27
Sofi stand an der Spüle des Besprechungsraums und lud vier Punschrollen aus dem Karton auf einen Teller.
»Und?«, fragte sie. »Hast du etwas gefunden?«
Kjell brummte zur Bestätigung und trug die Kaffeelöffel zum Tisch. Er hatte zwei aufeinanderfolgende Nächte in seinem Arbeitszimmer daheim verbracht, einer kleinen Kammer, die gerade genug Platz für einen Schreibtisch bot und um drei Schritte auf- und abzugehen.
Er rief in den Gang hinaus, dass der Kaffee fertig sei. Henning trug wie immer einen Stapel Unterlagen bei sich, der auch auf den zweiten Blick kein Ordnungsprinzip erkennen ließ. Barbro hatte ein bisschen Farbe bekommen, sie musste den Vormittag im Freien verbracht haben.
»Der zweite Zettel von Aisakos stammt aus einer Tragödie von Sophokles mit dem Titel ›Aleaden‹. Das Stück ist nur als Fragment überliefert, und natürlich steckte es dann in jenem Sonderband, den ich bei der Auswahl zuerst ausgeschlossen hatte. Ihr wisst ja, wie das Leben zu mir ist.«
Sofi steckte sich das eine Ende ihrer grünen Punschrolle in den Mund. Sie steckte sich ständig etwas in den Mund, ob Lebensmittel oder Bleistifte. Im Moment des Abbeißens schielte sie sogar ein wenig nach unten, was eine Gier verriet, die ganz tief in ihr steckte.
»Der erste Zettel nun«, fuhr Kjell fort. »Mit dem hatte ich so einige Schwierigkeiten. Ich bin soweit zu glauben, dass es ihn nicht gibt. Jedenfalls ist es nichts aus dem alten Griechenland.«
»Erster und zweiter Zettel!«, nuschelte Sofi hinter der vorgehaltenen Hand. »Das gibt ja nur unsere Fundreihenfolge wieder.«
»›Dich schützt Artemis‹, das ist also nicht griechisch?«, hakte Barbro nach.
»Er ist dem Charakter nach ähnlich, aber es ist nicht original. Ich habe ähnliche Sätze gefunden in einem Liebesdialog von Theokrit, dort sagt ein Mädchen: ›Er möge es werfen, mich schützt Artemis.‹ Was da geworfen wird, ist das Netz des Eros, also das Verliebtsein. Davor soll Artemis das Mädchen schützen. Begonnen hat alles so: Wir hatten einen Mord und den Zettel. Da lag es nah, dass wir den Inhalt auf das Ereignis bezogen haben. Die Gleichzeitigkeit war aber künstlich. Der Zettel lag dort ja schon länger, und er wäre dort geblieben, wenn das Ereignis ihn nicht zu Tage gefördert hätte.«
»Genau zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen.« Sofi lächelte, um ein wenig bescheidener zu wirken.
»Liebe also«, beendete Henning ein zwölfsekündiges Gruppenschweigen. »Das Netz des Eros soll also die Liebe sein, habe ich das richtig verstanden? Das Netz taucht in unserem Zettel doch gar nicht auf, die Sätze gleichen sich nur im Aufbau und in Artemis. Mir war bisher nicht bekannt, dass Artemis etwas mit Liebe zu tun haben soll.«
»Die hat doch Pfeil und Bogen«, stimmte Sofi zu.
