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Dienstag, 7. August
Lautes Reifenquietschen drang durchs Fenster und
ließ Sofi Johansson erwachen. Mit geschlossenen Augen wartete sie
auf den sicheren Knall. Doch der kam nicht. Stattdessen gab der
Wagen Gas und brauste davon. Sie spürte die warme Sonne auf ihrem
Gesicht und schlug das rechte Auge auf. In dem Blumenkasten, der
die Hotelgäste davor bewahrte, aus dem bis zum Boden reichenden
Fenster zu fallen, saß eine Drossel und wandte Sofi den Hintern zu.
Sie lag mit der linken Wange tief im Kissen und rührte sich nicht.
Auch die Drossel saß ganz reglos da in der warmen Morgensonne und
blickte hinab auf die Straße. Es musste noch ganz früh sein, doch
draußen hatte bereits der Morgenverkehr eingesetzt. Sofi hörte in
regelmäßigen Phasen lange Autokolonnen am Hotel vorbeifahren,
dazwischen herrschten Stille und das Rauschen des nahen
Flusses.
Sie erwachte immer bei Anbruch des Tages, wenn sie
am Abend ein bisschen zu viel getrunken hatte. Sie hatten ein
schönes Lokal gefunden und gegessen. Dann hatten sie drei Flaschen
Rotwein lang fünf Fragen durchgespielt, wobei einmal Kjell und ein
andermal sie mit dem Fragen dran gewesen war. Sie hatten mehrere
Theorien entwickelt und in Diagrammen festgehalten. Kjell glaubte
daran, dass alles auf den Vater hinauslief. Sofi konnte sich
erinnern, dass sie das eifrig bestritten hatte. Zum ersten Mal
hatte sie ausführlich dargelegt, was seit ihrem Besuch bei Josefins
Dozentin als Theorie in ihrem Kopf Gestalt annahm. Zwischen
Josefins Arbeit, die Sofi inzwischen dreimal gelesen hatte, und den
Spuren in der Wohnung musste eine Verbindung bestehen. Josefin
konnte kein Mittel zum Zweck sein, nur weil sie die Tochter des
Justizkanzlers war. Sofi hatte Kjell seine eigenen Vorhaltungen
vorgeworfen. Dass die Tochter des Justizkanzlers mit derselben
Wahrscheinlichkeit Opfer eines Verbrechens werden könne wie die
Tochter eines Bauarbeiters. Josefin musste selbst etwas mit der
Sache zu tun haben, auf ganz inhaltliche Weise. Das war doch
klar.
Kjell hatte alles bestritten und versucht, sie mit
der dritten Flasche Rotwein auf seine Seite zu bringen. Er hatte
sie gewarnt und ein Dutzend Anekdoten aus seiner Vergangenheit als
Ermittler aufgetischt, bei denen er oder andere irrtümlich eine
Verbindung zwischen zwei Dingen angenommen hatten, nur weil sie
sich im Aussehen glichen. Das sei bei Ermittlungen der häufigste
und folgenschwerste Fehler.
Sofi streckte den Arm zum Nachttisch aus und
fischte nach ihrem Telefon. Es war nicht mal sieben Uhr. Dabei
waren sie erst um neun im Frühstückssaal verabredet. Sie stieg aus
dem Bett und trank im Bad zwei Zahnputzgläser Leitungswasser. In
aufrechter Körperhaltung war der Wein wieder da. Durch die
Badezimmertür sah sie, wie die Drossel sich abstieß und in den Tag
stürzte. Sofi zog ihren Koffer unter dem Bett hervor und grub in
ihren Sachen nach den Kopfschmerztabletten. Mechanisch schlüpfte
sie in ihre Laufhose und ein frisches T-Shirt. Jenseits der Straße
lag gleich der Fluss. Dorthin wollte sie. An beiden Seiten des
Ufers gab es Parkanlagen, wo sie ein bisschen herumlaufen
konnte.
Sie schlenderte zwischen den Bäumen hindurch direkt
zum Wasser. An der Staustufe beugte sie sich über das Geländer und
hielt ihr Gesicht in das Sprühwasser. Das Tosen eines Flusses
entspannt das Denken, als Värmländerin wusste sie das. Eine
Viertelstunde lang stand sie da, stütze die Ellenbogen auf das
Geländer und sah zu, wie sich das Wasser unter ihr neu
mischte.
Dann suchte sie sich mit ihrem Notizblock eine
Sitzbank und legte eine lange Liste an, während junge Frauen an ihr
vorbeijoggten. Sie zog ihr Telefon aus der Tasche. Es war 7 Uhr 10.
