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Es war die junge Rothaarige, die außerhalb der
Sommerzeit in der Mariawache arbeitete. Sie hatte an diesem Tag
schon drei Falschmeldungen durchgegeben und sich auf Sofis Liste
ein Sternchen eingehandelt, das für Übereifer stand. Das
Antiquariat erstreckte sich über drei Etagen. Bei dem schönen
Wetter war kein Mensch zu sehen. Sofi umrundete einige Ecken, bis
sie die Kollegin zusammen mit drei Angestellten vor einem Regal
diskutieren sah.
»Sie haben es im Katalog, wissen aber nicht, ob es
schon verkauft ist. Jetzt suchen wir die Regale ab.«
Die Angestellten sahen ratlos aus.
»Wir haben fast hunderttausend Bücher«, erklärte
die ältere Dame, die anscheinend die Vorgesetzte war. »Es gibt ein
paar Stellen, wo es eigentlich stehen müsste, aber wir finden es
nicht. Ausländische Bücher stehen unten im Keller.«
»Und wenn es geklaut wurde?«, fragte die
Polizeianwärterin Klemming. »Das könnte doch auch sein!«
Die Vorgesetzte seufzte, was Sofi als Bestätigung
deutete. Sie seufzte ebenfalls, denn sie hatte auf ein kleineres
Geschäft gehofft, wo man sich vielleicht an den Käufer erinnern
konnte. Rönnells war die schlechteste aller Varianten. Auch wenn
sie bis zum Abend suchten, konnten sie nie ganz sicher sein, ob das
Buch nicht irgendwo stand. Auch wenn man alles absuchte, dann war
bestenfalls gewiss, dass jemand, den Sofi nie ermitteln würde, das
Buch mitgenommen hatte.
»Gibt es Kameras?«
Die drei Angestellten nickten.
»Ihr seid euch sicher, dass es in diesem Gang
gestanden hat?«, fragte Sofi.
Es wurde weitergenickt. »Hier bei den deutschen
Büchern.«
Rönnells hatte 44 Stunden in der Woche geöffnet.
Wenn man das Band kopierte und vom Tag des Mordes an rückwärts
laufen ließe, wie schnell würden dann die dreißig Anwärter etwas
entdecken können? Das fragte sich Sofi. Schlimmer hätte es kaum
kommen können. Sie ließ sich den Computer zeigen.
Die Auflösung der Filme war so gering, dass das
Format etwa ihrer Handfläche entsprach. Immerhin war viel aus dem
Zeitraum abgespeichert, nach dem sie suchten. Das Aufnahmeprogramm
überschrieb die ältesten Dateien erst, wenn der Speicherplatz
verbraucht war.
Während Sofi am Dateiverzeichnis abzuschätzen
versuchte, wie viel Arbeit anfallen würde, klingelte ihr Telefon
schon wieder. Die Stimme des jungen Mannes klang sehr
selbstbewusst. Er nannte seinen Namen. Im Bokmagasinet in der
Hornsgatan führte man zwar das Buch nicht, weil es dort fast nur
schwedische Bücher gab, dafür waren die Angestellten bereit, ihre
Hand dafür ins Feuer zu legen, dass Person 1 vor etwa drei Wochen
im Geschäft gewesen war.
Person 1 war die tote Doppelgängerin.
»Was hat sie gewollt?«, fragte Sofi.
»Nicht dieses Buch, das du uns gegeben hast. Sie
streiten hier gerade. Die eine glaubt an einen Roman, die andere an
Lyrik.«
»Wieso erinnern die sich denn an sie?«
»Sie soll sich eigenartig verhalten haben. Was sie
mir hier erzählen und vormachen, klingt, als wäre das Mädchen high
gewesen. Moment bitte.« Sofi hörte Polizeianwärter Anderberg mit
jemandem sprechen. »Hallo? Der Roman heißt ›Wohin man sich sehnt‹.
Ist erst vor ein paar Jahren erschienen, aber sie hat ihn nirgendwo
bekommen. Das klingt ein wenig merkwürdig. In dem Buch kommen
Gedichte von Ferlin und Södergran vor, die wollte sie auch. Und
Setterlind.«
»Bo Setterlind?«
»Ja, also so gut wie alle Nationaldichter.«
Sofi wog ab, wofür sie sich jetzt entscheiden
sollte. Das klang alles so vage. Setterlind wurde bestimmt so oft
verkauft, wie die Götgatan lang war.
