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Sofi stand an der Spüle des Besprechungsraums und
lud vier Punschrollen aus dem Karton auf einen Teller.
»Und?«, fragte sie. »Hast du etwas gefunden?«
Kjell brummte zur Bestätigung und trug die
Kaffeelöffel zum Tisch. Er hatte zwei aufeinanderfolgende Nächte in
seinem Arbeitszimmer daheim verbracht, einer kleinen Kammer, die
gerade genug Platz für einen Schreibtisch bot und um drei Schritte
auf- und abzugehen.
Er rief in den Gang hinaus, dass der Kaffee fertig
sei. Henning trug wie immer einen Stapel Unterlagen bei sich, der
auch auf den zweiten Blick kein Ordnungsprinzip erkennen ließ.
Barbro hatte ein bisschen Farbe bekommen, sie musste den Vormittag
im Freien verbracht haben.
»Der zweite Zettel von Aisakos stammt aus einer
Tragödie von Sophokles mit dem Titel ›Aleaden‹. Das Stück ist nur
als Fragment überliefert, und natürlich steckte es dann in jenem
Sonderband, den ich bei der Auswahl zuerst ausgeschlossen hatte.
Ihr wisst ja, wie das Leben zu mir ist.«
Sofi steckte sich das eine Ende ihrer grünen
Punschrolle in den Mund. Sie steckte sich ständig etwas in den
Mund, ob Lebensmittel oder Bleistifte. Im Moment des Abbeißens
schielte sie sogar ein wenig nach unten, was eine Gier verriet, die
ganz tief in ihr steckte.
»Der erste Zettel nun«, fuhr Kjell fort. »Mit dem
hatte ich so einige Schwierigkeiten. Ich bin soweit zu glauben,
dass es ihn nicht gibt. Jedenfalls ist es nichts aus dem alten
Griechenland.«
»Erster und zweiter Zettel!«, nuschelte Sofi hinter
der vorgehaltenen Hand. »Das gibt ja nur unsere Fundreihenfolge
wieder.«
»›Dich schützt Artemis‹, das ist also nicht
griechisch?«, hakte Barbro nach.
»Er ist dem Charakter nach ähnlich, aber es ist
nicht original. Ich habe ähnliche Sätze gefunden in einem
Liebesdialog von Theokrit, dort sagt ein Mädchen: ›Er möge es
werfen, mich schützt Artemis.‹ Was da geworfen wird, ist das Netz
des Eros, also das Verliebtsein. Davor soll Artemis das Mädchen
schützen. Begonnen hat alles so: Wir hatten einen Mord und den
Zettel. Da lag es nah, dass wir den Inhalt auf das Ereignis bezogen
haben. Die Gleichzeitigkeit war aber künstlich. Der Zettel lag dort
ja schon länger, und er wäre dort geblieben, wenn das Ereignis ihn
nicht zu Tage gefördert hätte.«
»Genau zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen.«
Sofi lächelte, um ein wenig bescheidener zu wirken.
»Liebe also«, beendete Henning ein zwölfsekündiges
Gruppenschweigen. »Das Netz des Eros soll also die Liebe sein, habe
ich das richtig verstanden? Das Netz taucht in unserem Zettel doch
gar nicht auf, die Sätze gleichen sich nur im Aufbau und in
Artemis. Mir war bisher nicht bekannt, dass Artemis etwas mit Liebe
zu tun haben soll.«
»Die hat doch Pfeil und Bogen«, stimmte Sofi
zu.
»Sie ist die Göttin der Jagd«, bestätigte Barbro
kraft ihres dreijährigen Besuchs des humanistischen Gymnasiums.
»Sie ist auch die Beschützerin der Frauen vor der
Entjungferung.«
Kjell beglückwünschte Barbro zu ihrer Bildung. »Und
sie ist die Göttin des Mondes und des Waldes.«
Henning hob die Hand. Er war noch nicht fertig
gewesen. »Die Gleichzeitigkeit ist nicht zufällig, wie du annimmst.
