20
Henning Larsson verriegelte den Wagen mit einem Piep und blickte an der Fassade des alten Rundturms hinauf. Die Justizkanzlei lag an der Nordspitze von Riddarholmen mitten im Fjord. Henning fühlte eine Wesensverwandtschaft mit dem Turm, der der Sage nach an der Stelle stand, wo einst die auf dem Wasser treibende Holzplanke an Land getrieben war. Das hatte Stockholm seinen Ursprung und seinen Namen eingebracht. Trotz der vier Etagen wirkte der Turm breit und gedrungen, weil er zu beiden Seiten von stattlichen Gebäuden umschlossen wurde. Das gelbe Haus, das an den Turm anschloss, gehörte auch zur Kanzlei.
Wenn es möglich war, kam Henning immer durch die Hintertür. Deswegen hatte er hier am Ufer geparkt und musste jetzt eine enge Steintreppe hinaufsteigen, um zum Eingang zu gelangen. Die Holztür war nicht verschlossen, aber als Henning die Eingangshalle betrat, bremste ihn eine Panzerglaswand, die die Halle in einem Viertelkreis durchschnitt. Er hatte nicht damit gerechnet, hier eine Baustelle vorzufinden. Der Boden war mit Pappe bedeckt, und vor den Türen hingen Schutzfolien, die den Baustaub davon abhalten sollten, in alle Räume zu ziehen. Es roch nach feuchtem Mörtel. Aus dem Turm drang der Krach einer Kreissäge.
Henning wandte sich dem kleinen Fenster in der Wand zu. Dahinter lag die Kammer für Post und Rezeption. Henning konnte keinen Menschen entdecken und klopfte gegen die Glaswand, erst mit dem Knöchel seines Zeigefingers und bald mit der flachen Hand. Nichts rührte sich. Als er gerade in Versuchung geriet, sich über die Ausgabe von Dagens Industri herzumachen, die auf dem Wartetisch lag, huschte jenseits der Glaswand eine Frau vorbei. Henning hüpfte wie ein Kind, das aus dem Kindergarten abgeholt werden will.
Die Frau schrak zusammen und eilte zur Tür. Henning hielt ihr seinen Ausweis hin.
»Entschuldigung! Im März ist ein Verrückter mit einem langen Messer drüben durchs Hofgericht gelaufen. Da haben auch wir hier eine Scheibe bekommen. Ludmilla Kaleberg. Ich führe die Kanzlei.«
Sie gaben sich die Hand.
»Wir sind alle unten im Keller«, fuhr Ludmilla fort. »Da hören wir dich natürlich nicht.« Sie reichte ihm die Hand und führte ihn zur Wendeltreppe.
Es herrschte mittelalterliche Enge. Der Baulärm allein genügte, einen in den Wahnsinn zu treiben, dachte Henning, nun kamen noch die schlechten Nachrichten dazu. Auf der Treppe musste er sich zur Seite drehen, ducken und bücken wie eine Schrankwand beim Umzug. Er fragte sich, was aus Schweden würde, wenn die Regierung einen wie ihn zum Justizkanzler ernannte. Er wäre unbestechlich, könnte aber sein Büro nicht betreten. Am Ende des Kellers drang schwaches Licht aus einem runden Durchgang.
»Das ist unser Archiv.«
Mit eingezogenem Kopf folgte Henning in das niedrige Gewölbe. Obwohl das Gebäude so nah am Wasser stand, roch es hier unten wie in einem stickigen Dachstuhl. Sieben Leute, beinahe die Hälfte der Belegschaft, standen, saßen oder knieten vor den Regalen und waren in Akten vertieft. Rosenfeldt stand lesend da. Zwischen seinen Scheitel und die Decke passte gerade eine flache Hand.
