59
Sie hatten sich verschätzt, ganz grob sogar. Saga Isaksson wand sich in Hennings Armen. Sie begann zu würgen, und alle stellten sich darauf ein, dass sie sich auf die Tischplatte übergeben würde. Sofi stürzte zur Tür hinaus und rannte den Gang hinunter.
Stark, zielsicher und auf alles gefasst war die Achtzehnjährige zur Tat geschritten. Jedenfalls hatten sie ihr diesen Auftritt abgenommen. Keiner der vier hatte eine solche Reaktion auf den Anblick der Fotos der Toten erwartet, wo sie doch zur harmlosen Sorte gehörten. Die spasmischen Zuckungen erwiesen sich als Weinkrampf, das Würgen hatte nur einige Sekunden gedauert. Henning löste seine Umschlingung, unter der Saga für einige Momente ganz verschwunden war. Sie blieb angespannt sitzen, ihren Rücken durchgedrückt.
Man lernt nie aus, schwirrte es in Kjells Kopf herum, ohne dass er den abgenutzten Gedanken wirklich dachte. Henning wich zurück und stieß sich auf der Suche nach Orientierung mit dem Hintern gegen die Wand. Barbro rückte sich einen Stuhl direkt neben das Mädchen, dessen Augen verrieten, dass sie zur Besinnung kam und sich über ihren Ausbruch genauso wunderte wie die Polizisten.
Sofi brauchte zehn Minuten, um die Hausschwester aus dem Zellentrakt in einem entfernten Gebäude herbeizuholen. Sie untersuchte zuerst Sagas Pupillen und maß zugleich ihren Puls. Dann sagte sie einige Worte, um Kontakt mit Saga aufzunehmen. Sie antwortete klar. Kjell hatte noch nie ein so weißes Gesicht gesehen. Er ging hinüber zu Sofis Schreibtisch. Die Berliner Mauer war gefallen. Das konnte selbst Sofi unmöglich alles gegessen haben. In der Schublade fand er den Rest.
Zu seiner Erleichterung wollte Saga sofort hineinbeißen. Die Schwester hatte ihr eine Spritze verpasst und bestand darauf, dass Saga die Möglichkeit erhielt, sich für einige Minuten hinzulegen und zur Ruhe zu kommen.
Kjell gab Henning einen Klaps, weil der immer noch konsterniert mit dem Hintern an der Wand klebte. Junge Damen in Not waren eines der beiden einzigen Dinge, die Henning einer rokokohaften Ohnmacht nahebringen konnten.
 
Nach einer halben Stunde sah Saga keinen Sinn mehr im Daliegen. Sie nahm wieder am Tisch Platz und schien sich zu schämen.
»Sie ist es also?«, fragte Kjell.
Saga nickte und nippte ohne Unterlass an ihrem Wasserglas.
»Wir haben uns nur einmal gesehen. Aber das ist noch gar nicht so lange her! Ich verstehe gar nicht …«
»Einmal nur?«
Saga leerte ihr Glas und schluckte laut. Von dem Anfall waren ihr offenbar Halsschmerzen zurückgeblieben. Barbro füllte ihr immer wieder nach.
»Sie rief aus heiterem Himmel auf meinem Mobiltelefon an. Ich war gerade bei meinem Freund in Liseberg. Sie wollte sich mit mir treffen, und zwar noch an jenem Nachmittag. Es klang, als wäre sie gerade in der Stadt und sonst nicht.«
»Entschuldigung«, fragte Barbro. »Wann war das?«
»Kann ich einen Kalender haben? Es war auf jeden Fall ein Freitag.«
Barbro holte den Wandkalender aus ihrem Büro. An den fehlenden Ecken sah man, dass sie ihn mit einem Wisch von der Wand gerissen haben musste.
Sagas Augen flogen über den Juli. »Hier, es muss der sechste gewesen sein. Der sechste. Sie hat gegen zwei angerufen.«
»Ihr kanntet euch also vorher gar nicht?