Das war genau der Zeitpunkt, wo sich zu Hause auf dem Hof ihrer
Stiefeltern die Kühe Lise und Emma mit leeren Eutern auf den Trog
stürzten und in der Küche der zweite Kaffee aufgegossen wurde. Sie
konnte vor sich sehen, wie Bengt und Papa aus unterschiedlichen
Richtungen über den Hof auf das Haus zugingen. Sofi wartete noch
zehn Minuten, also so lange, wie Papa brauchte, um die erste
Untertasse voll Kaffee zu schlürfen. Dann rief sie an.
Dass Sofi in Deutschland war, wunderte die Leute
vom Johansson-Hof überhaupt nicht. Schon als Mädchen hatte es sie
ja beim Spielen bis zum Birkenweiher verschlagen. Bengt zählte auf,
wie oft man sie dort hatte suchen müssen. Es entstand ein kurzes
Schweigen, wie es auf dem Land am Telefon gang und gäbe war. Sofi
wurde wieder klar, dass die Leute auf so mondäne Neuigkeiten nichts
zu antworten wussten. Und wenn man nichts zu sagen hatte, dann
schwieg man. Daran musste sie sich erst wieder gewöhnen. Wenn sie
den Hof besuchte, dann ließ sie sich dazu hinreißen, eine Stunde
lang von ihrem Leben zu erzählen. Das machte die Leute nervös. In
den ersten Tagen telefonierte sie dann immer am Abend mit einer
Freundin aus Stockholm, um sich abzureagieren, bis es ihr nach
Tagen ganz natürlich vorkam, ihre Mitteilungen gut zu
dosieren.
»Und was macht ihr so?«, fragte sie.
»Ich habe mir gestern mal ordentlich die Große
vorgenommen«, sagte Bengt und meinte damit die größere der beiden
Scheunen, wo der Traktor überwinterte.
Sofi hatte den metallisch-sauren Geruch in der
Nase, der auf der anderen Seite des Hörers noch in der Küche hängen
musste. Das roch man immer tagelang, wenn Mama neue Außenfarbe
zusammengekocht hatte. »An der Rückwand, oder?«
Zwei Frauen joggten an Sofi vorbei. Ihr Blick fiel
auf die Gestalt am anderen Ufer. Wahrscheinlich ein Hundebesitzer.
Sofi versuchte, den Hund zwischen den Büschen auszumachen, während
sie auf Bengts Antwort wartete.
»Da gab’s’ne Menge Planken, die rausmussten«, sagte
er irgendwann. »Kommst du schon am Freitag?«
Sofi hörte die Frage, aber sie drehte in ihrem
Gehirn nur ihre Runden, ohne bearbeitet zu werden. Sofi
konzentrierte sich ganz auf die Gestalt, die dort drüben vor den
Bänken auf- und ablief. Während in ihrem Kopf etwas reagierte, was
sie nicht verstand, antwortete sie mechanisch mit ja.
»Ich rufe am Samstag noch einmal an, ja?«, sagte
sie und ließ ihre rechte Hand mit dem Telefon in ihren Schoß
sinken. Obwohl der Mann so weit weg war, konnte sie ihn in allen
Einzelheiten erfassen, so wie man im Stimmengewirr einer vollen
U-Bahn auf einmal ein Gespräch am anderen Ende des Waggons klar
versteht. Wo hatte sie den Mann schon einmal gesehen? Sofi spulte
alle Begegnungen seit dem Flug vor ihrem Auge ab. Es musste viel
länger her sein. Obwohl der Mann schlenderte und nach einigen
Schritten immer wieder kurz stehen blieb, hatte er dabei den Arm
zum Kopf gehoben. Er telefoniert, dachte Sofi. Ihr Eindruck konnte
ein Phänomen sein, das man bei der Polizei oft erlebte. Wenn man
Angst hatte oder aufgeregt war, oder wenn es zu viele Reize gab,
dann konnte es passieren, dass das Gehirn die Information zweimal
abspeicherte, was dazu führte, dass man etwas zu kennen glaubt,
obwohl man es nie zuvor gesehen hat.
