50
Linda hatte sich bei ihrer Arbeit an den Sechs-Bild-Blättern orientiert, die die Polizei verwendete. Auf einem Blatt sah man sechs Bilder des Toten, aufgenommen aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie hatte den Toten Leben in die Augen gelegt, wie Papa es von ihr verlangt hatte.
»Das hätten wir vielleicht früher schon machen sollen«, fand Sofi, als sie die Bilder betrachtete und dann auf den Scanner legte. »Jetzt sehen Hesperia und Aisakos aus wie ein Paar.«
Der Scanner summte. Sofi stellte sich ans Fenster. Weil die Fenster schmale Streifen waren, hatte man immer das Gefühl, aus einer Schießscharte zu blicken. Sofi liebte das Hinausblicken. Das Büro lag so hoch, dass man wie von einem Adlernest aus die Welt beobachten konnte. Nachdem der Scanner verstummt war, speicherte Sofi die Bilder auf einen Speicherstift.
Kjell hatte sie noch nicht in seinen Plan eingeweiht. Er wollte alles vom Augenblick abhängig machen, wenn er den Verhörraum betreten würde.
»Weißt du was, Papa?« Linda wippte auf seinem Stuhl vor und zurück und stieß sich dabei mit den Füßen von der Tischkante ab. »Ich weiß, wem die weiße Isetta gehört, die am Bergsunds Strand parkt.«
»Die steht doch schon ewig da.«
Linda nickte. »Einem alten Mann mit Schlapphut.«
 
Mit Amelies Computer unter dem Arm und dem Speicherstift in der Hand machte sich Kjell allein auf den Weg zum Verhörraum. Die Originalbilder hatte er auch dabei. Als er eintrat, wusste er nicht genau, wie lange Amelie diesmal schon wartete. Er ließ die Tür offen stehen, was den Spiegeleffekt der Glaswand aufhob. Das sollte Vertrauen wecken. Er selbst vertraute auf seine Überzeugungskraft.
Amelie zeigte erste Anzeichen seelischer Zermürbung. Ihr Haar hatte aufgehört, eine scharf begrenzte Fläche zu sein. An den Schläfen und über dem Ohr hatten sich Strähnen gelöst, was ihr den letzten Rest der Härte nahm. Die hatte aber vor allem durch die legere Kleidung gelitten, die ihr die Fügung für den heutigen Tag auf den Leib gelegt hatte.
Kjell ignorierte den Argwohn, den Amelie seinem Computer entgegenbrachte. Schnell richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf Kjells Tonfall, der seit dem letzten Gespräch ein anderer war. Er erklärte ihr mit reichlicher Offenheit, worum es ihm überhaupt ging. Dabei zeigte er ihr die Bilder und hoffte, sie würde Lindas Stil nicht erkennen. Das war nicht der Fall, denn Amelie hatte keine Ahnung, dass sie alles Linda zu verdanken hatte. Die Überzeugungskraft seiner Rede lag vor allem darin, dass Amelie endlich verstand, von welchem Kaliber diese Geschichte hier war. Nachdem er die Lage erklärt hatte, ließ sie eine halbe Minute verstreichen, bevor sie etwas sagte.
»An der Sache ist nur ein Haken«, begann sie und deutete auf die Zeichnungen. »Ich kenne weder das Mädchen noch den Mann.«
»Ich bin mir aber sicher, dass du jemanden kennst, der uns weiterhelfen kann. Immerhin wäre es den Versuch wert. Welche Weltanschauung du auch immer hast, diese beiden hier sind Opfer eines grausamen Mordes.«
Amelie kniff die Augen zusammen. »Ich habe keine andere Weltanschauung, sondern so ziemlich die gleiche wie du. Mein Perspektive ist nur eine andere.«
Kjell schob ihr den Computer hin und legte den Speicherstift darauf. »Ich bitte dich, uns zu helfen. Danach kannst du von mir aus gehen.«
Amelie betrachtete ihn mit einigem Leiden um ihre Mundwinkel. Er hatte in seinem Prolog durchblitzen lassen, dass man über die Dimension der Schwesternschaft durchaus Bescheid wusste.
»Was ist mit Berne Ahnlund?«, wollte sie zu guter Letzt noch wissen.
»Wir gehen davon aus, dass dir nichts an ihm liegt. Ist das richtig?«
»Nur weil ich mich nicht in die Zwänge einer Partnerschaft begebe, bedeutet das nicht, dass mir Menschen nichts bedeuten.«
Auf dem Weg zum Aufzug erinnerte er sich, dass er genau diesen Satz vor zwanzig Jahren zu einigen Menschen gesagt hatte. Er drückte auf den Aufzugknopf, froh, dass er mit keinem von ihnen mehr Kontakt hatte.
Welcher Sterbliche kann entgehn listenreichem Göttertrug? Das war einer der Sprüche, die Sofi gerne rezitierte, seit ihr in München das kleine Buch in die Finger geraten war. Es war nach Mitternacht, und Kjell wusste, dass er endlich einmal wieder gut schlafen würde, denn jetzt konnte er nicht mehr tun, als warten.
Die Falsche Tote
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