»Sie ist die Göttin der Jagd«, bestätigte Barbro kraft ihres dreijährigen Besuchs des humanistischen Gymnasiums. »Sie ist auch die Beschützerin der Frauen vor der Entjungferung.«
Kjell beglückwünschte Barbro zu ihrer Bildung. »Und sie ist die Göttin des Mondes und des Waldes.«
Henning hob die Hand. Er war noch nicht fertig gewesen. »Die Gleichzeitigkeit ist nicht zufällig, wie du annimmst. Wenn Artemis also vor der Liebe schützen soll und nicht vor einem Profikiller, dann haben wir ebenfalls zwei Männer in dieser Rechnung, die sonst keiner kennt: Aisakos, der Verfasser des Briefes, und den mit Entjungferung drohenden Eros.« Henning befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers und blätterte in seinen Unterlagen. »Vater und Bruder sind sich sicher, dass Josefin schon einmal intimen Kontakt zu Männern hatte, bei der Toten liegt uns ein Attest vor. Sie war keine Jungfrau mehr.«
»Was willst du sagen?«, fragte Barbro.
»Dass die Briefe auf jeden Fall etwas bedeuten, wenn es Briefe sind. Und dann haben wir ja noch den Brief von Hesperia, der ganz sicher ein Brief ist. Es gibt also einen Aisakos.«
Kjell schwieg. Es verwunderte ihn, wie wenig sie wussten. Es gab keine Fingerabdrücke auf den beiden Zetteln. Per konnte nur vermuten, dass das Papier angefasst worden war. Das bedeutete aber noch nicht, dass jemand vermieden hatte, Abdrücke zu hinterlassen. Auf Papier mit dieser Struktur bildeten sich eben nur schwer brauchbare Abdrücke.
»Was ihr über Artemis gesagt habt, lässt mich an das Plakat in Josefins Zimmer denken«, wendete Barbro ein. »Vielleicht meint der Name hier keine Göttin.«
»Eine Organisation?«, begriff Sofi.
»Vielleicht, ja.«
»Wäre kein schlechter Name für eine militante Frauengruppe, wenn ihr mich fragt.«
Barbro gab Henning zu verstehen, dass ihn keiner fragte.
»Und Aisakos?«, wollte Sofi wissen.
»Es sind auf jeden Fall Tarnnamen. Aisakos und Hesperia.«
»Oder ein Spiel.«
Alle sahen Barbro an.
»Mögt ihr keine Spiele? Eine Albernheit unter Verliebten.«
Das Gespräch wurde von jemandem unterbrochen, der nie albern war. Per öffnete ohne Anklopfen die Tür und schritt durchs Zimmer. »Ich habe wenig Zeit. Kann ich einen Stuhl bekommen?«
Sofi sprang auf und holte einen fünften Stuhl aus dem Büro. Per setzte sich und öffnete die graue Mappe.
»Beim Brief sieht es schlecht aus. Die Oberfläche ist noch poröser als die der Zettel. Allerdings gibt das Papier selbst Auskunft. Es ist eigentlich gar kein Papier, sondern Baumwolle, und dieses hier wird handgeschöpft an nur einem einzigen Ort der Welt mit dem Namen Bécherel. Und man kann es nur dort kaufen in nur einem einzigen Geschäft.«
»Das liegt mitten in der Bretagne«, wusste Kjell. »Nicht mal eine halbe Stunde von Saint Malo entfernt. Wie hast du das nur herausgefunden?«
»Es gibt ein Wasserzeichen im Innenfutter.«
Henning stemmte sich auf. »Bin gleich wieder da.«
Per sah Henning skeptisch hinterher. »Die Tinte ist eine spezielle Chinatusche, die es überall in Europa zu kaufen gibt. Die Metallsalze machen sie leicht identifizierbar. Hochgiftig, das Zeug, kann man noch in den Zellen der Kindeskinder nachweisen.«
»Du sagtest, du habest wenig Zeit«, brachte Kjell in Erinnerung.
»Ja richtig. Wir haben Fingerabdrücke auf dem Buch, und zwar viele. Sehen mir männlich aus. Einige sind verwischt. Offenbar hat der Besitzer geschwitzt oder sich vorher eingecremt. Ich habe bald achtzig Minutien gefunden, aber keinen Datenbankeintrag.«
»Kann eine Aushilfe im Buchgeschäft gewesen sein«, überlegte Sofi.