Sofi stand abrupt von ihrer Bank auf und lief
schräg über die Aue auf die Holzbrücke zu. Nun versperrten Büsche
die Sicht auf den Mann. Sie beschleunigte. Als sie die Brücke
erreichte, war der Mann von seiner Stelle verschwunden. Sie rannte
über die Brücke und hinein in den dunklen Weg, auf den die
Baumkronen lückenlosen Schatten warfen. Der Mann konnte nur hier
hineingegangen sein, wenn er nicht in die dichten Büsche gehechtet
war. Der Weg stieg sogleich steil an und wand sich in Serpentinen
an der hohen Böschung hinauf. Sofi lief weiter auf dem Gemisch aus
Kies und weichem Torf. Ihr Blick reichte zwanzig Meter bis zur
nächsten Kehre. Dort angekommen blieb sie stehen und horchte.
Weiter oben lief jemand. Sie setzte sich wieder in Bewegung und
nahm Kehre um Kehre, bis es auf einmal gleißend hell wurde. Sie
hatte die Straße erreicht und blickte in die tief stehende
Morgensonne. Sie hatte sich nicht geirrt. Aufgeregt ging sie in die
eine und in die andere Richtung an den parkenden Autos entlang. Es
gab zu viele Möglichkeiten. Ihr war ganz heiß. Wenn sie morgens
rennen musste, staute sich sofort eine unbehagliche Wärme in ihr.
Sie konnte nicht verstehen, wie Menschen morgens Sport treiben
konnten. Sie suchte sich eine Stelle, wo die Bäume sich ein wenig
öffneten und einen Blick hinab auf den Fluss zuließen. Unter den
sich bewegenden Punkten spähte sie nach der braunen Lederjacke, bis
sie zu Ende gekeucht hatte. Dann stieg sie den Weg wieder hinab.
Erst jetzt fiel ihr auf, wie steil er tatsächlich war. Jeder
Schritt abwärts versetzte ihr einen Schlag, den ihre steifen Knie
bis zum Kopf weiterleiteten. Sie hatte sich nicht geirrt, der
currybraune Bart, den hatte sie schon einmal gesehen, und das war
nicht in den letzten Tagen gewesen.
Er hatte die ganze Nacht wie ein Brett auf dem
Rücken gelegen. Alles Schlechte in ihm war nach unten gesackt und
hatte sich in seinem Hinterkopf gesammelt, dicht unter der
Schädeldecke. Kjell stöhnte und hob benommen den Kopf. Rotwein! Da
wachte er am nächsten Morgen mit dem Gefühl auf, bis zum Hals in
einem Sumpfloch zu stecken. Oder genauer gesagt, in drei
Sumpflöchern.
Er robbte zum Ende des Bettes, bis er die roten
Ziffern auf dem Fernseher erkennen konnte. Acht Uhr und 38 Minuten.
Nach zwei Versuchen hatte er 38 von sechzig subtrahiert und wusste,
dass er noch 22 Minuten Zeit hatte. Oder 12 Minuten. Das konnte
auch sein, war aber unwahrscheinlicher. Von den zweiundzwanzig
Minuten verbrachte er sechzehn unter der Dusche. Dabei dachte er an
all die schönen salzigen Sachen, die am Frühstücksbüffet auf ihn
warteten. Damit würde er es schaffen. Er öffnete die Tür zum
Verbindungsraum der kleinen Suite. Der Besprechungstisch war mit
Papieren und Sofis Computerkram gefüllt. Wie sie das alles in den
kleinen Koffer hineinbekommen hatte, war wirklich unheimlich. Er
entdeckte sein Telefon auf dem Tisch und klappte es auf. Henning
hatte heute Morgen schon viermal angerufen. Kjell klappte das
Telefon zu. Er rief nie vor dem ersten Kaffee zurück. Und er nahm
auch nicht ab. Außer jetzt. Das Telefon vibrierte in seiner Hand.
Zum Glück war Henning ebenso einsilbig wie er an einem Morgen nach
drei Flaschen Cabernet. Deshalb war ein Gespräch möglich.
»Du solltest zur Rezeption hinuntergehen und am Fax
warten«, sagte Henning. Auch er klang müde, wie Kjell an seinem
langsamen Sprechen bemerkte.
Nach dem Auflegen horchte er an der Tür zu Sofis
Zimmer. Wenn man davon absah, dass ihre Lippen zu glänzen begannen,
so machte sich Alkohol bei ihr vor allem darin bemerkbar, dass sie
die räumliche Distanz und Unnahbarkeit aufgab, die man auch spürte,
wenn man nur zufällig neben ihr auf dem Bahnsteig wartete. Ganz
sicher war es ihr nicht bewusst, ganz sicher fragte sie sich
insgeheim, warum die anderen sich ihr nicht näherten.
