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Freitag, 3. August
Kjell richtete sich im Bett auf und blickte aus
dem Fenster. Die Westspitze von Långholmen lag in dichtem
Morgennebel. Doch von rechts glitzerte schon das Sonnenlicht auf
dem Wasser. Das Bett stand direkt am Fenster seines winzigen
Schlafzimmers. So konnte man im Sommer schön braun werden, wenn man
sich am Nachmittag ein, zwei Stunden gönnte.
Sein Herz schlug schnell vor Anspannung, doch über
dem Rest seines Körpers lag die Mattigkeit von viel zu kurzem
Schlaf. Nur drei Stunden waren möglich gewesen. Auf dem Weg zum Bad
vergewisserte er sich, dass er nicht verschlafen hatte.
Nach zwanzig Minuten stand er geduscht und
angezogen in der Küche. Linda musste um neun Uhr in der
Kunsthochschule sein. Obwohl bis dahin noch viel Zeit war, wollte
er sie lieber gleich wecken und noch ein wenig mit ihr sprechen,
damit sie sich nicht so allein fühlte. Die wochenlange Vorfreude
hatte sich längst in Unbehagen und Selbstzweifel verwandelt. In
einer neuen Gemeinschaft tat sie sich immer schwer, vor allem in
diesem Fall, wo die anderen nicht nur älter und besser waren,
sondern sich auch schon lange kannten.
Kjell schlich zu Lindas Zimmer und drückte mit der
Ecke des Frühstückstabletts die Türklinke hinunter. Nicht nur Linda
fehlte, auch ihre Matratze war verschwunden. Er machte kehrt und
ging ins Wohnzimmer. Sie schlief wieder auf dem Balkon. Manchmal
hörte er sie in der Nacht fluchen und stöhnen, wenn sie die
Matratze hinter sich her in ihr Zimmer schleifte. Dann wusste er,
dass es draußen zu regnen begonnen hatte.
Linda hatte sich die Decke über den Kopf gezogen.
Wenn man im Freien schläft, bringt einem das Morgengrauen auch
Kälte, selbst wenn die Temperatur in Wirklichkeit gar nicht
abfällt. Er ließ sich auf dem Rand der Matratze nieder, stellte das
Tablett auf dem Boden ab und zog an der Decke, bis ihr Gesicht
erschien. Sie war wohl schon wach gewesen, jedenfalls waren ihre
Augen geöffnet.
»Du siehst aus wie ein Eskimofindelkind«,
behauptete er. Oder ein Inuit-Findelkind, wenn man nichts falsch
machen wollte. Die Decke verbarg ihren Mund. Er konnte nicht sehen,
ob sie lächelte. Ihre Augen wirkten ernst oder ängstlich.
Er strich ihr durchs Haar, das hatte sie
gern.
»Bist du bereit? Freust du dich?«
Sie reagierte nicht.
»Hier«, flüsterte er und zog das Tablett etwas
heran.
Linda richtete sich auf. Er reichte ihr eine Tasse,
und sie nippte sogleich daran. Er hielt ihr den Teller mit ihrem
Frühstück hin, aber sie schüttelte den Kopf und schloss angewidert
die Augen. Er ließ seine Hand auf die Decke fallen, wo er etwas
Hartes spürte. Das konnte ihr Knie sein. Er rüttelte tröstend
daran. Linda seufzte noch einmal.
»Das ist normal«, behauptete er. »Dass einem mulmig
wird. Kurz davor.«
»Wie spät ist es denn?«
»Kurz nach sechs. Ich wollte dich unbedingt wecken,
damit wir noch zusammen frühstücken können. Bist du früh genug ins
Bett gegangen?«
»Ja.«
Er hätte ihr jetzt gut zureden können, aber das
mochte Linda nicht. Sie ließ sich in ihren Empfindungen nicht gerne
stören und wollte immer alles auskosten, auch die schlimmen
Tage.
Im Büro wurde er von Dunkelheit und Stille
überrascht. Er war pünktlich und hatte erwartet, dass Sofi hinter
ihrem Schreibtisch lauerte. Wie immer fürchtete er den zweiten
Ermittlungstag, weil man von da an große Entscheidungen treffen und
den Lauf der Dinge selbst gestalten musste. Das war in den ersten
Stunden nicht so, da reagierte man nur. Deswegen war es falsch, den
ersten Tag immer herauszuziehen und so lange zu überlegen, bis man
vor Müdigkeit umkippte. Auf diese Art brachte man meist nur Unsinn
hervor und verpasste den zweiten Tag.
