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Kjell konnte nirgendwo ein Auto fahren sehen. Die Straßen um den Vasapark waren vom Sankt-Eriksplan bis zum Odenplan so leer, dass man wie in tiefer Nacht von überall her die Ampelkästen summen und ticken hörte.
Der Streifenwagen hatte ihn bei der Sigtunagatan abgesetzt, einer kurzen Verbindungsstraße, die sonst immer still dalag. Während an ihren Enden der Verkehr und das Leben über die Odengatan und den noch größeren Karlabergsvägen vorbeirauschten, geschah hier kaum etwas anderes als Wohnen und Parken. Jetzt hatte sich das alles verkehrt.
Die Abendsonne bestrahlte das Gewimmel aus Polizisten und wild auf der Straße abgestellten Fahrzeugen, während auf der Odengatan kein einziges Auto fuhr. Das war nur mit einer verordneten Rotschaltung der umliegenden Kreuzungen zu schaffen.
Erstaunt blickte Kjell in die etwa zweihundert Meter lange Straße. An beiden Enden verriegelten Polizeifahrzeuge die Einfahrt. Im Alkoholladen an der Ecke brannten noch die Lichter, obwohl die ja immer schon um sieben Uhr zumachten. Drei Männer, deren Gesichter Kjell nicht kannte, standen darin und hatten sich in ein Gespräch mit den Verkäuferinnen vertieft. Die Sicherheitsabteilung, vermutete Kjell.
Er wusste noch immer nicht, was geschehen war. Aber nach Barbros Auskunft, dass Protokoll 12 auf ihn warte, worin er ein kleines und sich schnell drehendes Rädchen war, konnte es nur um einen Anschlag auf einen Minister oder etwas Ähnliches gehen. Die beiden Zivilisten, die mit den Schutzpolizisten die Straßensperre bewachten, mussten auch von der Säpo sein. Sie ließen Kjell anstandslos passieren, als er sich auswies.
Obwohl von Jugendstil bis zur Gegenwart jeder Stil in dieser Straße vertreten war, wirkte die Häuserfassade monoton. Das Zentrum der Ansammlung lag vor dem graubraunen Haus mit den erbsengrünen Fensterrahmen. Die Polizeifahrzeuge waren konzentrisch um den Hauseingang geparkt wie Pfeile um ein Sonderangebot. Kjell konnte Barbro an ihrem rötlichblonden Haar unter dem Dutzend ausmachen, das vor dem Eingang herumstand. Sie wurde auch sogleich auf ihn aufmerksam, anscheinend hatte sich schon die erste Unruhe in ihr ausgebreitet. Die aufwendige Frisur vom Nachmittag hatte sie inzwischen für einen Pferdeschwanz aufgegeben. Mit einem Schreibbrett in der Hand kam sie auf ihn zu.
»Endlich! Wo bleibst du!«
»Ich war schwimmen. Was ist mit Henning?«
»Der muss auch jeden Moment eintreffen.« Barbro deutete mit der freien Hand auf den Hauseingang, dessen Tür offenstand und Einblick in den Flur gab. Er erkannte den üblichen halbherzig-protestantischen Jugendstil mit Schachbrettboden und der obligatorischen Schneckenhaustreppe.
»JK-1«, sagte Barbro. »Josefin Rosenfeldt. 21 Jahre. Aus dem vierten Stock gestürzt. Die Leiche ist schon weg.«
Überall um sie herum knisterten Funkgeräte, die Gespräche waren jedoch schon abgeebbt. Für die Träger aller hohen Verfassungsämter und deren Angehörige gab es einen Code, damit es bei der Arbeit nicht zu Verwechslungen kam. Das hatte sich die Säpo in ihrer gedanklichen Kargheit so ausgedacht. Der Partner eines Amtsträgers trug immer eine Null im Code, und die Kinder wurden wie bei den alten Römern durchnumeriert.
Josefin war das älteste Kind des Justizkanzlers.
»Warum wurde sie schon weggebracht? Wie lange seid ihr schon hier?«
Barbro sah auf die Uhr. »Etwa vierzig Minuten. Es gab zwei Zeugen. Eine Passantin hat beobachtet, wie das Mädchen auf dem Gehsteig aufschlug. Und dann gibt es noch eine andere junge Frau, die kurz darauf hinzukam, und die Tote gleich erkannte. Anscheinend ist sie die Mitbewohnerin. Die Sanitäter haben ohnehin alles kontaminiert. Der Säpo war es zu riskant, weil man die Leiche von Weitem sehen konnte. Es gibt aber genug Fotos.«
»Welche Priorität hat der Justizkanzler?«
»Das Justizkanzleramt hat eigentlich nur Stufe drei, aber kurz nachdem Rosenfeldt es übernommen hatte, hat die Säpo ihn auf zwei hochgestuft.«
Barbro blätterte hilflos in den Unterlagen auf ihrem Klemmbrett. Sie musste die Papiere erst vor Kurzem bekommen haben.
