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Freitag, 10. August
Die Gruppe traf sich um halb neun zur
Frühbesprechung. Sofi war von ihrer Besichtigungstour durch die
Sturegatan zurückgekehrt. Nördlich des Cafés hatte sie nur einen
Friseursalon ganz oben an der Kreuzung Karlavägen gefunden. Das war
rund dreihundert Meter vom Café entfernt. Während sie und Saga ihre
Gesichter gegen die Scheibe gedrückt hatten und Sofi mit der
Taschenlampe hineinleuchtete, waren auf einmal zwei
Schutzpolizisten hinter ihnen aufgetaucht und hatten die beiden ein
bisschen in die Mangel genommen, weil Sofi ihren Ausweis im Büro
vergessen hatte.
Inzwischen konnten sie sicher sein, dass es sich um
diesen Salon handelte. Bei dem Versuch, aus der Anruferliste von
Sagas Telefon Klaras Nummer herauszubekommen, waren sie nur auf die
Nummer dieses Salons gestoßen. Das Mädchen musste von dort
angerufen haben.
»Immerhin wissen wir jetzt, von wann bis wann sie
da war«, sagte Kjell. »Sie hat sich also für das Thema
Zwangsprostitution interessiert. Bei Josefin können wir das leider
nicht so eindeutig sagen. Bei ihr haben wir zwar Frauenliteratur
gefunden, aber über dieses Thema war nichts Besonderes
dabei.«
Die Psychiaterin sah keinen Widerspruch darin, dass
das Mädchen aus dem Begriff der Zwangsprostitution selbst nicht
ableiten konnte, was sich dahinter verbarg. Wenn sie wirklich
Autistin war. Das allerdings hielt Frida Bergman in Anbetracht
dieses Themas für nicht mehr so sicher. Henning hatte kurz zuvor
mit ihr telefoniert und las das Fazit der Ärztin von einem gelben
Zettel ab. »Wenn sie irgendwo in Osteuropa auf dem Land
aufgewachsen ist, von dort verschleppt und später befreit wurde,
dann ist sie in dieser Hinsicht ungebildet. Auch wenn sie die
Zwangsprostitution oder etwas Ähnliches erlebt hat, kennt sie es
nicht als politisches Thema. Ein solches Erlebnis allerdings kann
zu einer Traumatisierung führen, die man leicht mit Autismus
verwechseln kann.«
»Sie wusste auch nichts über Island«, fügte Sofi
hinzu. »Sesselja hat doch von ihrem Interesse berichtet.«
»Woher kann sie als rumänisches Landmädchen denn
Reichsschwedisch?«, wollte Kjell wissen.
Henning legte seinen Zettel auf den Tisch. »Wer
Schwedisch als Fremdsprache lernt, lernt Reichsschwedisch.«
Sofi griff nach dem Zettel und überflog Fridas
Einschätzung noch einmal. »Zählt man alle Gespräche zusammen, die
sie mit Sesselja und mit Saga geführt hat, dann hat sie nicht mehr
als zehn Sätze gesagt. Die kann sie vorbereitet haben.«
Als Nächste war Barbro an der Reihe. Dem
Pressedienst war es nicht gelungen, den Roman ›Wohin man sich
sehnt‹ in einem Buchgeschäft zu besorgen. Jemand hatte zum
Großlager hinausfahren müssen. Weil deshalb die Zeit knapp wurde,
hatte Barbro die Lektüre übernommen. Kjell war ein ausgesprochen
langsamer Leser, Barbro sprach sogar von Lahmarschigkeit. Dabei las
er im selben Tempo wie alle, die meist komplizierte Fachtexte
lasen. Barbro hingegen flog in großer Geschwindigkeit über die
Seiten. Wie es so noch Spaß machen sollte, konnte Kjell sich nicht
vorstellen. Schließlich wollte man eine Romanszene nicht nur zur
Kenntnis nehmen, sondern sie auch erleben. Einige seien eben auch
beim Erleben lahmarschig, fand dagegen Barbro.
»Der Roman bringt uns nicht viel Neues«, begann sie
ihr Referat. »Er spielt in Söder und auf Långholmen in einer
unbestimmten, aber ganz nahen Zukunft, wo Södermalm aufgrund
mehrerer Legislaturperioden der Moderaten zu einem Slum verkommen
ist. Der Staat ist privatisiert, auch die Polizei. In Söder gibt es
eine Form der Zwangsprostitution, nur dass es keine entführten
Russinnen mehr sind, sondern schwedische Mädchen aus der
Unterschicht, zu der viele Schweden gehören. Es ist ein sehr
poetisches Buch mit einer Liebesgeschichte, die sogar mich
erschüttert hat.«
»Hat sie Ähnlichkeit mit der von Aisakos und
Hesperia?«, fragte Sofi.