»Unwahrscheinlich«, erwidert Per. »Es gibt sie auch innen.«
Henning kehrte zurück. Er ruckte den Bund seiner Hose zurecht und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Rosenfeldt war letztes Jahr zusammen mit seiner Tochter dort. Damals habe sie kein Papier gekauft, behauptet er. Sie fährt aber in jedem Sommer mindestens einmal hin. Bécherel ist nicht mehr als ein Dorf; das Besondere daran ist, dass es dort fast nichts anderes als Buchgeschäfte gibt.«
Per nickte desinteressiert und erhob sich. »Ich melde mich, wenn Interpol sich meldet. Aber macht euch keine Hoffnungen, es ist ja ein schwedisches Buch.«
»Jetzt wird es interessant«, fand Kjell, als die Tür krachend ins Schloss gefallen war. »Also hat Josefin das Papier gekauft.«
Die Fingerabdrücke der Toten waren in Frankreich nicht bekannt, und auch in keinem anderen Land. Aus der Bretagne gab es auch keine Vermisstenmeldung, die auf die Tote zutreffen könnte. Henning hatte sich am Vormittag die Videos von Josefins Ankunft in Terminal 5 in Arlanda angesehen und ihre Route zum Ausgang über sieben Kameras verfolgt. Sie war allein angekommen, hatte mit keinem gesprochen und war am Ende allein in den Flughafenbus nach Stockholm gestiegen. Der Busfahrer, bei dem Josefin eine Fahrkarte gekauft haben musste, und auch der Mann, der das Gepäck einlud, hatten sich natürlich an nichts mehr erinnern können. Wenn man nur wüsste, wo sie ausgestiegen war. Die Transferbusse hielten zwischen Flughafen und Stadt ja an so gut wie jeder Kreuzung. Auszuschließen war nur, dass Josefin am Centralbahnhof, der Endstation, ausgestiegen und zur U-Bahn gegangen war. Henning hatte auch diese Videoaufzeichnungen überprüft. Deshalb war anzunehmen, dass sie schon am Sankt-Eriksplan ausgestiegen sein musste. Das lag ganz nah bei ihrer Wohnung.
Das nächste Thema war Sofis Besuch bei der Dozentin.
»Die Dozentin weiß nicht, ob Josefin Griechisch konnte. In ihrer Arbeit gibt sie Zitate auf Englisch wieder. Es ist allerdings üblich, dass man nur Übersetzungen liest, weil die meisten kein Griechisch mehr können. In der Schule hat sie es jedenfalls nicht gelernt.«
Sofi zog einen Zettel hervor und schob ihn zu Kjell. Dort hatte die Dozentin zwei Stellen notiert: Or 1648 ff und El 1258 ff.
»Orest und Elektra«, sagte Kjell. »Da geht es um den Areopag.«
»Ja, das sollen Belegstellen sein. Josefin hat sich vor allem mit dem frühen Areopag beschäftigt, also seit der Gründung bis zu … Effialtes oder so ähnlich.«
»Er leitete die letzte Stufe der Demokratisierung ein«, sagte Barbro.
»Jedenfalls schreibt sie viel über den Ursprung des Areopags, das Wort hat die Bedeutung ›Hügel des Ares‹, und eine Verbindung zu den Amazonen gibt es auch, aber das habe ich nicht mehr im Kopf.«
»Willst du auf das Poster hinaus?«, fragte Kjell.
