7
Freitag, 3. August
Kjell richtete sich im Bett auf und blickte aus dem Fenster. Die Westspitze von Långholmen lag in dichtem Morgennebel. Doch von rechts glitzerte schon das Sonnenlicht auf dem Wasser. Das Bett stand direkt am Fenster seines winzigen Schlafzimmers. So konnte man im Sommer schön braun werden, wenn man sich am Nachmittag ein, zwei Stunden gönnte.
Sein Herz schlug schnell vor Anspannung, doch über dem Rest seines Körpers lag die Mattigkeit von viel zu kurzem Schlaf. Nur drei Stunden waren möglich gewesen. Auf dem Weg zum Bad vergewisserte er sich, dass er nicht verschlafen hatte.
Nach zwanzig Minuten stand er geduscht und angezogen in der Küche. Linda musste um neun Uhr in der Kunsthochschule sein. Obwohl bis dahin noch viel Zeit war, wollte er sie lieber gleich wecken und noch ein wenig mit ihr sprechen, damit sie sich nicht so allein fühlte. Die wochenlange Vorfreude hatte sich längst in Unbehagen und Selbstzweifel verwandelt. In einer neuen Gemeinschaft tat sie sich immer schwer, vor allem in diesem Fall, wo die anderen nicht nur älter und besser waren, sondern sich auch schon lange kannten.
Kjell schlich zu Lindas Zimmer und drückte mit der Ecke des Frühstückstabletts die Türklinke hinunter. Nicht nur Linda fehlte, auch ihre Matratze war verschwunden. Er machte kehrt und ging ins Wohnzimmer. Sie schlief wieder auf dem Balkon. Manchmal hörte er sie in der Nacht fluchen und stöhnen, wenn sie die Matratze hinter sich her in ihr Zimmer schleifte. Dann wusste er, dass es draußen zu regnen begonnen hatte.
Linda hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Wenn man im Freien schläft, bringt einem das Morgengrauen auch Kälte, selbst wenn die Temperatur in Wirklichkeit gar nicht abfällt. Er ließ sich auf dem Rand der Matratze nieder, stellte das Tablett auf dem Boden ab und zog an der Decke, bis ihr Gesicht erschien. Sie war wohl schon wach gewesen, jedenfalls waren ihre Augen geöffnet.
»Du siehst aus wie ein Eskimofindelkind«, behauptete er. Oder ein Inuit-Findelkind, wenn man nichts falsch machen wollte. Die Decke verbarg ihren Mund. Er konnte nicht sehen, ob sie lächelte. Ihre Augen wirkten ernst oder ängstlich.
Er strich ihr durchs Haar, das hatte sie gern.
»Bist du bereit? Freust du dich?«
Sie reagierte nicht.
»Hier«, flüsterte er und zog das Tablett etwas heran.
Linda richtete sich auf. Er reichte ihr eine Tasse, und sie nippte sogleich daran. Er hielt ihr den Teller mit ihrem Frühstück hin, aber sie schüttelte den Kopf und schloss angewidert die Augen. Er ließ seine Hand auf die Decke fallen, wo er etwas Hartes spürte. Das konnte ihr Knie sein. Er rüttelte tröstend daran. Linda seufzte noch einmal.
»Das ist normal«, behauptete er. »Dass einem mulmig wird. Kurz davor.«
»Wie spät ist es denn?«
»Kurz nach sechs. Ich wollte dich unbedingt wecken, damit wir noch zusammen frühstücken können. Bist du früh genug ins Bett gegangen?«
»Ja.«
Er hätte ihr jetzt gut zureden können, aber das mochte Linda nicht. Sie ließ sich in ihren Empfindungen nicht gerne stören und wollte immer alles auskosten, auch die schlimmen Tage.
 
Im Büro wurde er von Dunkelheit und Stille überrascht. Er war pünktlich und hatte erwartet, dass Sofi hinter ihrem Schreibtisch lauerte. Wie immer fürchtete er den zweiten Ermittlungstag, weil man von da an große Entscheidungen treffen und den Lauf der Dinge selbst gestalten musste. Das war in den ersten Stunden nicht so, da reagierte man nur. Deswegen war es falsch, den ersten Tag immer herauszuziehen und so lange zu überlegen, bis man vor Müdigkeit umkippte. Auf diese Art brachte man meist nur Unsinn hervor und verpasste den zweiten Tag.