Kjell kniff sich in die Nasenspitze. Das wunderte ihn alles nicht. Wenn man bedachte, was Rosenfeldt seit seinem Antritt alles gesagt und getan hatte, fand er es sogar erstaunlich, dass nicht längst etwas passiert war.
Der Justizkanzler war einst der Jurist des Königs gewesen, heute der der Regierung. Aber das war nur die formale Definition, denn eigentlich schützte der Justizkanzler die Bürger und die freiheitliche Grundordnung vor dem Staat. Wie sehr sich der Justizkanzler vor das Volk stellte, hing immer davon ab, wer dieses Amt gerade ausübte. Rosenfeldt jedenfalls war mit mehr Feuer und Flamme an die Arbeit gegangen als je einer zuvor. Als Justizkanzler überwachte er die Pressefreiheit, alle Juristen im Land und das Verhalten der Behörden gegenüber den Bürgern. Dazu zählten auch Kjell und der Rest der Reichsmordkommission.
Barbro hatte endlich gefunden, wonach sie gesucht hatte. »Rosenfeldt nimmt aber keinen Personenschutz in Anspruch, die Kinder auch nicht. Sie haben nur geschützte Adressen.«
»Wo ist der JK jetzt?«
»Ferien in Frankreich. Ist schon verständigt.«
»Ist die Familie auch dort?«
»Es gibt nur die Kinder. Der Sohn hat eine eigene Wohnung in Söder, und Josefin wohnt hier.«
Auf einmal stand Henning bei ihnen. Er musste vom anderen Ende der Straße gekommen sein. »Verdammte Leckmichscheiße. Ich hätte mich an der verrottenden Boje festketten sollen.« Das war der erste Eindruck des weit über Huddinge hinaus bekannten Schimpfwortsynkratikers.
Sie stiegen in den Einsatzbus und nahmen am Tisch Platz. Barbro wiederholte alles noch einmal. Henning fluchte wieder und blickte durch das vergitterte Fenster des Wagens an der Hausfassade hinauf, die braun und grau war.
»Der Anruf kam um 18 Uhr 37 von einer Passantin«, begann Barbro ihren Rapport. »Ihr Name ist Annika Sandell. Sie hat die Leiche auf dem Gehweg entdeckt und ein wenig verwirrt gewirkt. Deshalb wissen wir nicht genau, ob sie auch den Aufprall mitbekommen hat oder nicht. Sie wird gerade vorne im Sabbatsberg untersucht und dann nach Hause gebracht. Lasse hat aus der Fließgeschwindigkeit des Blutes auf dem Pflaster errechnet, dass die Frau gleich nach dem Aufprall angerufen haben muss. Sonst haben wir bisher keine Augenzeugen für den Sturz gefunden.«
Der Notarzt war um 18 Uhr 41 eingetroffen und konnte nach wenigen Sekunden den Tod feststellen. Eine Minute später war auch der erste Streifenwagen da gewesen und nur zehn Minuten darauf das erste Säpo-Pärchen. Der Staatsschutz überwachte alle Notrufe. Als die Adresse genannt wurde, hatte man dort sogleich Alarm ausgelöst.
»Während die Sanitäter und die beiden Polizisten sich um die Leiche kümmerten, kam eine junge Frau die Straße entlang, mit zwei vollen Tüten vom Alkoholladen in der Hand. Die Flecken vor dem Haus sind fast alles Weinflecken und erst da entstanden. Anscheinend ist sie die Mitbewohnerin oder Untermieterin. Sie erlitt zwar einen Zusammenbruch, hat die Tote aber sofort erkannt und identifiziert.«
»Und dann gab’s gleich Reichsalarm.« Henning klatschte in die Hände. »Haben den die Säpo-Leute ausgelöst?«
Barbro nickte. »Wir wussten, dass die JK-Tochter hier wohnt, amtlich ist sie aber beim Vater gemeldet und bekommt die Post über ein Postfach. Das wird vor allem wegen verrückter Briefeschreiber so gemacht. Befürchtungen, dass hier jemand aufkreuzen könnte, gab es eigentlich nicht.«
Kjell nickte zufrieden. Im Haus ihrer vornehmen Eltern hatte es offenbar so viele Stehempfänge gegeben, dass es Barbro keine Mühe bereitete, auch diesen hier zu organisieren. Die Gruppe bestand erst seit kurzer Zeit, und dies war der erste Fall, der nicht mit einer abgegriffenen Akte begann. Bisher hatten sie nur im sechsten Stock des Polizeigebäudes in Kungsholmen gesessen und ältere Fälle nachermittelt, die irgendwo steckengeblieben waren. Dann hatten sie in der Akte geblättert, noch einmal mit den Zeugen gesprochen und am Ende die ursprünglichen Ermittler angerufen, um ihnen Vorwürfe zu machen.