Wenn Artemis also vor der Liebe schützen soll und nicht vor einem
Profikiller, dann haben wir ebenfalls zwei Männer in dieser
Rechnung, die sonst keiner kennt: Aisakos, der Verfasser des
Briefes, und den mit Entjungferung drohenden Eros.« Henning
befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers und blätterte in seinen
Unterlagen. »Vater und Bruder sind sich sicher, dass Josefin schon
einmal intimen Kontakt zu Männern hatte, bei der Toten liegt uns
ein Attest vor. Sie war keine Jungfrau mehr.«
»Was willst du sagen?«, fragte Barbro.
»Dass die Briefe auf jeden Fall etwas bedeuten,
wenn es Briefe sind. Und dann haben wir ja noch den Brief von
Hesperia, der ganz sicher ein Brief ist. Es gibt also einen
Aisakos.«
Kjell schwieg. Es verwunderte ihn, wie wenig sie
wussten. Es gab keine Fingerabdrücke auf den beiden Zetteln. Per
konnte nur vermuten, dass das Papier angefasst worden war. Das
bedeutete aber noch nicht, dass jemand vermieden hatte, Abdrücke zu
hinterlassen. Auf Papier mit dieser Struktur bildeten sich eben nur
schwer brauchbare Abdrücke.
»Was ihr über Artemis gesagt habt, lässt mich an
das Plakat in Josefins Zimmer denken«, wendete Barbro ein.
»Vielleicht meint der Name hier keine Göttin.«
»Eine Organisation?«, begriff Sofi.
»Vielleicht, ja.«
»Wäre kein schlechter Name für eine militante
Frauengruppe, wenn ihr mich fragt.«
Barbro gab Henning zu verstehen, dass ihn keiner
fragte.
»Und Aisakos?«, wollte Sofi wissen.
»Es sind auf jeden Fall Tarnnamen. Aisakos und
Hesperia.«
»Oder ein Spiel.«
Alle sahen Barbro an.
»Mögt ihr keine Spiele? Eine Albernheit unter
Verliebten.«
Das Gespräch wurde von jemandem unterbrochen, der
nie albern war. Per öffnete ohne Anklopfen die Tür und schritt
durchs Zimmer. »Ich habe wenig Zeit. Kann ich einen Stuhl
bekommen?«
Sofi sprang auf und holte einen fünften Stuhl aus
dem Büro. Per setzte sich und öffnete die graue Mappe.
»Beim Brief sieht es schlecht aus. Die Oberfläche
ist noch poröser als die der Zettel. Allerdings gibt das Papier
selbst Auskunft. Es ist eigentlich gar kein Papier, sondern
Baumwolle, und dieses hier wird handgeschöpft an nur einem einzigen
Ort der Welt mit dem Namen Bécherel. Und man kann es nur dort
kaufen in nur einem einzigen Geschäft.«
»Das liegt mitten in der Bretagne«, wusste Kjell.
»Nicht mal eine halbe Stunde von Saint Malo entfernt. Wie hast du
das nur herausgefunden?«
»Es gibt ein Wasserzeichen im Innenfutter.«
Henning stemmte sich auf. »Bin gleich wieder
da.«
Per sah Henning skeptisch hinterher. »Die Tinte ist
eine spezielle Chinatusche, die es überall in Europa zu kaufen
gibt. Die Metallsalze machen sie leicht identifizierbar.
Hochgiftig, das Zeug, kann man noch in den Zellen der Kindeskinder
nachweisen.«
»Du sagtest, du habest wenig Zeit«, brachte Kjell
in Erinnerung.
»Ja richtig. Wir haben Fingerabdrücke auf dem Buch,
und zwar viele. Sehen mir männlich aus. Einige sind verwischt.
Offenbar hat der Besitzer geschwitzt oder sich vorher eingecremt.
Ich habe bald achtzig Minutien gefunden, aber keinen
Datenbankeintrag.«
»Kann eine Aushilfe im Buchgeschäft gewesen sein«,
überlegte Sofi.