Die Tür zum Archiv war angelehnt. Er drückte mit den Fingerspitzen dagegen. Sofi hatte die Fenster mit Wolldecken verhängt. Und schlief. Das war für sie sehr ungewöhnlich, genauer gesagt war es noch nie vorgekommen. Eigentlich hätte sie längst das Morgendossier anfertigen müssen. Kjell nahm die Decken von den Fenstern, die nach Osten zeigten. Das Sonnenlicht breitete sich auf Sofi aus. Er rüttelte sie am Arm und dann noch einmal heftiger. Sie hob den Kopf und sah ihn mit schweren Lidern an. Als sie verstand, saß sie auch schon aufrecht. Er beruhigte sie, sie brauche nicht in Panik verfallen, es sei noch genug Zeit. Sofi machte sich auf den Weg. Er wusste nicht genau wohin, aber von draußen hörte er ein Scheppern. Sie musste gegen irgendwas gestoßen sein.
Kjell ging in den Besprechungsraum und setzte Kaffee auf. Barbro und Henning trafen nur wenige Minuten später ein. Barbro prüfte zuerst die Nachrichten. Der Justizkanzler wurde in Kürze erwartet. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit in Josefins Wohnung und in der ihres Bruders beendet. Auch dort hatte man keine Spuren eines Eindringens gefunden. Nur die Wohnungstür hatte offen gestanden.
»Es muss ein sehr altes Haus sein, in dem Oskar da wohnt«, bemerkte Barbro, während sie las. »Unsaniertes Södermalm 1889. Die Wohnung soll so unordentlich gewesen sein, dass die Verwüstung durch den Einbruch sich nahtlos in die Wohnkultur von Oskar einfügten. Der Täter hätte aufräumen müssen, um Spuren zu hinterlassen.«
»Mit anderen Worten?«
»Oskar müsste sich die Räume selbst ansehen. Nur er weiß, ob inzwischen jemand dort gewesen ist. Die Unordnung scheint organisch gewachsen zu sein, behaupten die Techniker.«
»All diese Unklarheiten«, stöhnte Kjell. »Ich mag keine einzige davon.«
Sofi kam herein. Sie hatte sechs Minuten gebraucht. Auf der Herfahrt hatte Kjell sich überlegt, wie es weitergehen sollte. Barbro übernahm wie immer die Familie.
»Rosenfeldt ist ein Emporkömmling, wie man das bei uns am Strandvägen nennt.«
»Wo inzwischen alle Emporkömmlinge wohnen«, meinte Henning, der sich gerade wie an jedem Morgen aus seinem Anorak quälte. Den trug er zu jeder Jahreszeit.
»Mein Vater sagt, dass man seine Ernennung in Regierungskreisen schon nach wenigen Wochen bereut hat.«
Das konnten sich alle vorstellen. Die Regierung ernannte zwar den Justizkanzler, aber nur er selbst entschied, wann es Zeit war zu gehen. Normalerweise suchte man einen gemäßigten Kandidaten aus, der vielleicht noch höher hinauswollte. So stellte man sicher, dass er sich in diesem Amt, wo er unabhängig und recht einflussreich war, nicht wie ein Wilder benahm. Rosenfeldt war ein Wilder. Niemand hatte ja ahnen können, dass er auch wirklich tat, was ein Justizkanzler dem Grundgesetz nach tun sollte. Erst vor Kurzem hatten sich drei hochrangige Persönlichkeiten des schwedischen Rechtssystems in Dagens Nyheter dafür ausgesprochen, dass der JK untragbar für die Rechtssicherheit sei, weil er den Gerichten und der Polizei eine Rechtshybris attestiert hatte.
»Er hat also mehr Feinde als Fidel Castro«, sagte Henning.
»Aber auch viele, die ihn lieben, wir Frauen zum Beispiel.«
Sofi nickte.
»Sogar Linda«, fügte Kjell hinzu. »Er hat alles, was ein Mann haben muss, hat sie gesagt.«
»Vielleicht sollte sie dieses Urteil lieber Frauen überlassen, die schon einmal einen Mann nackt gesehen haben«, erwiderte Barbro.
