84
Der Wald lichtete sich. Sie hatten das Ende des Höhenkamms erreicht. Es war richtig gewesen, darüber zu laufen und nicht dem Ufer zu folgen, wo der Fels inzwischen so steil ins Meer abfiel, dass eine Umkehr nicht zu verhindern gewesen wäre. Wie immer gab das Luftbild eine sanfte Fläche vor, doch in Wahrheit war Yxlö ein schroffer und zerklüfteter Fels, der viel weiter bis nach Süden bewaldet war, als Sofi geglaubt hatte. Zwischen den Bäumen zwangen nasses Moos und Farn sie dazu, jeden Schritt mit Sorgfalt zu planen. Von diesem Bodenbewuchs war auf der Luftaufnahme nichts zu sehen gewesen. Sie mussten eine Schlucht bewältigen. Beim Abstieg riss Henning das ganze Moos und morsche Wurzeln mit sich hinab.
Doch dann lichtete sich der Wald, viel später als erwartet. Vor ihnen fiel das Steinplateau sanft ab. Der unbewachsene Felsboden leuchtete silbern.
»Weißt du noch, was du über Athene gesagt hast?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Kjell keuchend. »Sie ist die Göttin des Mondes und des Waldes.«
»Mich schützt Artemis«, sagte Sofi.
Sofi sah das Meer als schwarze Fläche. Von dort blies ihr warmer Wind ins Gesicht. Am Horizont ballten sich Lichter zu einem großen Haufen. Das war Nynäshamn am Festlandufer. Es wirkte zum Greifen nah. Das Mondlicht ließ den Felsboden so hell leuchten, dass sie inzwischen marschieren konnten, ohne bei jedem Schritt auf den Grund achten zu müssen. Auf einmal fiel das Plateau steil ab. Kjell war einen Schritt vor ihr und breitete die Arme aus.
»Da ist es! Wir sind genau richtig.«
Sofi machte noch zwei Schritte. Unter ihnen lag aber noch gar nicht das Wasser. Sie standen direkt über der Schüssel, die dort unten auf dem breiten Vorsprung errichtet worden war, damit der Fels die Strahlung abfing. Sofi hatte nicht geglaubt, dass die Schüssel so riesig sein würde, und bekam eine Gänsehaut, einerseits vor Bewunderung, aber auch, weil sie sich neben so großen Dingen unbehaglich fühlte, wenn sie sie nicht schon lange kannte oder selbst gebaut hatte.
Das Mondlicht gab all den grauen Dingen dieselbe gelbliche Nuance, dem unbewachsenen Fels und auch dem Metall. Es war, als stünden sie selbst auf dem Mond, denn um die Insel herum war das Meer so finster, dass man den Horizont nicht ausmachen konnte.
»Da steht jemand«, flüsterte Henning und deutete hinab. Kjell und Sofi mussten sich auf dem steil abfallenden Hang ein wenig zu Henning bewegen, damit sie die Gestalt zwischen dem Gestänge unter der Schüssel sehen konnten. Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt und sich an den Betonsockel gelehnt.
Henning hatte als Einziger ein Gewehr. Er legte es an. »Das ist ein Mann.«
Kjell kletterte wieder ein Stück hinauf. Sofi folgte ihm nach einiger Zeit und fand ihn mit dem Telefon am Ohr.
»Der Hubschrauber macht einen Überflug. Mal sehen, wie er darauf reagiert.«
Sie kletterten wieder zu Henning. Der Mann hatte begonnen, auf und ab zu gehen. Er rauchte. Von hier oben sah es aus, als hätte er keine Haare auf dem Kopf.
Sie warteten. Nach einigen Minuten näherte sich das Rattern vom Meer, veränderte seinen Klang und wurde lauter und zu einem Schmettern, aber es war schwer, die Richtung auszumachen, aus der sich der Hubschrauber näherte. Der Mann blickte zum Himmel. Auf einmal nahm der Hubschrauber Gestalt an. Er stand über dem Meer in der Luft und war unbeleuchtet. Der Mann riss den Arm in die Höh. Der Knall war kaum zu hören. Sofi musste ihre wehenden Haare loslassen und sich die Ohren zuhalten, als der Hubschrauber über sie hinwegflog und über der Insel verschwand.
Henning legte wieder das Gewehr an und zielte. Schießen würde er ohne Absprache nicht. Er wollte mit dem Visier mehr über den Mann herausfinden, der jetzt so aufgeregt am Ufer auf- und abging, dass Henning mit dem Gleichgewicht auf dem schrägen Untergrund kämpfte und bald genug hatte. Sofi verlangte das Gewehr. Der Blick durch das Visier übertraf ihre Erwartung.