Die Tür zum Archiv war angelehnt. Er drückte mit
den Fingerspitzen dagegen. Sofi hatte die Fenster mit Wolldecken
verhängt. Und schlief. Das war für sie sehr ungewöhnlich, genauer
gesagt war es noch nie vorgekommen. Eigentlich hätte sie längst das
Morgendossier anfertigen müssen. Kjell nahm die Decken von den
Fenstern, die nach Osten zeigten. Das Sonnenlicht breitete sich auf
Sofi aus. Er rüttelte sie am Arm und dann noch einmal heftiger. Sie
hob den Kopf und sah ihn mit schweren Lidern an. Als sie verstand,
saß sie auch schon aufrecht. Er beruhigte sie, sie brauche nicht in
Panik verfallen, es sei noch genug Zeit. Sofi machte sich auf den
Weg. Er wusste nicht genau wohin, aber von draußen hörte er ein
Scheppern. Sie musste gegen irgendwas gestoßen sein.
Kjell ging in den Besprechungsraum und setzte
Kaffee auf. Barbro und Henning trafen nur wenige Minuten später
ein. Barbro prüfte zuerst die Nachrichten. Der Justizkanzler wurde
in Kürze erwartet. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit in
Josefins Wohnung und in der ihres Bruders beendet. Auch dort hatte
man keine Spuren eines Eindringens gefunden. Nur die Wohnungstür
hatte offen gestanden.
»Es muss ein sehr altes Haus sein, in dem Oskar da
wohnt«, bemerkte Barbro, während sie las. »Unsaniertes Södermalm
1889. Die Wohnung soll so unordentlich gewesen sein, dass die
Verwüstung durch den Einbruch sich nahtlos in die Wohnkultur von
Oskar einfügten. Der Täter hätte aufräumen müssen, um Spuren zu
hinterlassen.«
»Mit anderen Worten?«
»Oskar müsste sich die Räume selbst ansehen. Nur er
weiß, ob inzwischen jemand dort gewesen ist. Die Unordnung scheint
organisch gewachsen zu sein, behaupten die Techniker.«
»All diese Unklarheiten«, stöhnte Kjell. »Ich mag
keine einzige davon.«
Sofi kam herein. Sie hatte sechs Minuten gebraucht.
Auf der Herfahrt hatte Kjell sich überlegt, wie es weitergehen
sollte. Barbro übernahm wie immer die Familie.
»Rosenfeldt ist ein Emporkömmling, wie man das bei
uns am Strandvägen nennt.«
»Wo inzwischen alle Emporkömmlinge wohnen«, meinte
Henning, der sich gerade wie an jedem Morgen aus seinem Anorak
quälte. Den trug er zu jeder Jahreszeit.
»Mein Vater sagt, dass man seine Ernennung in
Regierungskreisen schon nach wenigen Wochen bereut hat.«
Das konnten sich alle vorstellen. Die Regierung
ernannte zwar den Justizkanzler, aber nur er selbst entschied, wann
es Zeit war zu gehen. Normalerweise suchte man einen gemäßigten
Kandidaten aus, der vielleicht noch höher hinauswollte. So stellte
man sicher, dass er sich in diesem Amt, wo er unabhängig und recht
einflussreich war, nicht wie ein Wilder benahm. Rosenfeldt war ein
Wilder. Niemand hatte ja ahnen können, dass er auch wirklich tat,
was ein Justizkanzler dem Grundgesetz nach tun sollte. Erst vor
Kurzem hatten sich drei hochrangige Persönlichkeiten des
schwedischen Rechtssystems in Dagens Nyheter dafür ausgesprochen,
dass der JK untragbar für die Rechtssicherheit sei, weil er den
Gerichten und der Polizei eine Rechtshybris attestiert hatte.
»Er hat also mehr Feinde als Fidel Castro«, sagte
Henning.
»Aber auch viele, die ihn lieben, wir Frauen zum
Beispiel.«
Sofi nickte.
»Sogar Linda«, fügte Kjell hinzu. »Er hat alles,
was ein Mann haben muss, hat sie gesagt.«
»Vielleicht sollte sie dieses Urteil lieber Frauen
überlassen, die schon einmal einen Mann nackt gesehen haben«,
erwiderte Barbro.