»Anscheinend gab es in dem Gebäude auch einen Altar für die Erinnyen. Dorthin konnte man vor ihnen fliehen. Es war eine Art Asyl.«
»Das mit den Rachegöttinnen ist eine zu naheliegende Verbindung«, sagte Kjell kopfschüttelnd. »Die tauchen ja in unseren Texten gar nicht auf. Ich habe die Texte sehr sorgfältig gelesen, und dabei ist mir etwas aufgefallen. Etwas stimmt damit nicht. Es ist das Metrum, das nicht mit dem Original übereinstimmt, außer bei Hesperias Brief. Die schwedischen Zettel sind eigenartig.« Kjell sah auf und bemerkte, dass ihn alle ansahen. »Wer das ins Schwedische übersetzt hat, konnte entweder schlecht Griechisch oder kannte den Originalzusammenhang nicht.« Er sah, dass die anderen nicht recht folgen konnten, und das war kein Wunder. Sein Eindruck war selbst eher vage. »Ich habe sieben Übersetzungen zu Hause, darunter alle schwedischen. Die Aisakos-Übersetzung stimmt mit keiner überein. Ich vermute also, dass Aisakos den Text aus einer anderen Übersetzung ins Schwedische weiterübersetzt hat.«
»Hättest du das nicht gleich sagen können?«, unterbrach Barbro.
Kjell wollte aber, dass die anderen den Gedankengang verstanden, weil er noch eine andere philologische Entdeckung gemacht hatte. »Der Satzbau klingt unschwedisch. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass man den Satzbau des Originals übernimmt, vor allem, wenn es ein Versmaß gibt, aber hier ist das Versmaß nicht rein erhalten, und wenn ich es zurückübersetze, erhalte ich keinen griechischen Satzbau, also nicht die Originalversion.«
»Aisakos spricht also noch eine andere Sprache«, schloss Sofi ganz richtig.
»Nicht nur das. Schwedisch ist nicht seine Muttersprache. Wenn wir die Ausgabe finden, aus der er die Übersetzung hat, kennen wir sein Herkunftsland.«
»Und welches könnte das sein?«, fragte Barbro. »Immerhin hat jede Sprache einen charakteristischen Satzbau.«
»So genau kann ich es nicht sagen, aber die meisten Übersetzungen findet man im Deutschen, im Englischen und im Französischen.«
Henning kratzte sich an der Wange. »Josefin hat Freunde in Saint Malo. Aber Rosenfeldt glaubt zu wissen, dass es nur harmlose Bekanntschaften sind, die schon seit der Kindheit bestehen.«
»Ist sie nicht unerwartet abgereist?«, warf Barbro ein.
»Ja, aber allein.«
»Aber sie kann die Zettel doch in Frankreich bekommen haben. Irgendein Jean-Luc könnte in sie verliebt sein.«
»Josefin spricht fließend Französisch«, entnahm Henning seinen Notizen. »Beherrscht ein Franzose so weit Schwedisch, dass er diese Verse ins Schwedische übersetzen könnte? Das ist doch unwahrscheinlich.«
»Es müsste zudem jemand sein, der sehr gut Schwedisch spricht«, glaubte Kjell. »Immerhin ist unser Satzbau nicht leicht und unterscheidet sich vom Französischen.«
»Ich kann Rosenfeldt fragen«, schlug Henning vor. »Er müsste es wissen. Soweit ich weiß, kennt Josefin außer Frankreich nur noch Italien, Dänemark und Südafrika.«
Dann schallte der schrille Klingelton durch die Räume, den Sofi Per zugeordnet hatte, damit man sich beim Hinlaufen schon mal auf ihn einstellen konnte. Sie sprang auf und lief hinüber ins Büro. Alle waren vom langen Reden ermüdet und lauschten, wie nebenan der Drucker summte. Sofi kehrte mit einem Bogen Papier zurück. Ihre Augen funkelten vor Glück und vor Überlegenheit.
Wortlos legte sie das Papier auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. Zuerst erkannten alle das Gemeinschaftslogo von Euro- und Interpol und den Kopf eines internationalen Haftbefehles, gefolgt von sieben Feldern mit Fingerabdrücken. Beantragt worden war der Haftbefehl vom Dezernat 523 des Landeskriminalamts in Bayern.
Das war, soweit Sofi es wusste, ein Verwaltungsbezirk in Deutschland.
Die Falsche Tote
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