»Okay«, sagte sie. »Ich komme.«
In Windeseile instruierte sie ihre Kollegin, dass
sie vorn in der Sturegallerian CDs kaufen und die Daten darauf
speichern solle. Im Auto überlegte sie, ob sie mit Blaulicht fahren
durfte. Bei der Schutzpolizei war das immer ganz eindeutig gewesen,
bei der Reichsmord war es bisher so gut wie nie vorgekommen und
anscheinend eine Frage des Ermessens. Sie fuhr auf der Birger
Jarlsgatan nach Süden und rief Kjell an.
»Kannst du in der Pathologie anrufen und fragen, ob
es bei Hesperia irgendwelche Anzeichen für Drogen gibt?«
Kjell bestätigte, das er das gleich machen würde.
Er fragte nicht, wo sie war, was sie tat und warum sie das wissen
wollte. Dabei ging ihr auf, dass sich ihre Rollen soeben verkehrten
und er sich ihre Anweisungen notierte. Er bremste sie nie aus wie
ihr alter Chef in Norrmalm, kam ihr zu Bewusstsein, während sie am
Stureplan einem Anzugträger die Vorfahrt gewährte, obwohl sie grün
und er rot hatte.
»Und dann brauche ich eine Information über ein
Buch. Es heißt ›Wie man sich sehnt‹, oder nein, ›Wohin man sich
sehnt‹!«
Wie man sich sehnt, so hieß ja ihr Tagebuch!
»Ja, ja, ich melde mich dann.«
Sie hatte sich schon verabschiedet, als ihr
einfiel, danach zu fragen, wann sie das Blaulicht verwenden
durfte.
»Wenn Minuten eine Rolle spielen.«
Sofi schmiss das Telefon auf den Beifahrersitz und
war ratlos. Sie wusste nicht, ob Minuten eine Rolle spielten.
Sie erreichte Södermalm in kurzer Zeit, obwohl sie
zivil fuhr. In der Hornsgatan musste sie einen Kilometer lang am
rechten Rand entlangschleichen, weil sie das Geschäft nicht
verpassen wollte. Das brachte ihr aggressive Huperei ein. Sofi
parkte wild auf dem Vorplatz. Neben dem Buchladen waren alle Tische
vor dem Café besetzt. Als sie auf das Geschäft zuging, spürte sie
die entsetzten Blicke der Leute, die wohl glaubten, dass sie immer
so parkte, wenn sie ein Buch wollte.
Emil Anderberg gegenüberzustehen, widerlegte den
Eindruck, den sie von ihm am Telefon bekommen hatte. Da hatte er
hochnäsig geklungen. Doch er war nur vorsichtig und ein wenig
kristallhäutig, wie man solche Leute in ihrer Gegend nannte. In der
kurzen Zeit hatte er sich wirklich Mühe gegeben, die Situation zu
erfassen. Die beiden Verkäuferinnen waren nur ein wenig älter als
Linda, dabei hatte sich Sofi zwei alte Biester vorgestellt, die
schon seit Jahren hier nebeneinander hinter der Kasse standen und
sich viermal am Tag zankten und einander die Freundschaft
aufkündigten.
»Da hatten wir Glück«, sagte Anderberg. »Am
Sechzehnten wären sie wieder weg gewesen. Das sind Yrsa und
Liisa.«
Yrsa und Liisa waren ein hippes Gespann aus Vasa in
Finnland, das während der Sommerferien hier die Vertretung
übernahm. Sie standen mit bauchfreiem T-Shirt an der Eingangstür
und rauchten. Beide waren schlank bis auf die Knochen.
»Ihr glaubt also, dieses Mädchen hier zu kennen?«,
fragte Sofi ungläubig. Das wäre ja ein Volltreffer.
Liisa antwortete mit einem finnischen Nicken, das
für Nichtfinnen kaum zu erkennen war. Erst wollte Sofi nachfragen,
wie sicher sich die beiden waren, aber sie erweckten nicht den
Eindruck, zu Übertreibungen zu neigen.
»Die war da«, bestätigte Yrsa.
Und damit war klar, dass sie da gewesen war.
»Yrsa tendiert eher zu Amphetaminen«, sagte Emil.
»Liisa glaubt an etwas Seelisches.«
»Sie wollte dieses Buch, aber das hatten wir
nicht«, erklärte Liisa. »Ich habe ihr gesagt, das ist doch so neu,
das kriegst du überall. Geh mal in die Drottninggatan oder zum
Sergels Torg. Sie hat den Kopf geschüttelt, als ob sie das schon
versucht hätte.«
»Sie hat nicht sprechen wollen«, ergänzte
Yrsa.
