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Annika Sandell schien gar nicht zu bemerken, wie
der Korbstuhl unter Hennings Gewicht knirschte. Deshalb gab Henning
Larsson seine entschuldigende Miene auf und konzentrierte sich ganz
auf das Gesicht der Frau. Die bleiche Spätabendsonne beleuchtete es
auf eine ganz wahrhaftige Weise. Obwohl man daraus jedes einzelne
Jahr ablesen konnte, schien es in all der Zeit nicht viel gegeben
zu haben, was sie bereuen oder wovon sie sich erholen musste. So
jung, wie sie mit ihren dreiundfünfzig Jahren aussah. Ihre Wohnung
im Karlabergsvägen hatte sie aus ihrer ersten oder zweiten Ehe
gerettet, wie sie ihm an der Tür schon erzählt hatte. Wegen des
defekten Aufzugs hatte er bis in den fünften Stock laufen müssen,
und dort hatte das Blut so in seinen Ohren gerauscht, dass er sie
noch einmal von vorn beginnen lassen musste, nachdem sie ihn auf
den Balkon geführt hatte. Es war eigentlich keine so gute Idee,
hier draußen zu sitzen, wo alle acht Minuten direkt unter ihnen der
47er an der Ampel darauf wartete, rechts abbiegen zu dürfen.
»Am besten beginnst du weit davor«, sagte er
zuallererst.
Seine Zunge brannte. Annika Sandell hatte
vergessen, ihm etwas anzubieten, und Henning glaubte, dass auch
viel geringere Störfälle in ihrem Alltag dazu führten, dass alles
andere mit einem Schlag seine Bedeutung verlor, ein einlaufendes
Schaumbad zum Beispiel.
Henning bat um ein Glas Wasser. Während Annika es
aus der Küche holte, betrachtete Henning die Kuppel der dicken
Gustav-Vasa-Kirche auf der anderen Straßenseite. Annika schien
nicht so robust zu sein und würde wohl noch einmal einen
Psychologen brauchen. Offenbar hatte sie sonst keinen
Menschen.
Nach ihrer Rückkehr trank Henning sein Glas in
einem Zug leer. Annika füllte es sogleich wieder. Dabei huschte ein
Lächeln über ihr Gesicht. »Ich hatte heute meinen ersten
Arbeitstag. In einer Anwaltskanzlei. Ich war vier Jahre ohne
Arbeit.«
»Mit welchen Fähigkeiten kannst du denn glänzen,
wenn du in deinem Alter noch eine Stelle gefunden hast?«
Sie lachte, und es klang nicht, als überraschte sie
die Frage. Die hatte sie sich wohl auch schon ein- oder zweimal
gestellt. Dann wurde sie mit einem Schlag ernst.
»Erfahrung«, sagte sie überzeugend. »Als ich in der
sechsten Klasse war, ist etwas Besonderes passiert.«
Mit ›weit davor‹ hatte Henning den Moment gemeint,
als sie am frühen Abend aus der U-Bahn gestiegen war. Auf keinen
Fall aber die sechste Klasse.
»Jemand warf ein Kronenstück durchs Klassenzimmer«,
fuhr sie fort. »Ich habe den Flug der Münze genau verfolgt.
Erstaunlich war, dass ich die Münze schon verschwommen auf der
Stelle am Boden liegen sah, wo sie erst Sekunden später auftraf.
Als könnte ich in die Zukunft sehen, verstehst du?«
Annika suchte in Hennings Gesicht nach einer
Bestätigung. Nicht nur seine Zunge, auch der Magen brannte, vor
Hunger. Am Mittag war er durch die Hölle des Salatbuffets gegangen
und konnte seit drei Uhr nur noch an die sechs hartgekochten Eier
und das Glas Mayonnaise in seinem Kühlschrank zu Hause denken. Im
Geist ging er die Route zurück zum Präsidium durch und überlegte,
wo er auf dem Weg anhalten und sich etwas Triefendes besorgen
könnte.
»Solche Erlebnisse habe ich seitdem oft. Erst
später habe ich begriffen, dass ein Fehler im Gehirn daran schuld
ist. Wenn sich Dinge schnell bewegen, gerät mein Zeit- und
Wahrnehmungsempfinden durcheinander.«
Henning zückte seinen Block als Zeichen, dass er
verstand. »Du arbeitest in der Hamngatan, nicht wahr?«
»Das Wetter war so schön. Ich bin die
Drottninggatan hochgeschlendert und durch den Vasapark.«
»Du bist also vom Park aus in die Sigtunagatan
gegangen. Wo warst du genau, als du die Tote bemerkt hast?«
»Weiter vorn, beim roten Haus.«
»Das sind etwa vierzig Meter. Auf derselben
Straßenseite?«
Sie nickte.
»Lag sie oder fiel sie noch? Da war deine Aussage
an Ort und Stelle noch unklar.«
»Also … ich habe sie liegen sehen, und dann kam sie
erst. So ist es in meinem Gehirn. Ich kann sie aber erst unterhalb
der Fenster im zweiten Stock gesehen haben. Ich hab ja nicht
hochgeblickt.«
»Du hast also das Bild des Aufpralls in deinem
Kopf?«
»Das kann aber täuschen. Ist mir schon oft
passiert, dass mein Gehirn eine Vorgeschichte kennt, die ich gar
nicht erlebt habe.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Ich blieb stehen und starrte hin. Irgendwie habe
ich wohl mein Telefon aus der Handtasche geholt und
angerufen.«
Die Zeitangaben sprachen dafür, dass Annika Sandell
den Aufprall wirklich gesehen hatte. Und weil es nur die letzten
fünf Meter des Falls gewesen sein konnten, war auch ihre
Sinnestäuschung verständlich. Dass ein Mensch nur einige Meter
entfernt auf die Straße aufschlägt, wäre für jeden ein unerwartetes
Ereignis, und das Gehirn wird zunächst versuchen, den Eindruck zu
korrigieren. Das hatte Henning schon oft in seiner Laufbahn erlebt,
zuletzt am zwölften Mai, als Hammarby in der letzten Minute ein Tor
von Djurgården bekam. Erst am vierzehnten Juni hatte Hennings
Gehirn eingesehen, dass es wirklich so gewesen war.