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Sie hatten sich verschätzt, ganz grob sogar. Saga
Isaksson wand sich in Hennings Armen. Sie begann zu würgen, und
alle stellten sich darauf ein, dass sie sich auf die Tischplatte
übergeben würde. Sofi stürzte zur Tür hinaus und rannte den Gang
hinunter.
Stark, zielsicher und auf alles gefasst war die
Achtzehnjährige zur Tat geschritten. Jedenfalls hatten sie ihr
diesen Auftritt abgenommen. Keiner der vier hatte eine solche
Reaktion auf den Anblick der Fotos der Toten erwartet, wo sie doch
zur harmlosen Sorte gehörten. Die spasmischen Zuckungen erwiesen
sich als Weinkrampf, das Würgen hatte nur einige Sekunden gedauert.
Henning löste seine Umschlingung, unter der Saga für einige Momente
ganz verschwunden war. Sie blieb angespannt sitzen, ihren Rücken
durchgedrückt.
Man lernt nie aus, schwirrte es in Kjells Kopf
herum, ohne dass er den abgenutzten Gedanken wirklich dachte.
Henning wich zurück und stieß sich auf der Suche nach Orientierung
mit dem Hintern gegen die Wand. Barbro rückte sich einen Stuhl
direkt neben das Mädchen, dessen Augen verrieten, dass sie zur
Besinnung kam und sich über ihren Ausbruch genauso wunderte wie die
Polizisten.
Sofi brauchte zehn Minuten, um die Hausschwester
aus dem Zellentrakt in einem entfernten Gebäude herbeizuholen. Sie
untersuchte zuerst Sagas Pupillen und maß zugleich ihren Puls. Dann
sagte sie einige Worte, um Kontakt mit Saga aufzunehmen. Sie
antwortete klar. Kjell hatte noch nie ein so weißes Gesicht
gesehen. Er ging hinüber zu Sofis Schreibtisch. Die Berliner Mauer
war gefallen. Das konnte selbst Sofi unmöglich alles gegessen
haben. In der Schublade fand er den Rest.
Zu seiner Erleichterung wollte Saga sofort
hineinbeißen. Die Schwester hatte ihr eine Spritze verpasst und
bestand darauf, dass Saga die Möglichkeit erhielt, sich für einige
Minuten hinzulegen und zur Ruhe zu kommen.
Kjell gab Henning einen Klaps, weil der immer noch
konsterniert mit dem Hintern an der Wand klebte. Junge Damen in Not
waren eines der beiden einzigen Dinge, die Henning einer
rokokohaften Ohnmacht nahebringen konnten.
Nach einer halben Stunde sah Saga keinen Sinn mehr
im Daliegen. Sie nahm wieder am Tisch Platz und schien sich zu
schämen.
»Sie ist es also?«, fragte Kjell.
Saga nickte und nippte ohne Unterlass an ihrem
Wasserglas.
»Wir haben uns nur einmal gesehen. Aber das ist
noch gar nicht so lange her! Ich verstehe gar nicht …«
»Einmal nur?«
Saga leerte ihr Glas und schluckte laut. Von dem
Anfall waren ihr offenbar Halsschmerzen zurückgeblieben. Barbro
füllte ihr immer wieder nach.
»Sie rief aus heiterem Himmel auf meinem
Mobiltelefon an. Ich war gerade bei meinem Freund in Liseberg. Sie
wollte sich mit mir treffen, und zwar noch an jenem Nachmittag. Es
klang, als wäre sie gerade in der Stadt und sonst nicht.«
»Entschuldigung«, fragte Barbro. »Wann war
das?«
»Kann ich einen Kalender haben? Es war auf jeden
Fall ein Freitag.«
Barbro holte den Wandkalender aus ihrem Büro. An
den fehlenden Ecken sah man, dass sie ihn mit einem Wisch von der
Wand gerissen haben musste.
Sagas Augen flogen über den Juli. »Hier, es muss
der sechste gewesen sein. Der sechste. Sie hat gegen zwei
angerufen.«
»Ihr kanntet euch also vorher gar nicht?