»Was ist geschehen?«, fragte Henning. »Was habt ihr herausgefunden?«
»Wir glauben, dass Josefin hier unten gewesen ist«, sagte Rosenfeldt mit großer Konzentration. Um seine Augen lagen trichterförmige Schatten. »Jonas erinnert sich, dass er an jenem Tag Licht im Keller gesehen hat.«
Ein junger Mann, der dicht vor einem Regal auf dem Boden kniete, nickte und stand auf. »Ich bin der Referent. Mein Büro liegt unten im Erdgeschoss. An jenem Tag haben nur vier Leute gearbeitet. Bei der Treppe schien Licht herauf, als ich vorbeiging. Ich dachte erst, jemand hätte es aus Versehen angelassen. Bevor ich das Licht ausschaltete, hörte ich jedoch Geräusche.«
»Hast du sie denn gesehen?«, fragte Henning.
»Ich bin ihr an dem Tag überhaupt nicht begegnet.«
»Das kam erst vorhin raus«, erklärte Rosenfeldt. »Wir haben versucht, die Zeit ihres Besuches zu rekonstruieren. Niemand von uns war an diesem Tag hier unten.«
»Und die Bauarbeiter?«
»Die arbeiten im Turm und schaffen einen Durchgang zum Hauptgebäude.«
»Und ihr glaubt, dass sie im Archiv gewesen ist? Ist das eure Entdeckung?«
»Nein, das ist die Schlussfolgerung. Komm mit.«
Henning folgte Rosenfeldt die Wendeltreppe hinauf in das Obergeschoss. Rosenfeldt erklärte ihm, dass der angrenzende Turm bisher noch gar nicht genutzt wurde. Erst wenn die Arbeiten fertig waren, würde er sein Arbeitszimmer dorthin verlegen. An seinem jetzigen Büro war nur die Aussicht auf das Stadthaus und die Westbrücke in weiter Ferne spektakulär. Rosenfeldt rief Ludmilla Kaleberg und bot Henning mit einer Geste an, auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Auch Rosenfeldt setzte sich. Er nahm das aufgeschlagene Ringbuch, das vor ihm lag, und drehte es zu Henning.
»Das hier ist mein Kalender.«
Die Doppelseite war in fünf Spalten für die Arbeitstage der kommenden Woche gegliedert. Sie waren alle leer, nur der Montag war belegt von einem Eintrag, der nur aus einem Wort bestand: Jossan.
»Ist das ihre Handschrift?«
Rosenfeldt nickte.
»Sie war kurz im Büro«, sagte Ludmilla. »Nur da kann sie es eingetragen haben.«
Rosenfeldt deutete auf den Kalender. »Ich wollte am Sonntag zurückkommen. Für die erste Woche waren keine Termine vorgesehen.«
»Ist es denn üblich, dass sie Termine mit dir vereinbart?«
»Überhaupt nicht. Sie muss nur anrufen, wenn sie mich sehen will, oder kann einfach vorbeikommen. Das ist der offizielle Kanzleikalender. Sie würde ihn nie anrühren. Wir befürchten, dass sie erpresst worden sein könnte und Daten entwendet hat.«
»Kennt sie sich denn dort unten aus?«
»Leider ja«, antwortete Rosenfeldt. »Sie hat ein Praktikum gemacht und hilft gelegentlich in der Registratur aus, wenn wir jemanden brauchen. Es gibt noch zwei Angestellte mit studierenden Kindern, und wir bevorzugen aus Gründen der Diskretion immer Aushilfen, die wir kennen.«
»Heißt das, dass wir ihre Fingerabdrücke auf jeden Fall dort unten finden werden?«
Rosenfeldt nickte.
Henning blickte auf den Kalender und blätterte zur folgenden Woche weiter. Dort gab es schon einige Termine. »Entwendet? Kann sie nicht auch etwas kopiert haben?«
»Der Kopierer steht oben«, sagte Ludmilla. »Das hätten wir bemerkt.«
Henning spürte, wie sich ein Druck von allen Seiten auf seinen Brustkorb legte. Er hatte sich verschätzt. »Ich glaube es nicht.«
»Dass sie etwas entwendet hat?«
Henning nickte und tippte auf Josefins Eintrag im Kalender. »Ihr solltet lieber prüfen, ob sie etwas hinzugefügt hat.«
Die Falsche Tote
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