17
An Schultagen kam Linda täglich an diesem Haus
vorbei. Oft hielt sie, um im Kiosk etwas zu kaufen. Amelie wohnte
am Kungsbrostrand direkt am Kanal, der Kungsholmen von der
Innenstadt trennte. An der Vorderseite erhob sich gleich das
Felsmassiv mit der langen Treppe. Amelies Wohnung ging jedoch nach
hinten raus, und man blickte dorthin, wo die Stadt bei Tage am
hässlichsten war. Doch jetzt in der Dämmerung boten die Gebäude des
Bahnhofs und die breite Schneise mit den wegführenden Gleisen eine
spannende Aussicht, weil Tausende von Lampen schön gelb leuchteten
wie eine belgische Autobahn bei Nacht.
Dass ausgerechnet Amelie sie ins Herz schließen
würde, hätte Linda nicht erwartet. Sie war sich außerdem noch gar
nicht sicher, ob Amelie überhaupt eines hatte. Wenn ja, dann schlug
es ganz langsam oder nur auf ausdrücklichen Befehl von Amelie. Am
Mittag waren sie zu viert zum Riche gelaufen. Allein hätte
sich Linda nie in ein solches Lokal getraut. Anscheinend gingen die
anderen oft dorthin und waren hochwillkommen. Das Riche
machte auf Kunst und Design und war froh, dass unter all den
Stureplan-Hochstaplern auch mal echte Künstler waren. So hatte
Amelie es ihr erklärt und Linda mit dem Hinweis auf Spezialpreise
beruhigt, die sie dort bekamen. Lucie hatte während der
Mittagspause nur gejammert und geraucht. Linda fragte sich, wie
viele Schicksalsschläge und Depressionen gleichzeitig in einem
Menschenleben stattfinden konnten. Amelie hatte Linda mit den Augen
signalisiert, dass sie Lucie auf keinen Fall zuhören durfte.
Um sechs Uhr war Amelie zu Linda getreten und hatte
gesagt, dass sie jetzt aufhören solle, auch wenn die anderen noch
arbeiteten. Linda war dankbar gewesen, weil man am ersten Tag ja
nicht wusste, wann man gehen darf. Fornell war irgendwann einfach
verschwunden. Linda hatte Amelie gefragt, wo ihre Bilder denn
seien, denn im Gegensatz zu den anderen gab es an Amelies Platz nur
das Bild, an dem sie gerade arbeitete. Da verwunderte sie Linda mit
einer Einladung nach Hause.
Amelie stellte Spaghetti in das sprudelnde Wasser.
»Komm. Du kannst herumgehen und die Bilder ansehen.«
Linda folgte ihr ins Zimmer. Amelie in Strümpfen zu
sehen, machte sie menschlicher. Mit ihren schwarzen Stiefeln war
auch viel von ihrer Härte im Flur zurückgeblieben. In der Wohnung
dominierte helles Holz. Zuhause war Amelie also nicht so
schwarz-weiß-rot wie draußen in der Welt. Die Auffälligkeit, mit
der sie dort unter allen anderen hervorstach, ließ sich am Abend
abschminken und ausziehen, das wurde Linda nun klar.
»Alle Männer sehen dich auf der Straße an«, sagte
Linda, als sie ein Selbstporträt von Amelie mit ausgestreckten
Armen von sich hielt. »Sogar von der gegenüberliegenden Seite der
Kreuzung sehen sie herüber. Auch die Frauen.«
Das interessierte Amelie jetzt ebenso wenig wie auf
der Straße. Jedenfalls tat sie so. Sie zwang sich zu einem Lächeln,
als hätte ihr jemand eine Mülltüte in die Hand gedrückt.
Es gab noch ein anderes Zimmer mit einem
ungemachten Bett darin. Als Linda das drei Meter breite, aber nur
einen halben Meter hohe Bild an der Wand sah, begriff sie, dass
Amelie es ihr als Antwort auf ihre Bemerkung zeigen wollte. Auch
hierauf war Amelie zu sehen. Sie lag in einem Sommerkleid auf einer
Wiese, ungeschminkt und mit naturbraunem Haar, und hundert Jahre
jünger. Zwei weiße Schmetterlinge verfolgten einander um Amelies
Kopf herum. Linda grinste.
Im anderen Zimmer klingelte ein Telefon. Amelie
lief hinüber. Linda betrachtete noch ein wenig das Bild und sah
sich dann im Zimmer um. Der Kleiderschrank stand offen. Amelies
Kleidung war ganz aus einem Guss. Anscheinend blieb sie ihrem Image
immer treu. Auch die Bettwäsche war rot und schwarz, und über dem
Bett hing ein Poster mit zwei jungen Frauen, die es an Härte mit
Amelie aufnehmen konnten.