Sie nickte. »Ich wollte erst nicht. Von Liseberg
bis in die Innenstadt ist es ja ein ganz schönes Stück.«
»Ich verstehe nicht ganz«, unterbrach Kjell. »Da
ruft eine völlig Fremde bei dir an und fragt dich, ob ihr euch
sofort treffen wollt. Und du fährst daraufhin in die Stadt.«
Saga wirkte ein wenig verlegen. »Ich bin ja die
Vorsitzende der Jungsozis in Stockholm-Stadt. Das ist also nicht
sooo ungewöhnlich, dass mich Fremde anrufen. Sie klang auch, als
hätte ihr jemand meine Nummer gegeben. Über mich schien sie nicht
viel zu wissen.«
»Hast du sie gefragt, woher sie dich kennt?«
»Ich glaubte nicht. Das war, weil sie direkt auf
die Sache zu sprechen kam. ›Saga Isaksson vom Frauenausschuss‹ hat
sie gesagt. Als ob sie es abläse. Und dann meinte sie, sie müsse
mich etwas Wichtiges fragen, ob wir uns sehen könnten. Jetzt gleich
sollte es sein, sie sei in der Stadt. Genauer gesagt in Östermalm.
Viel mehr haben wir bei dem Telefonat nicht gesprochen. Ihre Stimme
klang nur so ernst, oder eher besorgt und ängstlich. Ich weiß nicht
genau, aber eigentlich war es ihr Klang, weswegen ich eingewilligt
habe.«
Saga legte die Hände in den Schoß. Äußerlich glich
sie einer gewöhnlichen Achtzehnjährigen, mit dunkelblondem Haar und
blauen Augen, die sehr erwachsen blickten.
»Also bist du hingefahren«, kurbelte Kjell die
Erzählung wieder an.
»Wir haben uns in einem Café in der Sturegatan
getroffen. Sie kam ein wenig zu spät, das heißt, sie kam in vollem
Tempo angerannt. Ich habe sie durch das Fenster gesehen, und als
sie vor mir stand, war sie nicht mal außer Atem. Ihre Haare waren
hier noch ganz feucht, hier hinten. Und irgendwie ist dann
herausgekommen, dass sie beim Friseur gewesen ist. Es hatte wohl
länger gedauert, als sie erwartet hatte.«
Sofi grinste Kjell mit gebleckten Zähnen an. Er
streckte anerkennend den Daumen in die Höhe.
Den Namen des Friseurs wusste Saga leider nicht,
auch an den Namen des Cafés konnte sie sich nicht mehr
erinnern.
»Sie kam aber auf der Sturegatan von Norden her.
Die ist bestimmt von dort gelaufen, weil ihre Arme und ihre Stirn
so geglänzt haben. Denn der Bus hält ja direkt vor dem Café.«
»Was wollte sie denn von dir?«
»Ich war erst total sauer, aber das habe ich ihr
nicht gezeigt. Irgendetwas war mit ihr. Ich habe das ganze
Wochenende überlegt, was das sein könnte. Sie wollte von mir etwas
über Zwangsprostituierte wissen, so ganz allgemein! Ich war erst
sauer, es gibt ja Bücher oder das Internet. Aber sie schien
wirklich nichts darüber zu wissen.«
»Oh«, sagte Barbro. »Eigentlich war eine unserer
Theorien, dass sie selbst so einen Hintergrund hat.«
»Genau das habe ich mir auch überlegt«, antwortete
Saga. »Weil sie ganz komisch dasaß, während sie mir zuhörte.«
»Sprach sie akzentfrei Schwedisch?«, wollte Sofi
wissen.
Saga nickte und blickte interessiert in die Runde.
»Sie sprach gut Schwedisch, aber gesagt hat sie ja nicht viel. Sie
sprach ohne Fehler und ohne Akzent, aber etwas hat gefehlt. Sie
sagte zum Beispiel nie wie wir dauernd ›faktisch‹ oder ›genau‹.
Aber dafür hat sie so typische Wendungen gekannt, die Ausländer
falsch machen.«
»Also klang sie nicht nach südlichen Vororten?