»Unwahrscheinlich«, erwidert Per. »Es gibt sie auch
innen.«
Henning kehrte zurück. Er ruckte den Bund seiner
Hose zurecht und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Rosenfeldt war
letztes Jahr zusammen mit seiner Tochter dort. Damals habe sie kein
Papier gekauft, behauptet er. Sie fährt aber in jedem Sommer
mindestens einmal hin. Bécherel ist nicht mehr als ein Dorf; das
Besondere daran ist, dass es dort fast nichts anderes als
Buchgeschäfte gibt.«
Per nickte desinteressiert und erhob sich. »Ich
melde mich, wenn Interpol sich meldet. Aber macht euch keine
Hoffnungen, es ist ja ein schwedisches Buch.«
»Jetzt wird es interessant«, fand Kjell, als die
Tür krachend ins Schloss gefallen war. »Also hat Josefin das Papier
gekauft.«
Die Fingerabdrücke der Toten waren in Frankreich
nicht bekannt, und auch in keinem anderen Land. Aus der Bretagne
gab es auch keine Vermisstenmeldung, die auf die Tote zutreffen
könnte. Henning hatte sich am Vormittag die Videos von Josefins
Ankunft in Terminal 5 in Arlanda angesehen und ihre Route zum
Ausgang über sieben Kameras verfolgt. Sie war allein angekommen,
hatte mit keinem gesprochen und war am Ende allein in den
Flughafenbus nach Stockholm gestiegen. Der Busfahrer, bei dem
Josefin eine Fahrkarte gekauft haben musste, und auch der Mann, der
das Gepäck einlud, hatten sich natürlich an nichts mehr erinnern
können. Wenn man nur wüsste, wo sie ausgestiegen war. Die
Transferbusse hielten zwischen Flughafen und Stadt ja an so gut wie
jeder Kreuzung. Auszuschließen war nur, dass Josefin am
Centralbahnhof, der Endstation, ausgestiegen und zur U-Bahn
gegangen war. Henning hatte auch diese Videoaufzeichnungen
überprüft. Deshalb war anzunehmen, dass sie schon am
Sankt-Eriksplan ausgestiegen sein musste. Das lag ganz nah bei
ihrer Wohnung.
Das nächste Thema war Sofis Besuch bei der
Dozentin.
»Die Dozentin weiß nicht, ob Josefin Griechisch
konnte. In ihrer Arbeit gibt sie Zitate auf Englisch wieder. Es ist
allerdings üblich, dass man nur Übersetzungen liest, weil die
meisten kein Griechisch mehr können. In der Schule hat sie es
jedenfalls nicht gelernt.«
Sofi zog einen Zettel hervor und schob ihn zu
Kjell. Dort hatte die Dozentin zwei Stellen notiert: Or 1648 ff und
El 1258 ff.
»Orest und Elektra«, sagte Kjell. »Da geht es um
den Areopag.«
»Ja, das sollen Belegstellen sein. Josefin hat sich
vor allem mit dem frühen Areopag beschäftigt, also seit der
Gründung bis zu … Effialtes oder so ähnlich.«
»Er leitete die letzte Stufe der Demokratisierung
ein«, sagte Barbro.
»Jedenfalls schreibt sie viel über den Ursprung des
Areopags, das Wort hat die Bedeutung ›Hügel des Ares‹, und eine
Verbindung zu den Amazonen gibt es auch, aber das habe ich nicht
mehr im Kopf.«
»Willst du auf das Poster hinaus?«, fragte
Kjell.
