell fuhr ein Stück zurück und richtete den Wagen
so aus, dass der Lichtkegel auf das Fahrzeug fiel. Henning musste
sich zwischen den niedrigen Zweigen der Tannen hindurchzwängen.
Nach vier Minuten kehrte er telefonierend zurück.
»Die Madeira Edelholzinnenausstattung in Nussbaum
gehört einem Mats Mahlström. Wohnt in Östermalm und ist der Polizei
vollkommen unbekannt.«