»Schlag zurück«, las Linda laut und zackig den
Slogan darauf. Sie kapierte jedoch nicht, gegen wen die vierte
Schwesternschaft zurückschlagen wollte, und trat hinaus in den
Flur. Amelie hatte noch den Hörer am Ohr und blickte so eigenartig,
dass Linda gleich in die Küche weiterging, um nach den Nudeln zu
sehen. »Auf keinen Fall«, hörte sie Amelies Stimme. »Das ist mir zu
gefährlich. Götgatan 124, Vierter Stock, letzte Wohnung.
4193.«
Linda goss die Nudeln in das Sieb im Waschbecken
und drehte den Wasserhahn auf.
Beim Essen erzählte Linda, wie sie sich bei Fornell
beworben hatte. Im Anschluss lachte Amelie laut. Darauf war Linda
gar nicht vorbereitet, dass Amelie so lachen konnte. Ohne zu
wissen, was daran so lustig war, ließ sie sich anstecken.
»Hast du mal auf die Internetseite der Akademie
geschaut?«
Linda konnte auf Anhieb gar nicht sagen, wann sie
zum letzten Mal überhaupt auf eine Internetseite geschaut hatte,
und kam sich blöd vor.
»Du musst deine Bewerbungsmappe zusammen mit den
Anträgen und Zeugnissen und deinem Lebenslauf zu einem gewissen
Termin ans Sekretariat schicken. Dann hängen sie die Bilder auf,
und eine Jury entscheidet schließlich, wer aufgenommen wird. Amelie
erzählte Geschichten von der Bewerbungswoche, die lustig klangen,
aber nicht gerade ermutigten. Eine abgelehnte Bewerberin war
gekommen, hatte ihre Bilder zerrissen und die Jury angeschrien:
»Ihr seid richtige Säue! Am besten wäre es, wenn ihr euch einer
nach dem anderen aufhängt! Ihr könnt Scheiße nicht mal von Kunst
unterscheiden, wenn man ein Schild draufklebt.«
»Hej!«, hatte Linda auf einen kleinen Zettel
geschrieben, sie hoffe, dass Fornell die Bilder gefielen, und ihm
alles in sein Büro geschickt, ohne sich Gedanken zu machen. Fornell
hatte noch in derselben Woche angerufen.
»Normalerweise bringt er solche Mappen gleich zum
Müllschlucker«, behauptete Amelie.
»Dann hab ich ja Glück gehabt! Das war mir
überhaupt nicht klar.«
»Das darfst du nie denken. Mit Glück hat das
überhaupt nichts zu tun.«
Linda wollte gerade beginnen, über diese Bemerkung
nachzudenken, als es draußen krachte. Sie sah Amelie
zusammenzucken.
»War das hier im Haus?«, fragte Amelie und stürmte
zum Fenster.
»Nur in der Nähe, glaub ich. Am Stadthaus
vielleicht.«
Amelie schaltete das Licht aus. Sie warteten auf
den nächsten Blitz. Er kam bald und leuchtete das ganze Zimmer aus.
Der Donner erschallte im selben Augenblick.
»Natürlich ist das hier. Genau über uns! Ich
…«
Den Rest verstand Linda nicht. Regen trommelte
gegen die Fenster. Linda blickte einige Sekunden zur Scheibe, dann
schrie sie auf.
»Was ist?«, fragte Amelie. »Hast du Angst?«
»Ich hab meine Matratze und meine Decke auf dem
Balkon vergessen!«
»Na, die kannst du vergessen.«
»Brauchst keine Angst haben, Emmi!«, Barbro hielt
ihre Tochter im Arm. Gemeinsam standen sie am Fenster und
beobachteten, wie Wind und Regen immer wieder die Richtung
wechselten.
»Ängstlich wirkt sie aber nun nicht«, brummte
Henning, ohne vom Weltkartenpuzzle auf dem Tisch aufzublicken. Der
erste Teilerfolg stand unmittelbar bevor, der Antarktisküste fehlte
nur noch ein Teilchen. Henning hatte also wirklich Wichtigeres zu
tun, als sich ein Gewitter anzuschauen.
Barbro setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm
Emmi auf ihren Schoß. An Schlafen war bei ihr vorerst nicht zu
denken. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt ganz und gar dem Puzzle,
oder besser der Frage, wie sie es zerstören konnte. Sie begann zu
zappeln, und Barbro legte das Puzzleteilchen genervt wieder auf die
Tischplatte zurück. Stattdessen griff sie nach ihrem
Mobiltelefon.
»Wie oft hast du es heute schon probiert?«, fragte
Henning.
»Hundert Mal.«
Barbro ließ es tuten.
»Gib’s auf.«
Es knackte in der Leitung.
»Oskar?«