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Um 1 Uhr 42 brach die schwedische
Reichskriminalpolizei auf Befehl des Reichsanklägers und des
Amtsgerichts von Stockholm die Räume der Versicherungsagentur JFM
am Sergels Torg auf. Die Büros lagen in einem der bauklotzartigen
Hochhäuser.
Sie schalteten alle Lichter ein und suchten am
Empfang vergeblich nach einer Telefonliste. Ragnar schickte seine
Mitarbeiter los, die Schilder an den Bürotüren zu prüfen. Aus den
so gewonnenen Namen und der Größe und Ausstattung des Büros
skizzierte Ragnar ein Organigramm. Er tippte darauf, dass Göran
Valtersson hier das Sagen hatte, und ließ ihn aus dem Bett
holen.
Inzwischen sah er sich ein wenig um. Anscheinend
wurden in diesen Räumen nie Besucher, Kunden oder
Versicherungswillige empfangen. Sie erweckten eher den Eindruck,
als arbeitete hier nur die Verwaltung des Firmennetzes. Zur
Repräsentation diente das Büro in Gamla Stan, und für die
Abfertigung des Alltagsgeschäfts in Stockholm führte die Firma ein
Kontor am Freihafen.
Ragnar sah nach, ob es eine Küche gab, wo er ein
Glas Leitungswasser bekommen konnte. Als seine Männer nach vierzig
Minuten zurückkehrten, hatten sie nicht nur Göran Valtersson
mitgebracht, sondern auch dessen Frau. Ragnar stammte schließlich
aus der unbeliebtesten Kohlenhändlerfamilie in ganz Dalarna und war
nicht so dumm, die Frau mutterseelenallein im Bett sitzen zu
lassen, wo sie mit Gott und vor allem mit der Welt telefonieren
konnte.
Es mit der Reichskrim zu tun zu bekommen, machte
auch solche kleinlaut, die sonst ganz auf ihr finanzielles
Selbstwertgefühl vertrauten, und ein Nachtbesuch verstärkte dies
immer noch.
»Göran Valtersson, wir haben vermutet, dass die
Leitung hier bei dir liegt.«
Wenn Ragnar Annerbäck von Vermuten sprach, was
seine kaufmännische Vorsicht zum Ausdruck bringen sollte, dann
meinte er immer, dass er sich so lange vergewissert hatte, dass der
verbleibende Zweifel nur noch rhetorischer Natur war.
Valtersson nickte ernst und konzentriert.
»Wir suchen nach einer Person mit dem Namen David
Schumann, von der wir ausgehen, dass sie hier gearbeitet
hat.«
Das Ergebnis würde negativ ausfallen, daran bestand
kaum Zweifel. Schumann war bei keiner Behörde in Schweden gemeldet,
und wenn er doch hier beschäftigt sein sollte, dann war hier allen
klar, dass diese Beschäftigung illegal war.
»Kann er freier Mitarbeiter im Ausland sein?«
Valtersson wusste es nicht genau und wollte
nachsehen. Ragnar begleitete ihn in sein Arbeitszimmer.
»An diesem Standort gibt es keinen David Schumann«,
murmelte Valtersson vor sich hin, während er sich in seinen
Computer einloggte. Der war anscheinend von diesem nächtlichen
Besuch genauso überrascht wie sein Benutzer und reagierte träge.
Valtersson öffnete eine Datenbank, suchte und scrollte. Schließlich
schüttelte er den Kopf und behauptete, dass es keinen David
Schumann bei JFM gab, auch nicht in Calcutta. Er bat darum zu
erfahren, was der Reichsankläger und die Reichskriminalpolizei denn
von ihm wollten.
»Das darf ich dir leider nicht sagen. Wir haben
heute dieses Fax von euch bekommen.«
Valtersson nahm die Kopie entgegen, studierte sie
und deutete mit dem Finger zur Wand, womit er wohl andeuten wollte,
dass seine Kollegin Laura Granhammer in einem der angrenzenden
Büros arbeitete. Wenn es Tag war.
»Bevor wir auf den Inhalt zu sprechen kommen, würde
ich von dir gerne erfahren, ob und wann ihr für den Schriftverkehr
diese Schriftart verwendet.«
Valtersson rümpfte die Augenbrauen. Was für eine
erstaunliche Frage, aber sicher interessant genug, um sich um zwei
Uhr nachts einen Trenchcoat über einen Sportanzug zu ziehen und
herzukommen.
»Das ist eine alte Tradition dieses Hauses.
Fägerskiöld, ein ehemaliger Mitinhaber, kam aus einer Setzerfamilie
und hat in Amsterdam das Setzerhandwerk gelernt. Damals, als die
Firma gegründet wurde, war eine eigene Hausschrift noch eine Frage
der Kultur.«
»Bist du seit Gründung der Firma hier?«
»Ja, und seit 1974 Prokurist. Seitdem Jernberg
Junior die Firma führt, bin ich zudem Leiter der schwedischen
Abteilung. Diese Schrift wurde speziell für uns geschnitten und für
den Druck der Geschäftpapiere verwendet. Im Büro gab es damals
natürlich nur Schreibmaschinen. Als die Computer aufkamen, ließ
Jernberg Senior sie noch digitalisieren. Seitdem setzen wir sie
auch für Briefe ein.«
»Aber auf eurer Internetseite und einigen anderen
Dokumenten verwendet ihr sie gar nicht.«
»Nun, für den Bildschirm eignet sie sich nicht. Sie
wirkt unleserlich und in diesem Rahmen auch ein wenig zu altmodisch
und unflexibel. Flexibilität ist nun aber gerade die gewünschte
Qualität einer Versicherungsagence.«
Das letzte Wort sprach er französisch aus, was auch
ein bisschen zur Geschichte der Firma passte. Die Gründer stammten
alle aus seit langer Zeit in Stockholm etablierten Familien, wo man
wohl auch noch Exlibris in seine Bücher klebte und Monogramme in
die Servietten sticken ließ.
»Diese Schrift findet man also nur bei euch. Sie
ist Eigentum der Firma?«
Valtersson nickte. »Niemand darf sie verwenden. Sie
wurde von einem Amsterdamer Drucker, der bis zu seinem Tod 1992 nur
Bleisatz gesetzt hat, für uns nach einem Vorbild aus dem
siebzehnten Jahrhundert gezeichnet.
»Da haben wir nun ein Problem«, gestand Ragnar ganz
freimütig und nahm für den Rest des Satzes seine Brille ab. »Dieser
David Schumann, ein junger Computerkrimineller aus Deutschland,
verwendet diese Schrift, um Liebesbriefe zu schreiben.«
»Tatsächlich?«
»Kann die Schrift vielleicht über das Internet nach
außen gelangt sein?«
»Wir arrangieren sehr individuelle
Versicherungspolicen und verzichten daher grundsätzlich auf die
Möglichkeit des E-Mail-Verkehrs, jedenfalls dort, wo wir auch die
Schrift noch einsetzen.«
»Nun halten wir David Schumann durchaus für fähig,
euch auf der Internetleitung sozusagen auf halber Strecke
entgegengekommen zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Sprichst du von Datendiebstahl?«
»Ja, das hätten wir zu prüfen.«
»Das wäre schrecklich, aber heute ist alles
möglich.«
Das ist es für David Schumann bereits, dachte
Ragnar, doch er zögerte, dem Mann mehr zu verraten, nur um damit
eine Reaktion hervorzurufen. »Dann haben wir noch eine junge Frau,
von der wir aber den Namen nicht kennen.«