Liisa schüttelte den Kopf. »Es hat sie verstört,
dass wir das Buch nicht hatten. Sie hat irgendwie keinen Plan B
gehabt, wenn du verstehst, was ich meine. Irgendwas hat mit ihr
nicht gestimmt.«
»Und die anderen Bücher?«
Yrsa nickte. »Hat sie sich mitgenommen. Bar
gezahlt.«
»Schließt ihr bald?«, fragte Sofi. Es war Viertel
vor sechs.
Die beiden nickten bedächtig.
»Ihr müsst mitkommen und eine ausführliche Aussage
machen. Das kann ich euch nicht ersparen.«
Sofi ging mit Anderberg vor die Tür und schlenderte
auf ihren Wagen zu, während die beiden Finninnen die Kasse
abrechneten.
»Gut gemacht«, sagte Sofi. »Könnte etwas
sein.«
Als sie den Wagen erreichten, hörte Sofi ihr
Telefon im Inneren klingeln. Sie hatte es auf dem Beifahrersitz
vergessen.
»Hallo? Hallo?«, sagte die junge Stimme. »Hier ist
Theresa. Julander. Es ist total dringend! Ich brauche Hilfe. Ich
bin in Skarpnäck. Du hast mir dieses Geschäft aufgeschrieben, aber
das gibt es gar nicht mehr! Ich bin in die Bibliothek, weil ich es
nicht gefunden habe. Die wissen das, habe ich mir gesagt. Also, das
Geschäft gibts nicht mehr, aber die haben das Buch.«
Sofi verstand nicht recht. »Die Bibliothek?«
»Jajaja! Es ist ausgeliehen. Die Frau hier ist
irgendwie bescheuert. Ich wollte die Adresse, aber die will sie mir
nicht geben. Sie ist bei der Bürgerrechtsbewegung und will sogar
bei den Leuten anrufen und ihnen verraten, dass ich mich nach ihnen
erkundigt habe. Und jetzt machen die um sechs zu, und dann will sie
gleich anrufen. Ich brauche dringend Hilfe, verstehst du?«
»Theresa war dein Name, ja?« Seitdem die Anruferin
ihren Namen genannt hatte, war so viel passiert, jedenfalls kam es
Sofi so vor. Sie konnte sich sogar an Theresa erinnern, weil sie
bei der Besprechung am Morgen mit ihrer blonden Lockenpracht wie
eine Achtklässlerin in der ersten Reihe gesessen und die ganze Zeit
gelächelt hatte. Auf ihrer Liste sah Sofi, dass sie in der
Norrmalm-Wache arbeitete. Damit war sie sozusagen ihre
Nachfolgerin. »Du bist also in Skarpnäck in der Bibliothek.«
»Das ist hier die Ortsbibliothek. Skarpnäck Allé
25. Mittendrin. Ist so ganz hässliche
Sozialdemokratenarchitektur.«
»Halte sie vom Telefonieren ab. Ich komme. Schlag
sie k.o., wenn es nicht anders geht.«
»Klar, mach ich.«
»Das war nur bildlich gemeint.«
»Schon kapiert. Ich reiße das Kabel raus, wenn es
nicht anders geht. Aber gewalttätig ist sie ja nicht.«
Sofi wies Anderberg an, die Finninnen am
Polizeigebäude abzuliefern, und sprang in den Wagen. Diesmal war es
eine Frage von Minuten. Sie raste auf der Hornsgatan zurück bis zur
Götgatan. Dort gab sie richtig Gas und rief Kjell an.
»Schnell! Wie komme ich am besten nach
Skarpnäck?«
»Wo bist du jetzt?«
»Götgatan nach Süden.«
»Am besten bis zum Schnellstraßenkreuz und dort auf
den Tyresövägen. Da kommt dann eine Ausfahrt ›Skarpnäck
Gård‹.«
Sie legte grußlos auf und sah die Götgatan an sich
vorbeiziehen. Sie näherte sich dem Ringvägen und bremste aus
Vorsicht etwas ab. Sie war gut im Blaulichtfahren und überquerte
die Kreuzung lebend. Von da an ging es leichter. Jetzt war sie auf
der Schnellstraße. Als sie am Gullmarsplan vorbeischoss, hatte sie
noch sieben Minuten. Sie glaubte aber, dass Theresa alles im Griff
haben würde. Wie sie am Telefon geklungen hatte, würde sie einfach
das Kabel aus der Wand reißen, eine Schlinge hineinknoten und
lächelnd auf die Bürgerrechtlerin zugehen.
Zehn Minuten später fuhr sie von der Schnellstraße
ab. Kjells Wegbeschreibung erwies sich als richtig. Sofi fand den
Weg durch das Wohngebiet und sah die Bibliothek schon von weitem.