Aus ihrem Zimmer drang kein einziges Geräusch. Er
klopfte sachte. Entweder schlief sie noch oder war längst nach
unten gegangen. Er klopfte noch einmal, bevor er die Tür einen
Spalt weit öffnete. Sie saß mit nassem Haar auf dem Bett und
schrieb in ihrem Notizblock. Das Handtuch, das bis vor Kurzem noch
ihr einziges Kleidungsstück gewesen war, lag neben ihr. Ihr Summen
brach sofort ab. Wie auch immer sie sein Eindringen augenblicklich
bemerkte, als sie ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, entdeckte
er das Kopfhörerkabel, das auf der Höhe ihrer Schultern unter dem
glänzenden Haar verschwand.
»Entschuldigung«, murmelte er so leise, dass er es
selbst kaum hörte. Noch nie wurde eine Tür so schnell geschlossen
wie in diesem Augenblick.
Er schloss die Augen, um kein Teil der
Weltgeschichte mehr zu sein. Das dauerte sieben Sekunden. Dann
stürzte er aus dem Zimmer und saugte auf dem Weg zum Frühstücksraum
so viel von dem Hotelflurgeruch in sich auf, wie es bedurfte, um
das brennende Bild auf seiner Netzhaut zu löschen. Aber der Anblick
der nackten Sofi würde schwerer wegzubekommen sein als der frische
Rotweinfleck auf seinem weißen Hemd.
Es dauerte neunzehn Minuten, bis Sofi in ihrer
weiten grünen Kargohose und dem langärmligen T-Shirt beim Frühstück
erschien. Der Tischnachbar erklärte Kjell gerade, dass die deutsche
Regierung die Reformierung der Rechtschreibung als richtiges Mittel
auserkoren hatte, um ihr Volk ins einundzwanzigste Jahrhundert zu
führen, deshalb sehe die Zeitung so merkwürdig aus. Sofi setzte
sich unauffällig und sortierte ihr Besteck. Kjell schenkte Kaffee
in ihre Tasse, wie er es am Morgen bei Linda oft tat. Leider
verkannte Sofi die väterliche Fürsorge dieser Geste. Alles war
peinlich. Sie flüchtete zum Büffet. Als sie zurückkehrte, war der
deutsche Vertreter aufgebrochen. Kjell öffnete die Mappe, in der
sich das neunseitige Fax von Henning befand, weil er wusste, dass
die Neuigkeit sie das peinliche Erlebnis sogleich vergessen lassen
würde. Er schwieg, während sie kauend die körnigen Fotos der Leiche
studierte und den Text entzifferte. Sie las den Obduktionsbericht
ganz sorgfältig.
»Also ein Doppelmord«, schloss sie. »Zwei identisch
ausgeführte Morde. Aber hier steht der Text auf dem Körper, während
er bei der Toten auf Zetteln steht. Woher wissen die denn, dass es
Aisakos ist?«
»Das liegt ja nahe, ein Doppelmord an Aisakos und
Hesperia. Jedenfalls sieht es so aus, als sollte dieses Bild
erzeugt werden.«
»Aber dann muss doch die Geschichte von Aisakos und
Hesperia irgendeine Bedeutung haben.«
»Mir fällt aber nichts ein. Es ist eine
Liebesgeschichte. Immerhin ist die mythische Hesperia auf der
Flucht vor Aisakos, der in sie verliebt ist. Dabei wird sie von
einer Schlange gebissen und stirbt. Aus Gram stürzt sich Aisakos
von einem Felsen und wird in einen Tauchvogel verwandelt. So steht
es in Ovids Metamorphosen.«
»Die Tote ist jedoch auch gestürzt, ebenso wie
Aisakos. Das passt also nicht zur Geschichte. Nur Josefin kann
Hesperia sein.«
»Aber sie hat den Brief ja nicht geschrieben, der
mit diesem Namen unterzeichnet ist. Den hat die Tote
geschrieben.«
Sofi zog Josefins Arbeit aus der Tasche, die sie
dort seit Tagen zusammengerollt spazieren trug. »Du sperrst dich
gegen den Gedanken, dass Josefin in die Tat verwickelt ist. Aber
sie ist die Einzige, die nachweislich über das mythologische
Knowhow verfügt. Weißt du schon, woher der Text stammt?« Sie
deutete auf das Obduktionsfoto.
»Das werde ich heute herausbekommen.«
»Wie gehen wir vor?«
»Du arbeitest die Liste von Mäusler ab, ich
verbringe den Tag in der Bibliothek.«