Äußerlich könnte sie ja gut Einwanderin sein.«
»Im Gegenteil. Eigentlich hat sie feinstes
Reichsschwedisch gesprochen, völlig slangfrei.«
»Welchen Eindruck hattest du von ihr als Mensch?«,
fragte Barbro. »Du hast ja gesagt, etwas sei komisch an ihr
gewesen.«
»Erst dachte ich, sie ist so ein reiches
NK-Mädchen, obwohl sie ganz normale Sachen anhatte, Jeans und ein
langärmliges T-Shirt, aber wenn sie es sich leisten kann, in
Östermalm zum Friseur zu gehen! Der Eindruck kam erst, weil sie
nichts von den Problemen in der Welt zu wissen schien. Sie hat gar
nicht so interessiert gewirkt, als ich zu erzählen begann.«
»Wie hat sie sich verhalten?«
»Beherrscht vielleicht, oder abwesend. Das trifft
es eher. Es bereitete ihr Mühe, ihre Aufmerksamkeit
aufrechtzuerhalten.«
»Wie lange hat das Gespräch gedauert?«
»Etwas länger als eine halbe Stunde. Gesagt hat sie
kaum etwas. Sie wohnt irgendwo im Süden der Stadt. Ich weiß nicht
mehr genau, wie wir darauf kamen. Aber sie ist dann nicht mit mir
zum Stureplan zur Bahn gegangen. Sie sagte, sie werde abgeholt, und
ging wieder auf der Sturegatan nach Norden.«
»Abgeholt?«
»Ja, ›ich werde abgeholt‹.«
»Was uns vor allem interessiert, ist ihre
Identität«, sagte Kjell. »Beim Vornamen bist du dir also
sicher?«
Sie nickte. »Den Nachnamen hat sie beim Telefonat
auch gesagt, aber ich habe ihn schon beim Treffen nicht mehr
gewusst. Das war irgendein ganz normaler schwedischer
Nachname.«
Sie beendeten das Gespräch mit Saga. Barbro nahm
sie mit, um ihr Videos mit Autisten zu zeigen, die sie von der
Psychiaterin Frida bekommen hatte. Damit wollte sie testen, ob Saga
eine Ähnlichkeit zu Klara erkannte.
Kjell, Sofi und Henning zogen sich in ihr Zimmer
zurück und schlossen die Tür.
Saga war politisch aktiv. Sie kannte weder Josefin
noch Amelie, auch auf den Bildern hatte sie die beiden nicht
erkannt. Fest stand nur, dass sowohl Amelie als auch Saga Mitglied
der Schwesternschaft waren, denn Saga hatte sich auf den Rundbrief
bei der Schwesternschaft gemeldet, den Kjell Amelie aufgezwungen
hatte.
»Ich habe sie gleich erkannt«, legte Sofi los.
»Neulich war sie bei einer Podiumsdiskussion im Kulturhaus. Das
haben sie vor den Nachrichten im Ersten gebracht.«
»Anscheinend gibt es bei der Schwesternschaft ganz
eigene Kreise«, fand Sofi begeistert. »Saga hat sich ja ganz
bereitwillig gemeldet, die Schwesternschaft scheint in ihren Augen
nichts zu sein, was man vor der Öffentlichkeit verbergen
muss.«
»Wenn Barbro mit ihr fertig ist, fahrt ihr in die
Sturegatan. Ich will wissen, was das für ein Café war und welche
Friseursalons es in der Nähe gibt.«
Sofi stemmte die Hände in die Hüften. »Schwedischer
Name, unschwedisches Aussehen. Das passt doch alles nicht zusammen.
Was soll das für ein Mädchen sein?«
»So eins wie du, Calypso Johansson.«
Sofi hob den Daumen und strahlte wie jemand, der
stundenlang nach seiner Brille sucht und sie dann auf der Nase
findet. »Aber ich habe nicht die Identität von Josefin
übernommen.«
Während die anderen bereits standen, saß Kjell noch
immer da und starrte auf seine Notizen. »Das ist das Einzige, was
wir sicher über das Mädchen wissen. Der Name hingegen ist
unsicher.«
»Er ist ganz sicher falsch«, sagte Henning streng.
»Die Tote hat keine bürgerliche Historie. Es gibt keine
Krankendaten von ihr, kein Bild bei der Ausweisstelle und keine
andere Spur, und niemand in diesem Land vermisst sie.«