»Ein Mädchen aus der Oberklasse verliebt sich in
ein Mädchen aus den Slums.«
»Mädchen und Mädchen?«
Barbro nickte. »Aber Oskar schließt es für Josefin
aus.«
»Wie kann er sich da sicher sein?«, fragte
Sofi.
»Sie ist nur wegen dieses Jungen nach Frankreich
mitgefahren, von dem Rosenfeldt uns neulich erzählt hat. In ihn ist
sie laut Oskar ein bisschen verliebt.«
Clément hatten sie geprüft. Er wohnte gleich neben
dem Haus der Rosenfeldts in Saint Malo. Rosenfeldt hatte angerufen,
um zu erfahren, ob Clément irgendetwas von Josefin erfahren hatte.
Das war aber nicht der Fall. Nur seine Mutter beschwerte sich, dass
Clément seit Josefins Abreise gelangweilt in seinem Zimmer
vegetierte.
»Wie ich euch gesagt habe«, knurrte Henning. »Ihr
solltet mit eurer Philologie aufhören.«
»Na ja«, erwiderte Barbro. »Soll ich euch mal was
Unheimliches erzählen? Ratet mal, wie das Buch heißt, das Ylva
Karlsson vor diesem hier geschrieben hat.«
Kjell überbrückte die von Barbro vorgegebene
Ratezeit, indem er sich Kaffee nachschenkte. Sofi arbeitete an
ihrem Lebensprojekt »Die längste Liste der Welt«, und Henning
schielte auf die Sportergebnisse.
»Es heißt ›Josefin, Horisontvägen 29‹.«
Alle glotzten und schwiegen.
»Im Ernst. Ich habe schon geschaut, ob es auf Sofis
Leserliste jemanden gibt, der in diesem Haus wohnt. Das ist aber
nicht der Fall.«
»Wovon handelt das Buch?«
»Ein junges Mädchen, viel jünger als die Figuren in
unserem Drama hier, lebt mit seiner Mutter in diesem Haus und wird
erwachsen. Dieses Buch hat noch weniger Bezüge, aber der Titel ist
doch verwunderlich. Ich weiß auch nicht, wie man das deuten
soll.«
»Das ist doch klar«, meinte Sofi. »Nimm an, du
wohnst im Horisontvägen. Wenn ein solches Buch erscheint, dann
würdest du es doch lesen, oder? Wenn dir das Buch gefallen hat,
dann willst du vielleicht auch das nächste von dieser Autorin
lesen, auch wenn das nicht mehr in Skarpnäck spielt. Das ist aber
schwer zu bekommen, also fährst du zu Bokmagasinet. Das liegt in
der Hornsgatan in Södermalm, genau dort also, wo der Roman spielt.
Das ist doch eine naheliegende Idee, oder?«
Kjell nickte. »Daran ist also nichts Mystisches.
Interessant für uns ist, dass wir über zwei Wege auf Skarpnäck
gekommen sind.«
Henning räusperte sich. »Obwohl ich die Literatur
liebe wie kein zweiter, möchte ich auf ein kleines Problem
hinweisen. Es gibt in Skarpnäck eine Josefin und zwei Klaras. Keine
von ihnen ist unter fünfzig.«
»Also Aisakos«, folgerte Sofi. »Er hat Klara oder
vielleicht Josefin den Gedichtband geschenkt, den wir in Josefins
Zimmer gefunden haben. Und vielleicht auch diesen ersten Roman. Das
hat ihr gefallen, also ist sie losgezogen, um sich den nächsten
Roman zu kaufen und noch mehr Gedichtbände.«
Barbro fand das einleuchtend, denn die Dichterin
Ylva Karlsson hatte viele solcher Gedichte in ihre Romane
eingebaut.
»Dann lässt du unsere dreißig Assistenten mit dem
Bild von Aisakos durch Skarpnäck ziehen«, beschloss Kjell. »Und die
anderen Bilder zeigen sie am besten auch gleich herum. Henning, du
fährst mit Per raus und nimmst dir die Wohnungen vor. Es ist
besser, wenn das ein erfahrener Polizist macht. Sofi und Barbro
kümmern sich um die Friseurspur. Ich hole für Henning die
Beschlüsse und bereite die Pressekonferenz vor.«
»Gibt es schon einen Termin?«, fragte Barbro.
»Gegen neun live in Aktuellt. Ich bin eher
dagegen, aber Sten hat Druck vom Justizministerium bekommen.«
»Aber was willst du erzählen?«
»Dass die JK-Tochter weg ist und die Tätigkeit des
JK deshalb ruht. Das wird die Schweden bestimmt
interessieren.«