Kjell verschränkte die Arme. »Zum Glück
interessiert uns das alles nicht, unsere Aufgabe ist Josefins
Privatleben.«
Doch das fand man leider nicht in Dagens Nyheter.
Ein großer Teil dieser Wühlarbeit fiel immer Henning zu. Es war
noch nie passiert, dass Henning dabei etwas übersah, jedenfalls gab
er Kjell dieses Gefühl, weil er immer den Haken an der Sache fand.
Zusammen mit Sofi wollte Kjell die Szenarien entwerfen.
Barbro gähnte und streckte sich. »Zuerst muss ich
mir mal Oskars Wohnung anschauen.«
»Gibt es denn vom Vater einen Hinweis, wo Oskar
stecken könnte?«, wollte Kjell wissen.
»Den finde ich schon.« Barbro gähnte noch
einmal.
Kjell dachte daran, dass sie außer einem
Zettelkasten bisher nichts gefunden hatten, was über das Leben von
Josefin Auskunft gab. Die Zettel enthielten vor allem Notizen aus
dem Studium. Darum mussten sie sich zuerst kümmern, solange man die
Familie nicht fragen konnte. Vielleicht wusste man in der
Universität, mit wem Josefin Umgang hatte. »Wir müssen etwas
Persönliches finden«, sagte er.
»Wollt ihr wissen, was auf dem Zettel steht?«
Alle starrten Sofi an. Sie öffnete ihre Mappe und
drehte sie den anderen zu. »Aisakos klingt griechisch, oder?«, fand
sie, nachdem alle den Text gelesen hatten und einander ansahen.
»Ein Dichter, vielleicht. Oder ein Philosoph.«
»Ist Lasse wirklich sicher, dass es nicht erst seit
gestern Abend dort gelegen hat?«
Sofi nickte. »Wie erwartet gibt es nur Fragmente
von Fingerabdrücken. Das Papier des Umschlags ist einfach zu rau.
Der Zettel ist besser, aber er wurde nur ganz am Rand angefasst.
Wahrscheinlich wurde mehrmals darübergestrichen.«
»Immerhin«, brummte Henning. »Sieht nicht so aus,
als wären die Abdrücke bewusst vermieden worden.«
»Aisakos ist weder Dichter noch Philosoph«, sagte
Kjell und versuchte sich daran zu erinnern, was er bei seinem
Studium der klassischen Literatur darüber gelernt hatte. Er tippte
auf Ovids Metamorphosen. »Er ist irgendein Halbgott aus der
griechischen Mythologie. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er
sich in eine Nymphe verliebt. Sie war aber Single und geriet
sogleich in Bindungsängste. Beim Davonlaufen wurde sie von einer
Schlange gebissen.«
Aus irgendeinem Grund blickten alle auf
Barbro.
»Und der Satz?«, wollte Sofi wissen.
Kjell hatte sich den Ausdruck vorgenommen und
starrte darauf. Es kam ihm bekannt vor. Mag er kommen. Dich
schützt Artemis. Woher stammte das nur? Er wäre nie ein guter
Altphilologe geworden, weil ihm etwas fehlte, was Altphilologen
assiduitas legendi nennen, was nicht mehr als ›hinsetzen und
lesen‹ bedeutete, von der Altphilologie selbst aber wesentlich
aufwendiger übersetzt wurde. Ihm fehlte also die Bereitschaft, dem
Lesen allen Raum in seinem Leben zu überlassen. Für jemand, der
aufstehen und denken wollte, war die Altphilologie nicht das
Richtige gewesen.
»Theokrit vielleicht. Bukolische Poesie. Es könnte
aus einem seiner Idylle stammen.«
Barbro hatte drei Jahre Altgriechisch auf dem
Gymnasium gelernt und gähnte sofort.
Sofi sah Kjell aufmerksam an. Sie ahnte nicht, dass
ihnen zweiunddreißig Hirtendichtungen bevorstanden, und setzte
ihren Bericht fort. »Lasse behauptet steif und fest, dass der
Eindringling den Zettel nicht mitgebracht haben kann. Er hat das
Daunenkissen untersucht, unter dem der Brief lag.«
»Nun ist er also gekommen«, raunte Henning. »Aber
Artemis hat sie nicht beschützt.«