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Dann wollen wir mal sehen, murmelte Barbro und
ratterte mit dem Zeigefinger über alle zwölf Lichtschalter. Zwölf
fünfzig Meter lange Bahnen von Neonröhren flackerten auf. Vor ihr
lagen mehrere tausend Quadratmeter Archiv. Barbro schlenderte
zwischen den ersten beiden Regalreihen entlang. Sogleich stellte
sich das schöne Ikea-Gefühl ein, wenn man das Regal im Abhollager
sucht, das man sich zuvor in der Ausstellung ausgewählt hat. Barbro
war zwar selbst noch nie dort gewesen, konnte es sich aber gut
vorstellen.
J-997-1984. Sie war ja schon einmal hier gewesen
und hatte eine grobe Orientierung über die Anordnung der Akten. Das
war gleich an dem Tag gewesen, als sie zur Kriminalpolizei versetzt
worden war. Barbro war ins Archiv gegangen, um mit Hilfe von Akte
S-163-1990 noch einmal das geglückte Wochenende vom 18. August 1990
Revue passieren zu lassen. Papas schrottreifer Mercedes am
Kungsträdsgården, ihre zweite und letzte Dauerwelle. Sie war
Madonna modisch immer schon einen Schritt voraus gewesen, und was
Männer anging, natürlich auch. Den Führerschein hatte sie dann erst
vier Jahre später machen dürfen, und obwohl sie ja mit sechzehn
schon Fahrpraxis gesammelt hatte, waren es dann doch fünf geworden,
weil sie einmal durchgefallen war.
In Schlangenlinien umrundete sie vier Regalreihen,
bis sie die Stelle fand. Diese Akten wurden in Verwahrung genommen,
sobald der Protagonist die Volljährigkeit erreichte, und normale
Polizisten erfuhren bei einer Kontrolle nichts davon. Die
Kriminalpolizei wurde allerdings über einen U1-Vermerk darauf
hingewiesen, doch mal hier unten nachzusehen.
Jugendakten hatten einen wunderbaren Vorzug. Es gab
darin stets ein psychologisches Gutachten, das mit einer Biografie
begann. Barbro zog sich scheppernd das Höckerchen ans Regal und
streckte sich nach dem Karton 997. Stavros Jernberg hatte eine sehr
dicke Akte. Das war erstaunlich, wenn man bedachte, dass er seit
seinem sechzehnten Lebensjahr überhaupt nicht mehr mit der Polizei
in Berührung gekommen war.
Nachdem sie drei Zeilen gelesen hatte, fand sie die
Erklärung dafür, warum er Stavros hieß und in Athen geboren
war.
Er war nicht der Sohn von Yngve Jernberg.
Stavros Jernberg war der Sohn des griechischen
Ehepaares Eleni und Ionnis Valliakis. Im Jahr 1974 gab es einen
Einschnitt im Leben des damals fünfjährigen Jungen. Die
Militärdiktatur brach in Griechenland zusammen. In den Jahren davor
hatten es sich die Eltern so gut gehen lassen, dass der Tod des
Vaters für die Griechen wohl eine Voraussetzung für eine
demokratische Zukunft gewesen war. Die Mutter kam für zwei Jahre
ins Gefängnis. Stavros lebte erst bei seiner Großmutter und ein
Jahr später nach ihrem Tod noch ein Jahr lang in einem Athener
Kinderheim. Nach ihrer Entlassung nahm die Mutter das Kind wieder
zu sich. Auf diese beiden Jahre hatte sich die Psychologin
natürlich mit Freude gestürzt und gleich vier Seiten darüber
geschrieben, die Barbro jetzt alle lesen musste, bis sie endlich
zum entscheidenden Punkt kam. 1981 reiste der unverheiratete und
kinderlose schwedische Unternehmer Yngve Jernberg nach Griechenland
und verliebte sich in die Kellnerin Eleni, die damals erst Ende
zwanzig gewesen war, Jernberg hingegen schon zweiundfünfzig. Die
beiden heirateten noch im selben Jahr. Jernberg adoptierte Stavros,
nahm Frau und Kind mit nach Stockholm, wo Stavros als Athener
Straßenjunge noch in der ersten Woche alle Östermalmer Elfjährigen
dazu brachte, ihre reichen Eltern zu beklauen, um das Schutzgeld
aufbringen zu können. Dass auch ältere Kinder bezahlt hatten,
zeigte, wie gut die Ausbildung in dem Athener Kinderheim gewesen
war. Zudem war 1981 das Schutzgeldgeschäftsmodell in Schweden auch
noch New Economy gewesen.
Stavros, der mittlerweile Jernberg hieß, hatte drei
Jahre lang gute Einnahmen, bis die ersten Eltern sich über all das
fehlende Geld und all die fehlenden Dinge in ihren Wohnungen zu
wundern begannen. Yngve Jernberg, letztes Glied einer sehr alten
und für ihren strengen Protestantismus berühmten Östermalmer
Millionärsfamilie, reagierte bei seinem ersten Besuch auf der
Polizeistation völlig fassungslos und erstellte als
Versicherungsagent noch am selben Abend eine Schadensliste, um den
Schaden noch vor Mitternacht wiedergutzumachen. Von da an hörte die
Polizei nichts mehr von Stavros. Man nahm an, dass er bei Yngve das
protestantische Programm durchlief, jedenfalls beurteilte die
Psychologin den Jungen ein Jahr später als geheilt, solidarisch und
menschenfreundlich. All das hatte sich in unmittelbarer
Nachbarschaft zu der kleinen Barbro mitten in Östermalm abgespielt,
mit dem Unterschied allerdings, dass es bei den Setterlinds
umgekehrt gewesen war. Hier war der Vater der Skrupellose.
Das alles stand in einem starken Kontrast zu den
Informationen, die Barbro bisher über die Folgejahre hatte sammeln
können. Nach dem Abitur hatte Stavros Jernberg in Oxford Ökonomie
studiert, und zwar in Rekordzeit. Oxford war ein guter Platz, viel
Geld für eine überschätzte Ausbildung zu bekommen. Barbro konnte
das nach einem sechswöchigen Blitzbesuch sagen, der ihrer Bewerbung
bei der Polizei vorausgegangen war. Trotz Oxford war aus Stavros
ein guter Unternehmer geworden. Yngve hatte ihm zur Mitte der
Neunzigerjahre die Führung der Agentur übergeben und sich mit Eleni
auf eine griechische Insel zurückgezogen. Wo die beiden genau
lebten und ob sie noch am Leben waren, hatte Barbro nicht
herausbekommen, weil schwedische Staatsbürger sich im Ausland nicht
bei der Botschaft anmeldeten. Bis die griechische Polizei auf ihre
Anfrage antwortete, würde sie wohl ein bisschen warten müssen. Sie
nahm das Telefon und rief Kjell an.