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Linda hatte sich bei ihrer Arbeit an den
Sechs-Bild-Blättern orientiert, die die Polizei verwendete. Auf
einem Blatt sah man sechs Bilder des Toten, aufgenommen aus
unterschiedlichen Perspektiven. Sie hatte den Toten Leben in die
Augen gelegt, wie Papa es von ihr verlangt hatte.
»Das hätten wir vielleicht früher schon machen
sollen«, fand Sofi, als sie die Bilder betrachtete und dann auf den
Scanner legte. »Jetzt sehen Hesperia und Aisakos aus wie ein
Paar.«
Der Scanner summte. Sofi stellte sich ans Fenster.
Weil die Fenster schmale Streifen waren, hatte man immer das
Gefühl, aus einer Schießscharte zu blicken. Sofi liebte das
Hinausblicken. Das Büro lag so hoch, dass man wie von einem
Adlernest aus die Welt beobachten konnte. Nachdem der Scanner
verstummt war, speicherte Sofi die Bilder auf einen
Speicherstift.
Kjell hatte sie noch nicht in seinen Plan
eingeweiht. Er wollte alles vom Augenblick abhängig machen, wenn er
den Verhörraum betreten würde.
»Weißt du was, Papa?« Linda wippte auf seinem Stuhl
vor und zurück und stieß sich dabei mit den Füßen von der
Tischkante ab. »Ich weiß, wem die weiße Isetta gehört, die am
Bergsunds Strand parkt.«
»Die steht doch schon ewig da.«
Linda nickte. »Einem alten Mann mit
Schlapphut.«
Mit Amelies Computer unter dem Arm und dem
Speicherstift in der Hand machte sich Kjell allein auf den Weg zum
Verhörraum. Die Originalbilder hatte er auch dabei. Als er eintrat,
wusste er nicht genau, wie lange Amelie diesmal schon wartete. Er
ließ die Tür offen stehen, was den Spiegeleffekt der Glaswand
aufhob. Das sollte Vertrauen wecken. Er selbst vertraute auf seine
Überzeugungskraft.
Amelie zeigte erste Anzeichen seelischer
Zermürbung. Ihr Haar hatte aufgehört, eine scharf begrenzte Fläche
zu sein. An den Schläfen und über dem Ohr hatten sich Strähnen
gelöst, was ihr den letzten Rest der Härte nahm. Die hatte aber vor
allem durch die legere Kleidung gelitten, die ihr die Fügung für
den heutigen Tag auf den Leib gelegt hatte.
Kjell ignorierte den Argwohn, den Amelie seinem
Computer entgegenbrachte. Schnell richtete sich ihre Aufmerksamkeit
auf Kjells Tonfall, der seit dem letzten Gespräch ein anderer war.
Er erklärte ihr mit reichlicher Offenheit, worum es ihm überhaupt
ging. Dabei zeigte er ihr die Bilder und hoffte, sie würde Lindas
Stil nicht erkennen. Das war nicht der Fall, denn Amelie hatte
keine Ahnung, dass sie alles Linda zu verdanken hatte. Die
Überzeugungskraft seiner Rede lag vor allem darin, dass Amelie
endlich verstand, von welchem Kaliber diese Geschichte hier war.
Nachdem er die Lage erklärt hatte, ließ sie eine halbe Minute
verstreichen, bevor sie etwas sagte.
»An der Sache ist nur ein Haken«, begann sie und
deutete auf die Zeichnungen. »Ich kenne weder das Mädchen noch den
Mann.«
»Ich bin mir aber sicher, dass du jemanden kennst,
der uns weiterhelfen kann. Immerhin wäre es den Versuch wert.
Welche Weltanschauung du auch immer hast, diese beiden hier sind
Opfer eines grausamen Mordes.«
Amelie kniff die Augen zusammen. »Ich habe keine
andere Weltanschauung, sondern so ziemlich die gleiche wie du. Mein
Perspektive ist nur eine andere.«
Kjell schob ihr den Computer hin und legte den
Speicherstift darauf. »Ich bitte dich, uns zu helfen. Danach kannst
du von mir aus gehen.«
Amelie betrachtete ihn mit einigem Leiden um ihre
Mundwinkel. Er hatte in seinem Prolog durchblitzen lassen, dass man
über die Dimension der Schwesternschaft durchaus Bescheid
wusste.
»Was ist mit Berne Ahnlund?«, wollte sie zu guter
Letzt noch wissen.
»Wir gehen davon aus, dass dir nichts an ihm liegt.
Ist das richtig?«
»Nur weil ich mich nicht in die Zwänge einer
Partnerschaft begebe, bedeutet das nicht, dass mir Menschen nichts
bedeuten.«
Auf dem Weg zum Aufzug erinnerte er sich, dass er
genau diesen Satz vor zwanzig Jahren zu einigen Menschen gesagt
hatte. Er drückte auf den Aufzugknopf, froh, dass er mit keinem von
ihnen mehr Kontakt hatte.
Welcher Sterbliche kann entgehn listenreichem
Göttertrug? Das war einer der Sprüche, die Sofi gerne rezitierte,
seit ihr in München das kleine Buch in die Finger geraten war. Es
war nach Mitternacht, und Kjell wusste, dass er endlich einmal
wieder gut schlafen würde, denn jetzt konnte er nicht mehr tun, als
warten.