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Linda nahm immer zwei Stufen auf einmal. Das half
jedoch nichts. Frau Jansson hatte die Tür ihrer Wohnung schon
aufgerissen. Sie überfiel ihre Nachbarn gern im Treppenhaus mit
einem Schwätzchen.
»Ist denn schon wieder Schule, lieber Himmel?«,
rief sie, als hätte das auch nur den geringsten Einfluss auf ihr
Dasein als pensionierte Witwe, nicht mal der Weihnachtstermin war
ja für sie von Bedeutung. Die zwei Stunden alte Dauerwelle klebte
an ihrem Kopf wie das Profil an einem Winterreifen.
»Heute ist doch Samstag, Frau Jansson!«
Wer die Treppen nahm, musste im Ersten an der
Einsamkeit von Frau Jansson vorbei. Sie lauerte gerne hinter der
Tür. Linda hoffte, dass sie dort bleiben und das Schauspiel draußen
verpassen würde. Papa würde sonst alles von ihr erfahren.
Manchmal rannte Frau Jansson aus heiterem Himmel
aus dem Haus und blieb erst am Ufer stehen, wo sie wie eine
Wikingerehefrau die flache Hand vor die Stirn hielt, um weiter
spähen zu können. Linda hatte oft überlegt, was das für einen Sinn
haben könnte, denn Frau Janssons Wohnung lag ja im Ersten, vom
Küchenfenster aus hatte sie genau dieselbe Aussicht. Sie blickte
immer hinüber nach Essingen. Das lag fast einen Kilometer entfernt,
da war es völlig egal, ob sie noch zehn Meter draufgab. Das war,
wie mit einem Fernglas in die Sterne zu blicken. Linda konnte ein
Lied davon singen. Zum zehnten Geburtstag hatte sie sich ein
Teleskop gewünscht. Damit war sie sofort aufs Dach geklettert und
hatte zum Himmel geblickt. Die Sterne waren winzige Punkte
geblieben. Das Leben ist eine Reihe von Enttäuschungen, hatte ihr
angetrunkener Opa gelallt, obwohl er selbst nie eine eingesteckt
hatte.
Im Vierten lauerte oft noch eine weitere Gefahr.
Das war Frau Linusson. Sie hatte sich vor zwei Jahren ein
mehrbändiges Lexikon aufschwatzen lassen, das ihr seitdem auf all
ihre Fragen an das Leben antwortete. Auch über Frau Jansson wusste
Frau Linusson Bescheid. Sie hatte das Lexikon wie immer bei A
aufgeschlagen und nach etwas gesucht, was Frau Jansson möglichst
ähnlich war. Sobald sie etwas fand, schlug sie das Lexikon zu. Was
Frau Jansson betraf, stand sie mit dem brasilianischen
Macumba-Zauber in Verbindung. Linda hatte Frau Linusson angespornt,
noch ein wenig über den Buchstaben M hinauszublättern, vielleicht
könnten die Einträge »Neurose«, Psychose« oder vielleicht sogar
»Wahnsinn« auch noch in die engere Wahl genommen werden, wenn es
schon keinen Eintrag für Einsamkeit gab, was ein schwedisches
Lexikon zur Farce machte. Frau Linusson hatte dies geprüft und
verworfen. Frau Jansson ging jeden Samstagmorgen los und kehrte mit
einem gefrorenen Hühnchen zurück. Und unter »Neurose« kamen keine
Hühner vor, im Macumba seien Hühner gang und gäbe. Den beiden
Pensionärinnen konnte sich in diesem Haus niemand entziehen, denn
Frau Lemmason, wie Papa sie inzwischen nannte, wischte jeden
Dienstag das Treppenhaus feucht durch und klingelte danach bei
allen zum Abkassieren. Seit sie das Lexikon besaß, hatten alle
Bewohner die vierzig Kronen schon abgezählt auf der Kommode liegen,
damit an der Tür keine zum Reden einladende Stille entstand.
Dennoch fand Papa, dass man sich Frau Lemmasons Metaphysik nicht
entziehen konnte. Fast alle Menschen hörten auf zu suchen, sobald
sie eine naheliegende Lösung gefunden hatten. Linda verstand nicht,
warum die beiden Frauen nicht einfach Freundinnen wurden. Das hätte
ihre Probleme sogleich gelöst.
»Ich bin soweit!«, rief sie vom Balkon. Ich darf
jetzt nicht zögern, dachte sie. Sie musste die Sache
durchziehen.
Sie stand auf dem Balkon, die Matratze hatte sie
aufs Geländer gehievt. Sie quoll vor Wasser. Die Hose war schon
nass. Zuvor hatten Linda und Umberto versucht, die Matratze über
das Treppenhaus nach unten zu schaffen, aber die Futonmatratze war
schon kaum zu heben, wenn sie trocken war. Linda sah Umberto unten
auf die Wiese laufen und wartete auf sein Zeichen. Ihr schmerzten
bereits die Arme, als er endlich winkte. Sie nahm Abschied und riss
die Arme hoch. Die Matratze war sofort verschwunden. Linda beugte
sich über die Brüstung, um ihr nachzusehen. Obwohl sie so schwer
war, konnte sie noch ein bisschen segeln. Sie arbeitete sich
Stockwerk für Stockwerk nach unten. Bei Sehlstedts im Dritten
räumte sie die Geranien ab. Frau Sehlstedt würde sich freuen, dass
sie das nicht mehr selbst erledigen musste, wenn sie aus dem Urlaub
zurückkam. Umberto schlug die Hände vors Gesicht. Auf einmal
steckte Frau Jansson im Ersten den Kopf heraus und dreht ihn
neugierig hoch.
»Vorsicht, Frau Jansson«, rief Linda. »Da kommt was
auf Sie zu!«
Frau Jansson zog den Kopf ein.
Als die Matratze unten neben den Fahrrädern
aufschlug, war das noch bis hinüber nach Liljeholmen zu hören,
glaubte Linda.