»Wie ein Mondfilter«, sagte sie zu Kjell. Kjell wusste natürlich nicht, was das war. »Eine grüne Linse, die man ans Teleskop schraubt, wenn man den Mond betrachtet. Dadurch werden die Krater deutlicher.« Sofi hatte jetzt wirklich das Gefühl, auf dem Mond zu stehen. Der Mann hielt etwas in der Hand, auf das er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Sofi reichte Henning das Gewehr, und auch er vermutete, dass es ein Telefon war.
Kjell zog sein Telefon aus der Brusttasche und drückte eine Taste. In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes. Sofi schrak so zusammen, dass Kjell nach ihr greifen und sie festhalten musste. Ihr Schrei wurde von einem Quietschen übertönt, das alles durchdrang. Die Schüssel bewegte sich, sie drehte sich nach rechts. Die Bewegung machte Sofi mehr Angst als der Krach. Und dann erschrak Sofi noch einmal, als die Schüssel sich neigte und nach hinten zu kippen schien. Genau auf sie. Sofi taumelte zurück. Sogar Henning setzte den linken Fuß nach hinten, aber die Schüssel kippte nicht, sie neigte sich nur um einige Grad.
»Wow!«, flüsterte Kjell und sah auf sein Telefon. »Da habe ich wohl die falsche Taste gedrückt.«
Sofi keuchte und lachte gequält auf. Der Mann stand direkt vor der Schüssel und war in seiner Position erstarrt. Für ihn musste es noch schlimmer gewesen sein.
Aus Reflex schlug sich Sofi auf den Unterarm. Aber es war keine Mücke. Alle Härchen hatten sich aufgestellt. Ein Brummen ertönte, es klang ganz tief und gleichmäßig. Der Mann schien nicht zu hören, als sich ein anderes Brummen aus dem Krach herauslöste. Erst als der Hubschrauber seine Scheinwerfer einschaltete, fuhr er herum und blickte zum Wasser. Er schoss wieder. Doch der Hubschrauber war viel zu weit draußen über dem Wasser.
Der Mann gab drei Schüsse ab.
»Ist der blöd!«, flüsterte Henning und schüttelte den Kopf. »Wie will er den Hubschrauber mit der Pistole treffen?«
Kaum hatte Henning den Satz beendet, da fiel der Mann in weitem Bogen nach hinten und blieb reglos liegen. Der Hubschrauber drehte ab.
»Was für ein Schuss!«, sagte Henning.
Obwohl sie das Bordgewehr mit seinem langen Lauf von zahlreichen Hubschrauberflügen kannten, standen sie doch alle drei wie gebannt von der Wucht, mit der der Körper vom Boden gerissen worden war, einfach nur da, bis in Kjells Hand wieder das Telefon klingelte. Das Klingeln klang merkwürdig verzerrt. Er sprang auf und stürzte den Fels hinauf. Er lief ein ganzes Stück und blieb dann vornübergebeugt stehen. Nach einer Minute kam er zurück.
»Der Hubschrauber muss in Nynäshamn landen. Sie haben Probleme mit der Elektronik. Auch die Küstenwache kann sich nicht nähern. Da vorn soll eine Hütte liegen, die zur Schüssel gehört.«
Als sie zum Abhang zurückkehrten, sahen sie Henning unten beim Toten. Sie folgten dem Grat bis zu der Stelle, wo man absteigen konnte. Vor der Schüssel verstanden sie, warum der Mann so erstarrt war, nachdem sich die Schüssel bewegt hatte.
»So muss Strahlentherapie sein!«, schrie Henning, dessen Haare steil zu Berge standen. Er durchsuchte die Taschen des Mannes, fand jedoch nichts. Sofi betrachtete voll Faszination und Sorge die Anzeige ihres Telefons. Es würde sich wohl nicht mehr erholen.
Als die Schüssel wieder zu quietschen begann, war Sofis Schrei etwas lauter als beim ersten Mal. Sie hatte eigentlich selten Angst, aber das hier war schlimmer, als wenn sie nassgeschwitzt von ihrem Bärentraum erwachte, wo sie ein aufrecht laufender Bär durch den Wald verfolgte und immer näher kam.
Die Schüssel kippte jetzt nach vorn. Sie wollte nach vorn kippen, um Sofi zu erschlagen. Nach wenigen Grad entschied sie sich aber um. Kjell und Henning lachten, als es endlich hätte still sein können.
Von hier sah man die Hütte.
Die Falsche Tote
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