Sie nickte. »Ich wollte erst nicht. Von Liseberg bis in die Innenstadt ist es ja ein ganz schönes Stück.«
»Ich verstehe nicht ganz«, unterbrach Kjell. »Da ruft eine völlig Fremde bei dir an und fragt dich, ob ihr euch sofort treffen wollt. Und du fährst daraufhin in die Stadt.«
Saga wirkte ein wenig verlegen. »Ich bin ja die Vorsitzende der Jungsozis in Stockholm-Stadt. Das ist also nicht sooo ungewöhnlich, dass mich Fremde anrufen. Sie klang auch, als hätte ihr jemand meine Nummer gegeben. Über mich schien sie nicht viel zu wissen.«
»Hast du sie gefragt, woher sie dich kennt?«
»Ich glaubte nicht. Das war, weil sie direkt auf die Sache zu sprechen kam. ›Saga Isaksson vom Frauenausschuss‹ hat sie gesagt. Als ob sie es abläse. Und dann meinte sie, sie müsse mich etwas Wichtiges fragen, ob wir uns sehen könnten. Jetzt gleich sollte es sein, sie sei in der Stadt. Genauer gesagt in Östermalm. Viel mehr haben wir bei dem Telefonat nicht gesprochen. Ihre Stimme klang nur so ernst, oder eher besorgt und ängstlich. Ich weiß nicht genau, aber eigentlich war es ihr Klang, weswegen ich eingewilligt habe.«
Saga legte die Hände in den Schoß. Äußerlich glich sie einer gewöhnlichen Achtzehnjährigen, mit dunkelblondem Haar und blauen Augen, die sehr erwachsen blickten.
»Also bist du hingefahren«, kurbelte Kjell die Erzählung wieder an.
»Wir haben uns in einem Café in der Sturegatan getroffen. Sie kam ein wenig zu spät, das heißt, sie kam in vollem Tempo angerannt. Ich habe sie durch das Fenster gesehen, und als sie vor mir stand, war sie nicht mal außer Atem. Ihre Haare waren hier noch ganz feucht, hier hinten. Und irgendwie ist dann herausgekommen, dass sie beim Friseur gewesen ist. Es hatte wohl länger gedauert, als sie erwartet hatte.«
Sofi grinste Kjell mit gebleckten Zähnen an. Er streckte anerkennend den Daumen in die Höhe.
Den Namen des Friseurs wusste Saga leider nicht, auch an den Namen des Cafés konnte sie sich nicht mehr erinnern.
»Sie kam aber auf der Sturegatan von Norden her. Die ist bestimmt von dort gelaufen, weil ihre Arme und ihre Stirn so geglänzt haben. Denn der Bus hält ja direkt vor dem Café.«
»Was wollte sie denn von dir?«
»Ich war erst total sauer, aber das habe ich ihr nicht gezeigt. Irgendetwas war mit ihr. Ich habe das ganze Wochenende überlegt, was das sein könnte. Sie wollte von mir etwas über Zwangsprostituierte wissen, so ganz allgemein! Ich war erst sauer, es gibt ja Bücher oder das Internet. Aber sie schien wirklich nichts darüber zu wissen.«
»Oh«, sagte Barbro. »Eigentlich war eine unserer Theorien, dass sie selbst so einen Hintergrund hat.«
»Genau das habe ich mir auch überlegt«, antwortete Saga. »Weil sie ganz komisch dasaß, während sie mir zuhörte.«
»Sprach sie akzentfrei Schwedisch?«, wollte Sofi wissen.