Kjell verschränkte die Arme. »Zum Glück interessiert uns das alles nicht, unsere Aufgabe ist Josefins Privatleben.«
Doch das fand man leider nicht in Dagens Nyheter. Ein großer Teil dieser Wühlarbeit fiel immer Henning zu. Es war noch nie passiert, dass Henning dabei etwas übersah, jedenfalls gab er Kjell dieses Gefühl, weil er immer den Haken an der Sache fand. Zusammen mit Sofi wollte Kjell die Szenarien entwerfen.
Barbro gähnte und streckte sich. »Zuerst muss ich mir mal Oskars Wohnung anschauen.«
»Gibt es denn vom Vater einen Hinweis, wo Oskar stecken könnte?«, wollte Kjell wissen.
»Den finde ich schon.« Barbro gähnte noch einmal.
Kjell dachte daran, dass sie außer einem Zettelkasten bisher nichts gefunden hatten, was über das Leben von Josefin Auskunft gab. Die Zettel enthielten vor allem Notizen aus dem Studium. Darum mussten sie sich zuerst kümmern, solange man die Familie nicht fragen konnte. Vielleicht wusste man in der Universität, mit wem Josefin Umgang hatte. »Wir müssen etwas Persönliches finden«, sagte er.
»Wollt ihr wissen, was auf dem Zettel steht?«
Alle starrten Sofi an. Sie öffnete ihre Mappe und drehte sie den anderen zu. »Aisakos klingt griechisch, oder?«, fand sie, nachdem alle den Text gelesen hatten und einander ansahen. »Ein Dichter, vielleicht. Oder ein Philosoph.«
»Ist Lasse wirklich sicher, dass es nicht erst seit gestern Abend dort gelegen hat?«
Sofi nickte. »Wie erwartet gibt es nur Fragmente von Fingerabdrücken. Das Papier des Umschlags ist einfach zu rau. Der Zettel ist besser, aber er wurde nur ganz am Rand angefasst. Wahrscheinlich wurde mehrmals darübergestrichen.«
»Immerhin«, brummte Henning. »Sieht nicht so aus, als wären die Abdrücke bewusst vermieden worden.«
»Aisakos ist weder Dichter noch Philosoph«, sagte Kjell und versuchte sich daran zu erinnern, was er bei seinem Studium der klassischen Literatur darüber gelernt hatte. Er tippte auf Ovids Metamorphosen. »Er ist irgendein Halbgott aus der griechischen Mythologie. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er sich in eine Nymphe verliebt. Sie war aber Single und geriet sogleich in Bindungsängste. Beim Davonlaufen wurde sie von einer Schlange gebissen.«
Aus irgendeinem Grund blickten alle auf Barbro.
»Und der Satz?«, wollte Sofi wissen.
Kjell hatte sich den Ausdruck vorgenommen und starrte darauf. Es kam ihm bekannt vor. Mag er kommen. Dich schützt Artemis. Woher stammte das nur? Er wäre nie ein guter Altphilologe geworden, weil ihm etwas fehlte, was Altphilologen assiduitas legendi nennen, was nicht mehr als ›hinsetzen und lesen‹ bedeutete, von der Altphilologie selbst aber wesentlich aufwendiger übersetzt wurde. Ihm fehlte also die Bereitschaft, dem Lesen allen Raum in seinem Leben zu überlassen. Für jemand, der aufstehen und denken wollte, war die Altphilologie nicht das Richtige gewesen.
»Theokrit vielleicht. Bukolische Poesie. Es könnte aus einem seiner Idylle stammen.«
Barbro hatte drei Jahre Altgriechisch auf dem Gymnasium gelernt und gähnte sofort.
Sofi sah Kjell aufmerksam an. Sie ahnte nicht, dass ihnen zweiunddreißig Hirtendichtungen bevorstanden, und setzte ihren Bericht fort. »Lasse behauptet steif und fest, dass der Eindringling den Zettel nicht mitgebracht haben kann. Er hat das Daunenkissen untersucht, unter dem der Brief lag.«
»Nun ist er also gekommen«, raunte Henning. »Aber Artemis hat sie nicht beschützt.«
Die Falsche Tote
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