82
Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, wurde Sofi nicht mehr so stark auf der Rückbank hin- und hergeschüttelt. Kjell saß am Steuer und redete zugleich auf Henning ein. Jetzt flogen sie auf der nachtleeren Schnellstraße nach Nynäshamn dahin. Sofi sah die blau erleuchtete Landschaft an sich vorbeiziehen und spürte, wie die Erschöpfung sich wie eine schwere Decke über sie legte.
Barbro wollte drei Hubschrauber starten und nach Süden fliegen lassen, aber der Wagen würde wahrscheinlich vor ihnen dort ankommen. Auf den beiden vorderen Plätzen wurde die Frage diskutiert, ob man mit Truppenstärke über die Insel herfallen oder sich heimlich anschleichen sollte. Sofi betrachtete die Luftbildaufnahmen. An der Stelle, wo sie die Anlage vermuteten, war aus der Luft nicht abzuschätzen, wie steil das Ufer wirklich ins Meer abfiel. Barbros Kontaktmann beim Must hatte darauf hingewiesen, dass die Radaranlage nachts senden konnte, und dann war man in einem Hubschrauber besser nicht in der Nähe.
»In Ösmo müssen wir auf die Inselstraße abbiegen!«, rief Sofi durch das betäubende Dröhnen hindurch. Henning hatte Kjell seit dem Gullmarsplan immer mehr bis zur Höchstgeschwindigkeit angestachelt, so dass man die Sirene nur noch hörte, wenn man ganz konzentriert lauschte. Über den Rückspiegel sah Sofi ihren Chef nicken.
»Vielleicht kannst du ja doch noch nach Värmland«, sagte Kjell aus heiterem Himmel.
Sofi wusste erst gar nicht, wovon er sprach und musste erst in ihrem Kopf suchen, bis sie darin auf das rote Ausrufezeichen stieß. Es sollte sie daran erinnern, dass sie immer noch kein Geschenk besorgt hatte.
»Ich habe Linda gefragt, ob sie deinen Eltern ein Porträt von dir malen kann.«
Sofi quetsche ihren Kopf zwischen die beiden Lehnen der Vordersitze. »Und das würde sie machen?«
»Sie fragt, was deine Eltern für einen Geschmack haben. Meinst du, sie mögen Aquarell?«
»Hm«, antwortete Sofi. »Sie mögen den Wandkalender von der Apotheke in Råby und freuen sich schon ab September auf den vom kommenden Jahr.«
Kjell lachte. »Dann lieber Öl.«
Hinter Ösmo verließen sie die Schnellstraße und bogen auf die Straße ab, die sich über die mit Brücken verbundenen Inseln schlängelte. Yxlö war die dritte der Inseln hinter Himmelsö und Herrön. Jetzt wurde die Straße wieder so kurvig, dass Sofi den Computer weglegen musste. Henning schaltete Blaulicht und Sirene aus.
Yxlö war eine längliche Insel mit felsigem Grund. Die Inselstraße durchschnitt sie auf halber Höhe. Die Anlage stand an der Südspitze. Dorthin zweigte ein kleiner Privatweg von der Inselstraße ab, dessen Lauf Sofi auf dem Luftbild wegen der dichten Wipfel der Bäume nur schwer nachvollziehen konnte. Sie befürchtete, dass er nicht bis zur Südspitze reichte, sondern bei den wenigen Häusern auf halber Höhe endete. Bis dahin war die Insel mit dichtem Wald bewachsen, doch südlich des letzten Hauses wurden die Bäume immer spärlicher.
Mitten auf der Brücke bremste Kjell abrupt und deutete zum Ende. Unter dem blauen Schild mit der Aufschrift »Yxlö« war ein weiteres Schild mit gelbem Grund befestigt worden. Es untersagte Autofahrern wegen einer technischen Versuchsanordnung das Benutzen von Telefonen bis zum Ende der Insel. Zudem wurde empfohlen, Navigationsgeräte abzuschalten und der Straße zu folgen.
»Hört ihr das?«, rief Sofi und streckte den Kopf aus dem Fenster.
Die Gänse näherten sich als dreieckige Formation von Norden und überflogen die Brücke in geringer Höhe. Sofi, Kjell und Henning drehten ihre Köpfe und blickten ihnen hinterher.
»Genau dorthin müssen wir auch«, sagte Sofi.
»Das muss nichts bedeuten«, fand Kjell. »Hier fliegen dauernd Gänse, und sie folgen immer dem Wasser.« Er ließ das Auto langsam weiterrollen, bis sich rechts ein dunkles Loch zwischen den eng stehenden Bäumen auftat.
»Müssen wir da rein?«, fragte Kjell.
