57
Sesselja stand am Empfang und las ein Krankenblatt, als Barbro mit der Psychiaterin Frida Bergman die Notaufnahme durch die Glastür betrat. Sie sah erst auf, als Barbro unmittelbar vor ihr stand. Sesselja schrak zusammen und riss die Augen auf.
»Habt ihr sie?«
Barbro deutete ein Kopfschütteln an. »Können wir kurz reden?«
Sesselja sah sich suchend um und nickte. »Wir können in den Kaffeeraum gehen.«
Sie war vor zwei Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Weil sie die Wohnung nicht mehr betreten durfte, hatte Kjell sich mit dem Sozialdienst in Verbindung gesetzt und Sesselja ein Zimmer in einem Schwesternwohnheim verschafft. Sie bedankte sich, als sie im Kaffeeraum zum Fenster ging und es schloss. Barbro stellte Frida Bergman vor. Auf der Fahrt hierher hatte sie überlegt, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie kannte die Bänder mit Sesseljas Verhören und staunte, wie normal sie jetzt wirkte. Sie setzten sich an den Tisch.
»Könnte es sein, dass du nicht bemerkt hast, dass deine Mitbewohnerin Autistin war?«
Sesselja nahm die Frage schweigend auf und blickte ins Leere. Nach einigen Sekunden stand sie auf und stellte sich ans Fenster. Von der Seite sah es aus, als kaute sie auf etwas. Sie sah bestimmt zwei Minuten hinaus. Barbro ließ ihr alle Zeit der Welt, sie hatte nicht erwartet, dass Sesselja wirklich nachdenken und alles vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen würde. Es wäre eher damit zu rechnen gewesen, dass sie in ihrer Berufsehre gekränkt alles zurückgewiesen hätte.
»Vielleicht«, sagte sie mit abgewandtem Gesicht und kehrte an ihren Platz zurück. Der Stuhl quietschte auf dem Plastikboden.
»Wir haben zwei Zeuginnen, die sie nur kurz gesehen haben, aber sie waren von ihrem Verhalten irritiert. Wir wissen nicht, wie viel wir dieser Aussage beimessen können. Nun kommt alles auf dich an.«
»Autisten sind manchmal in Behandlung«, ergänzte Frida. »Für die Polizei wäre das eine Möglichkeit, gezielt zu suchen.«
»Es ist für eine Isländerin sehr schwer, eine Schwedin von einer Autistin zu unterscheiden«, sagte Sesselja lächelnd. Sie hatte ihr Kinn auf die Hand gestützt. »Ich dachte, es wäre eine vorübergehende Stimmung oder Störung. In den ersten Tagen hielt ich sie für schüchtern. Nach den Telefonaten hatte ich ja einen ganz anderen Menschen erwartet. Deshalb dachte ich eher an ein Trauma, wie nach einer Vergewaltigung vielleicht, aber das habe ich schnell wieder verworfen. Sie war zwischenzeitlich ganz normal.«
»Solche temporären Persönlichkeitsstörungen nach einem traumatischen Ereignis können sehr autistisch wirken«, bemerkte Frida. »Aber so eine Störung verschwindet wieder. Bei Autisten bleibt sie natürlich bis ans Ende des Lebens.«
Sesselja nickte. »Aber wenn man diese Symptome bei jemandem bemerkt, denkt man immer an eine Traumatisierung. Wer in dieser Verfassung in die Notaufnahme kommt, hat immer etwas erlebt, was das Trauma ausgelöst hat. Autisten kommen ja nicht in die Notaufnahme und rufen ›Helft mir, ich habe Autismus!‹«
»Vielleicht kannst du euren Tagesablauf etwas schildern«, schlug Frida vor.
»Wir haben uns meist nur abends gesehen. Ich bin immer sehr früh aufgestanden und blieb bis zum Abend weg. Sie war nachts auf und hat lange geschlafen. Das war fast immer so. Wir haben nicht sehr viel geredet. Mir war, als irritierte ich sie mit allem, was ich tue. Wenn ich etwas erzählt habe, hat sie gerne zugehört.«
»Hast du sie auch gefragt?«
»Wenig.«
»Hat sie deine Fragen in der Antwort wiederholt, statt mit Ja oder Nein zu antworten?«
»Dann hätte ich es ja gleich kapiert. Sie hat immer okay gesagt, wenn man erzählte. Das war zwar komisch, aber das machen hier alle so, wenn man sich erst kennengelernt hat.«
Die Falsche Tote
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