21
Linda nahm immer zwei Stufen auf einmal. Das half jedoch nichts. Frau Jansson hatte die Tür ihrer Wohnung schon aufgerissen. Sie überfiel ihre Nachbarn gern im Treppenhaus mit einem Schwätzchen.
»Ist denn schon wieder Schule, lieber Himmel?«, rief sie, als hätte das auch nur den geringsten Einfluss auf ihr Dasein als pensionierte Witwe, nicht mal der Weihnachtstermin war ja für sie von Bedeutung. Die zwei Stunden alte Dauerwelle klebte an ihrem Kopf wie das Profil an einem Winterreifen.
»Heute ist doch Samstag, Frau Jansson!«
Wer die Treppen nahm, musste im Ersten an der Einsamkeit von Frau Jansson vorbei. Sie lauerte gerne hinter der Tür. Linda hoffte, dass sie dort bleiben und das Schauspiel draußen verpassen würde. Papa würde sonst alles von ihr erfahren.
Manchmal rannte Frau Jansson aus heiterem Himmel aus dem Haus und blieb erst am Ufer stehen, wo sie wie eine Wikingerehefrau die flache Hand vor die Stirn hielt, um weiter spähen zu können. Linda hatte oft überlegt, was das für einen Sinn haben könnte, denn Frau Janssons Wohnung lag ja im Ersten, vom Küchenfenster aus hatte sie genau dieselbe Aussicht. Sie blickte immer hinüber nach Essingen. Das lag fast einen Kilometer entfernt, da war es völlig egal, ob sie noch zehn Meter draufgab. Das war, wie mit einem Fernglas in die Sterne zu blicken. Linda konnte ein Lied davon singen. Zum zehnten Geburtstag hatte sie sich ein Teleskop gewünscht. Damit war sie sofort aufs Dach geklettert und hatte zum Himmel geblickt. Die Sterne waren winzige Punkte geblieben. Das Leben ist eine Reihe von Enttäuschungen, hatte ihr angetrunkener Opa gelallt, obwohl er selbst nie eine eingesteckt hatte.
Im Vierten lauerte oft noch eine weitere Gefahr. Das war Frau Linusson. Sie hatte sich vor zwei Jahren ein mehrbändiges Lexikon aufschwatzen lassen, das ihr seitdem auf all ihre Fragen an das Leben antwortete. Auch über Frau Jansson wusste Frau Linusson Bescheid. Sie hatte das Lexikon wie immer bei A aufgeschlagen und nach etwas gesucht, was Frau Jansson möglichst ähnlich war. Sobald sie etwas fand, schlug sie das Lexikon zu. Was Frau Jansson betraf, stand sie mit dem brasilianischen Macumba-Zauber in Verbindung. Linda hatte Frau Linusson angespornt, noch ein wenig über den Buchstaben M hinauszublättern, vielleicht könnten die Einträge »Neurose«, Psychose« oder vielleicht sogar »Wahnsinn« auch noch in die engere Wahl genommen werden, wenn es schon keinen Eintrag für Einsamkeit gab, was ein schwedisches Lexikon zur Farce machte. Frau Linusson hatte dies geprüft und verworfen. Frau Jansson ging jeden Samstagmorgen los und kehrte mit einem gefrorenen Hühnchen zurück. Und unter »Neurose« kamen keine Hühner vor, im Macumba seien Hühner gang und gäbe. Den beiden Pensionärinnen konnte sich in diesem Haus niemand entziehen, denn Frau Lemmason, wie Papa sie inzwischen nannte, wischte jeden Dienstag das Treppenhaus feucht durch und klingelte danach bei allen zum Abkassieren. Seit sie das Lexikon besaß, hatten alle Bewohner die vierzig Kronen schon abgezählt auf der Kommode liegen, damit an der Tür keine zum Reden einladende Stille entstand. Dennoch fand Papa, dass man sich Frau Lemmasons Metaphysik nicht entziehen konnte. Fast alle Menschen hörten auf zu suchen, sobald sie eine naheliegende Lösung gefunden hatten. Linda verstand nicht, warum die beiden Frauen nicht einfach Freundinnen wurden. Das hätte ihre Probleme sogleich gelöst.
»Ich bin soweit!«, rief sie vom Balkon. Ich darf jetzt nicht zögern, dachte sie. Sie musste die Sache durchziehen.
Sie stand auf dem Balkon, die Matratze hatte sie aufs Geländer gehievt. Sie quoll vor Wasser. Die Hose war schon nass. Zuvor hatten Linda und Umberto versucht, die Matratze über das Treppenhaus nach unten zu schaffen, aber die Futonmatratze war schon kaum zu heben, wenn sie trocken war. Linda sah Umberto unten auf die Wiese laufen und wartete auf sein Zeichen. Ihr schmerzten bereits die Arme, als er endlich winkte. Sie nahm Abschied und riss die Arme hoch. Die Matratze war sofort verschwunden. Linda beugte sich über die Brüstung, um ihr nachzusehen. Obwohl sie so schwer war, konnte sie noch ein bisschen segeln. Sie arbeitete sich Stockwerk für Stockwerk nach unten. Bei Sehlstedts im Dritten räumte sie die Geranien ab. Frau Sehlstedt würde sich freuen, dass sie das nicht mehr selbst erledigen musste, wenn sie aus dem Urlaub zurückkam. Umberto schlug die Hände vors Gesicht. Auf einmal steckte Frau Jansson im Ersten den Kopf heraus und dreht ihn neugierig hoch.
»Vorsicht, Frau Jansson«, rief Linda. »Da kommt was auf Sie zu!«
Frau Jansson zog den Kopf ein.
Als die Matratze unten neben den Fahrrädern aufschlug, war das noch bis hinüber nach Liljeholmen zu hören, glaubte Linda.
Die Falsche Tote
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