Saga nickte und blickte interessiert in die Runde. »Sie sprach gut Schwedisch, aber gesagt hat sie ja nicht viel. Sie sprach ohne Fehler und ohne Akzent, aber etwas hat gefehlt. Sie sagte zum Beispiel nie wie wir dauernd ›faktisch‹ oder ›genau‹. Aber dafür hat sie so typische Wendungen gekannt, die Ausländer falsch machen.«
»Also klang sie nicht nach südlichen Vororten? Äußerlich könnte sie ja gut Einwanderin sein.«
»Im Gegenteil. Eigentlich hat sie feinstes Reichsschwedisch gesprochen, völlig slangfrei.«
»Welchen Eindruck hattest du von ihr als Mensch?«, fragte Barbro. »Du hast ja gesagt, etwas sei komisch an ihr gewesen.«
»Erst dachte ich, sie ist so ein reiches NK-Mädchen, obwohl sie ganz normale Sachen anhatte, Jeans und ein langärmliges T-Shirt, aber wenn sie es sich leisten kann, in Östermalm zum Friseur zu gehen! Der Eindruck kam erst, weil sie nichts von den Problemen in der Welt zu wissen schien. Sie hat gar nicht so interessiert gewirkt, als ich zu erzählen begann.«
»Wie hat sie sich verhalten?«
»Beherrscht vielleicht, oder abwesend. Das trifft es eher. Es bereitete ihr Mühe, ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.«
»Wie lange hat das Gespräch gedauert?«
»Etwas länger als eine halbe Stunde. Gesagt hat sie kaum etwas. Sie wohnt irgendwo im Süden der Stadt. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen. Aber sie ist dann nicht mit mir zum Stureplan zur Bahn gegangen. Sie sagte, sie werde abgeholt, und ging wieder auf der Sturegatan nach Norden.«
»Abgeholt?«
»Ja, ›ich werde abgeholt‹.«
»Was uns vor allem interessiert, ist ihre Identität«, sagte Kjell. »Beim Vornamen bist du dir also sicher?«
Sie nickte. »Den Nachnamen hat sie beim Telefonat auch gesagt, aber ich habe ihn schon beim Treffen nicht mehr gewusst. Das war irgendein ganz normaler schwedischer Nachname.«
Sie beendeten das Gespräch mit Saga. Barbro nahm sie mit, um ihr Videos mit Autisten zu zeigen, die sie von der Psychiaterin Frida bekommen hatte. Damit wollte sie testen, ob Saga eine Ähnlichkeit zu Klara erkannte.
Kjell, Sofi und Henning zogen sich in ihr Zimmer zurück und schlossen die Tür.
Saga war politisch aktiv. Sie kannte weder Josefin noch Amelie, auch auf den Bildern hatte sie die beiden nicht erkannt. Fest stand nur, dass sowohl Amelie als auch Saga Mitglied der Schwesternschaft waren, denn Saga hatte sich auf den Rundbrief bei der Schwesternschaft gemeldet, den Kjell Amelie aufgezwungen hatte.
»Ich habe sie gleich erkannt«, legte Sofi los. »Neulich war sie bei einer Podiumsdiskussion im Kulturhaus. Das haben sie vor den Nachrichten im Ersten gebracht.«
»Anscheinend gibt es bei der Schwesternschaft ganz eigene Kreise«, fand Sofi begeistert. »Saga hat sich ja ganz bereitwillig gemeldet, die Schwesternschaft scheint in ihren Augen nichts zu sein, was man vor der Öffentlichkeit verbergen muss.«
»Wenn Barbro mit ihr fertig ist, fahrt ihr in die Sturegatan. Ich will wissen, was das für ein Café war und welche Friseursalons es in der Nähe gibt.«
Sofi stemmte die Hände in die Hüften. »Schwedischer Name, unschwedisches Aussehen. Das passt doch alles nicht zusammen. Was soll das für ein Mädchen sein?«
»So eins wie du, Calypso Johansson.«
Sofi hob den Daumen und strahlte wie jemand, der stundenlang nach seiner Brille sucht und sie dann auf der Nase findet. »Aber ich habe nicht die Identität von Josefin übernommen.«
Während die anderen bereits standen, saß Kjell noch immer da und starrte auf seine Notizen. »Das ist das Einzige, was wir sicher über das Mädchen wissen. Der Name hingegen ist unsicher.«
»Er ist ganz sicher falsch«, sagte Henning streng. »Die Tote hat keine bürgerliche Historie. Es gibt keine Krankendaten von ihr, kein Bild bei der Ausweisstelle und keine andere Spur, und niemand in diesem Land vermisst sie.«
Die Falsche Tote
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