In ganz Skarpnäck war es nämlich das einzige Gebäude, das nicht aus
roten Ziegeln gebaut war. Sie sprang aus dem Wagen und rannte in
das blaugraue Haus. Theresa stand vor dem Schalter und diskutierte
noch.
»Reichskriminalpolizei«, rief Sofi dazwischen und
streckte ihren Ausweis hin. »Ihr habt das Buch, ja?«
Beide nickten.
»Ist der Katalog mit dem Onlinekatalog
verbunden?«
»Nein«, sagte die Frau. Die kalkgraue Haut mit
lauter Falten machte es schwer, das Alter zu schätzen.
»Ich will den Katalog sehen. Ich bin vom
Gesetzgeber und vom Reichsankläger befugt, alle Daten einzusehen.
Ich darf dazu auch Gewalt anwenden.«
»Sie will die Nutzerdaten nicht rausrücken«, klagte
Theresa, als wäre die Bibliothekarin ihre gemeine kleine
Schwester.
Die Bibliothekarin wirkte jetzt aufgelöst. Sie
schien Theresa einfach nicht geglaubt zu haben. Ein Polizeiausweis
sah auch nicht mehr echt aus, wenn Theresa ihn benutzte.
Aber gut war Theresa, dachte sie, während sie sich
hinter die Bibliothekarin stellte, die mit zitternden Händen die
F2-Taste drückte. Sofi hatte immer schon wissen wollen, was
Bibliothekarinnen mit den Funktionstasten alles machen konnten.
Bisher hatte sie leider immer auf der anderen Seite des Tresens
gestanden und jedesmal gestaunt, dass mindestens fünf
Funktionstasten nötig waren, um eine Gebührenquittung auszudrucken
oder irgendetwas anderes mit dem Computer zu machen. Die Frau
drückte noch F7, bestätigte mit Enter, öffnete mit F10 eine
Leihliste und druckte sie mit F1 aus. Dann räumte sie mit der
Escape-Taste alles wieder auf.
Die Liste war sensationell. Das Buch war in den
letzten zwei Jahren ständig ausgeliehen gewesen, und zwar immer von
einem anderen Benutzer. Zurzeit war es in Besitz einer Frau namens
Nikolina Kovacevic.
»Ich brauche alle Adressen, bitte. Kannst du die
Liste auch verlängern?«
»Nein. Der Erste auf der Liste ist auch der Erste,
der das Buch ausgeliehen hat. Kurz davor ist eine Frau gestorben,
die aus Deutschland kam. Sie hat uns ihre Bücher vermacht.«
Sofi nickte erfreut und überflog die Liste. Der
Drucker sprang an und gab einen Stapel an Blättern aus. Die
Bibliothekarin tat ihr leid, als Sofi sie auch noch darum bat,
Listen auszudrucken, die die anderen ausgeliehenen Bücher aller auf
der ersten Liste aufgeführten Personen enthielt. Sofi zeigte ihr
Lindas Zeichnungen, die sie sorgfältig prüfte. Am Ende schüttelte
sie den Kopf. Vielleicht die Mädchen, da war sie sich nicht sicher.
Aber den Mann hatte sie noch nie gesehen. Theresa triumphierte,
dass es der Frau so heimgezahlt wurde. Die blieb noch einige
Minuten an ihrem Platz sitzen, nachdem Sofi und Theresa mit den
Stapeln hinausgegangen waren. Ihre Finger mussten sie als Trenner
benutzen, damit nicht alle Stapel durcheinandergerieten. Ohne die
vier Ellenbogen hätten sie es gar nicht ins Auto geschafft.
»Glaubst du, sie macht Ärger?«, fragte
Theresa.
Sofi schüttelte den Kopf.
Während der Drucker gelaufen war, hatte sie im
Regal mit der Rechtsliteratur das Prozessrecht herausgezogen und
der Bibliothekarin aus dem 23. Kapitel vorgelesen, um ihr zu
beweisen, dass das Öffentlichkeitsprinzip bei einer polizeilichen
Untersuchung nicht galt.
Die beiden versuchten, die Stapel zu sichten.
»Gibt es jemanden in Skarpnäck, der nicht im
Horisontvägen wohnt?«, wunderte sich Sofi.
Theresa lachte. »Der ist gleich da vorne und
scheint nie zu enden. Ich bin vorhin entlanggelaufen.«
»Am besten versuchen wir es gleich hier und
jetzt.«
Sofi baute die Rückbank zu einem Archiv um und rief
Kjell an.