»Soweit ich sehen kann, gibt es keinen Weg bis zur Südspitze. Der Weg hört auf halber Strecke bei einem Haus auf. Danach wird es zu felsig. Wir werden den Rest laufen müssen.«
»Wie weit werden wir laufen müssen, Sofi?«
»Anderthalb Kilometer sind es schon.«
Der Kies knisterte unter den Reifen, als sie dem Weg langsam folgten. Die Sicht reichte nicht weit, weil der Weg ständig Erhöhungen im Fels ausweichen musste. Nach fünf Minuten glaubte Sofi, dass die schwarze Fläche auf der rechten Seite nicht mehr die Finsternis des Waldes war, sondern das Meer. Der Karte nach musste der Weg bald enden und das erste Haus auftauchen.
Das geschah mit einem Schlag. Kjell bremste, als die Bäume auf einmal endeten und die Scheinwerfer sich in einem grasbewachsenen Nichts verloren. Eine Wiese, bemerkte Kjell ganz unnötigerweise. Aber wie groß war sie? Es war kein Weg oder wenigstens eine Fahrspur darauf zu erkennen. Kjell fuhr vorsichtig an. Der Wald löste sich schnell hinter ihnen auf, und dann war es wie in einem Alptraum, wo man in alle Ewigkeit in vollkommener Dunkelheit über eine Wiese laufen musste.
»Was ist, Henning«, lachte Kjell. »Soll ich immer noch Vollgas geben?«
Henning brummte. Er war als junger Mann zur See gefahren und wurde wohl gerade von Klabautermanngedanken heimgesucht.
Sofi betrachtete das Luftbild. Es gab da eine nette Wiese mit einem Durchmesser von dreihundert Metern, aber es war etwas anderes, im Finstern richtungslos darüber zu rollen. Wahrscheinlich konnte man hier an sonnigen Nachmittagen Fußball spielen.
»Ins Meer können wir nicht kippen«, meldete Sofi nach vorn. »Es kommt noch einmal Wald. Dort stehen auch die Häuser.«
Kjell bremste abrupt. Mitten vor ihnen stand ein einzelner Baum.
»Das dürfte dann wohl die Weltenesche sein«, glaubte Henning. »Am besten fährst du einfach drum herum.«
Auf der Rückbank kippte Sofi um vor Lachen. Kjell schlug das Lenkrad ein und umfuhr den Baum. Auf einmal ruckelte es heftig.
»Jetzt hast du auch noch die böse Midgardschlange überfahren«, rief Sofi.
»Kaum«, sagte Henning. »Die wohnt im Forsavägen in Bandhagen und ist mit einem U-Bahn-Schaffner verheiratet.«
Auf einmal zeichneten sich Konturen in der grauen Fläche ab, die das Fernlicht warf. Sie erwiesen sich als Hütten. Bäume tauchten auf. Sie waren am Ende der Wiese angelangt. Und jetzt sahen sie auch das große rote Haus. Henning stieg aus dem Wagen und lief hin. Er klopfte an die Tür, aber nach einigem Warten gab er auf und drehte eine Runde um das Gebäude.
»Da ist niemand«, berichtete er nach seiner Rückkehr. »Aber dort hinten steht ein Auto zwischen den Bäumen.«
Kjell fuhr ein Stück zurück und richtete den Wagen so aus, dass der Lichtkegel auf das Fahrzeug fiel. Henning musste sich zwischen den niedrigen Zweigen der Tannen hindurchzwängen. Nach vier Minuten kehrte er telefonierend zurück.
»Die Madeira Edelholzinnenausstattung in Nussbaum gehört einem Mats Mahlström. Wohnt in Östermalm und ist der Polizei vollkommen unbekannt.«
Die Falsche Tote
scho_9783641017156_oeb_cover_r1.html
Section0001.html
scho_9783641017156_oeb_toc_r1.html
scho_9783641017156_oeb_fm1_r1.html
scho_9783641017156_oeb_ata_r1.html
scho_9783641017156_oeb_fm2_r1.html
scho_9783641017156_oeb_fm3_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c01_r1.html
scho_9783641017156_oeb_p01_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c02_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c03_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c04_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c05_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c06_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c07_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c08_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c09_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c10_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c11_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c12_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c13_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c14_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c15_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c16_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c17_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c18_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c19_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c20_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c21_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c22_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c23_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c24_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c25_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c26_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c27_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c28_r1.html
scho_9783641017156_oeb_p02_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c29_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c30_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c31_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c32_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c33_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c34_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c35_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c36_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c37_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c38_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c39_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c40_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c41_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c42_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c43_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c44_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c45_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c46_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c47_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c48_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c49_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c50_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c51_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c52_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c53_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c54_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c55_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c56_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c57_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c58_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c59_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c60_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c61_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c62_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c63_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c64_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c65_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c66_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c67_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c68_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c69_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c70_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c71_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c72_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c73_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c74_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c75_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c76_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c77_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c78_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c79_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c80_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c81_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c82_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c83_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c84_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c85_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c86_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c87_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c88_r1.html
scho_9783641017156_oeb_c89_r1.html
scho_9783641017156_oeb_bm1_r1.html
scho_9783641017156_oeb_tea_r1.html
scho_9783641017156_oeb_cop_r1.html