»Anscheinend gab es in dem Gebäude auch einen Altar
für die Erinnyen. Dorthin konnte man vor ihnen fliehen. Es war eine
Art Asyl.«
»Das mit den Rachegöttinnen ist eine zu
naheliegende Verbindung«, sagte Kjell kopfschüttelnd. »Die tauchen
ja in unseren Texten gar nicht auf. Ich habe die Texte sehr
sorgfältig gelesen, und dabei ist mir etwas aufgefallen. Etwas
stimmt damit nicht. Es ist das Metrum, das nicht mit dem Original
übereinstimmt, außer bei Hesperias Brief. Die schwedischen Zettel
sind eigenartig.« Kjell sah auf und bemerkte, dass ihn alle
ansahen. »Wer das ins Schwedische übersetzt hat, konnte entweder
schlecht Griechisch oder kannte den Originalzusammenhang nicht.« Er
sah, dass die anderen nicht recht folgen konnten, und das war kein
Wunder. Sein Eindruck war selbst eher vage. »Ich habe sieben
Übersetzungen zu Hause, darunter alle schwedischen. Die
Aisakos-Übersetzung stimmt mit keiner überein. Ich vermute also,
dass Aisakos den Text aus einer anderen Übersetzung ins Schwedische
weiterübersetzt hat.«
»Hättest du das nicht gleich sagen können?«,
unterbrach Barbro.
Kjell wollte aber, dass die anderen den
Gedankengang verstanden, weil er noch eine andere philologische
Entdeckung gemacht hatte. »Der Satzbau klingt unschwedisch. Es ist
zwar nicht ungewöhnlich, dass man den Satzbau des Originals
übernimmt, vor allem, wenn es ein Versmaß gibt, aber hier ist das
Versmaß nicht rein erhalten, und wenn ich es zurückübersetze,
erhalte ich keinen griechischen Satzbau, also nicht die
Originalversion.«
»Aisakos spricht also noch eine andere Sprache«,
schloss Sofi ganz richtig.
»Nicht nur das. Schwedisch ist nicht seine
Muttersprache. Wenn wir die Ausgabe finden, aus der er die
Übersetzung hat, kennen wir sein Herkunftsland.«
»Und welches könnte das sein?«, fragte Barbro.
»Immerhin hat jede Sprache einen charakteristischen Satzbau.«
»So genau kann ich es nicht sagen, aber die meisten
Übersetzungen findet man im Deutschen, im Englischen und im
Französischen.«
Henning kratzte sich an der Wange. »Josefin hat
Freunde in Saint Malo. Aber Rosenfeldt glaubt zu wissen, dass es
nur harmlose Bekanntschaften sind, die schon seit der Kindheit
bestehen.«
»Ist sie nicht unerwartet abgereist?«, warf Barbro
ein.
»Ja, aber allein.«
»Aber sie kann die Zettel doch in Frankreich
bekommen haben. Irgendein Jean-Luc könnte in sie verliebt
sein.«
»Josefin spricht fließend Französisch«, entnahm
Henning seinen Notizen. »Beherrscht ein Franzose so weit
Schwedisch, dass er diese Verse ins Schwedische übersetzen könnte?
Das ist doch unwahrscheinlich.«
»Es müsste zudem jemand sein, der sehr gut
Schwedisch spricht«, glaubte Kjell. »Immerhin ist unser Satzbau
nicht leicht und unterscheidet sich vom Französischen.«
»Ich kann Rosenfeldt fragen«, schlug Henning vor.
»Er müsste es wissen. Soweit ich weiß, kennt Josefin außer
Frankreich nur noch Italien, Dänemark und Südafrika.«
Dann schallte der schrille Klingelton durch die
Räume, den Sofi Per zugeordnet hatte, damit man sich beim Hinlaufen
schon mal auf ihn einstellen konnte. Sie sprang auf und lief
hinüber ins Büro. Alle waren vom langen Reden ermüdet und
lauschten, wie nebenan der Drucker summte. Sofi kehrte mit einem
Bogen Papier zurück. Ihre Augen funkelten vor Glück und vor
Überlegenheit.
Wortlos legte sie das Papier auf den Tisch und trat
einen Schritt zurück. Zuerst erkannten alle das Gemeinschaftslogo
von Euro- und Interpol und den Kopf eines internationalen
Haftbefehles, gefolgt von sieben Feldern mit Fingerabdrücken.
Beantragt worden war der Haftbefehl vom Dezernat 523 des
Landeskriminalamts in Bayern.
Das war, soweit Sofi es wusste, ein
Verwaltungsbezirk in Deutschland.