»Gibt es schon eine Entscheidung, was wir mit der Presse machen?«, fragte er.
»Das erledigt Sten. Die Mitbewohnerin ist Isländerin, Sesselja Ragnarsdóttir ist ihr Name. Sie sei um halb sieben zum Alkoholladen vorne an der Ecke aufgebrochen, behauptet sie. Zurückgekommen ist sie um 18 Uhr 47, da war die Funkstreife bereits da. Also muss sie ganz kurz vor dem Sturz aufgebrochen sein.«
»Hmm«, summte Henning, wie immer beim Mitnotieren. »Was haben sie davor gemacht? Ist schon etwas bekannt?«
»Sie haben gekocht und ein Glas Wein getrunken. Angeblich haben sie auch am offenen Fenster gestanden, wegen der Sonne. Sesselja brach dann auf, um Nachschub zu holen, bevor der Laden schließt.«
Es kratzte laut, als Henning sich mit der flachen Hand die Wange rieb. Er musste sich zweimal am Tag rasieren, und heute hatte man ihn kurz vor der Abendrasur abgefangen und wie eine Spielfigur wieder auf den Anfangspunkt zurückgestellt. »Es kann also sein, dass Josefin Rosenfeldt während meines Feierabends angetrunken aus dem Fenster kippt und dabei versehentlich Reichsalarm auslöst, im Fall sozusagen.«
Barbro schüttelte den Kopf. »Wir haben inzwischen einen Zeugen gefunden. Bo Eriksson wohnt nebenan und stand unter der Dusche. Sein Bad grenzt direkt an Josefins Flur. Zuerst hat er gehört, wie die Tür zugeschlagen wurde. Da muss Sesselja zum Einkaufen aufgebrochen sein. Kurz darauf klingelte es jedoch. Und Bo Eriksson hat auch gehört, wie jemand zur Tür lief und die Klinke drückte. Nur, zugeschlagen wurde die Tür nicht wieder. Das hat ihn noch gewundert, er hatte sich auf einen Knall gefasst gemacht, weil die Geräusche im Badezimmer wegen der Wände und der freien Rohre sehr laut sind. Jedenfalls war die Tür geschlossen, als die Polizei ankam. Aber nicht verriegelt.«
»Das kann der alles aus Geräuschen heraushören?«, wunderte sich Kjell. »Während er duscht?«
Barbro zuckte mit den Schultern.
»Kann diese Mitbewohnerin noch einmal zurückgekehrt sein? Hat sie vielleicht das Geld vergessen?«
»Die Aussage des Nachbarn ist noch ganz frisch. Da hatten sie Sesselja schon weggebracht.«
»Rufen wir Sten an.«
Barbro nahm den Hörer des Telefons, das in der Tischplatte eingebaut war, und reichte ihn Kjell. Sofort nahm am anderen Ende jemand ab und bat Kjell zu warten. Er schaltete den Lautsprecher ein.
Der Reichskriminalchef meldete sich grußlos. »Hör gut zu, Cederström. Ihr haltet euch nur an die Spuren am Tatort, wie wir es im Protokoll festgelegt haben. Den ganzen Rest überlassen wir der Säpo.«
»Ja, ja.«
Es bedurfte einiger Anstrengung und war ein altmodisches Gefühl, das dicke Spiralkabel des Hörers davon abzuhalten, ihm den Hörer aus der Hand zu ziehen.
»Ich habe gerade mit dem JK gesprochen«, sagte Sten. »Wir schicken einen Jet nach Frankreich und biegen es so hin, dass er nicht vor morgen früh ankommt. Sonst werden sie in Solna mit der Leiche nicht rechtzeitig fertig.«
»Was unternimmst du gegen die Presse?«
»Unten läuft gerade eine Pressekonferenz wegen des ithyphallischen Supermans vom Valla Torg. Das haben wir eilig organisiert.«
»Ithyphallisch ist klar«, murmelte Henning dazwischen. »Aber wer ist Superman?«
Barbro blickte milde drein. »Mit erigiertem Glied heißt das.«
»Alle von den Abendzeitungen sind zur PK gekommen und hören brav zu«, fuhr der Reichskriminalchef am anderen Ende der Leitung fort. »Die Kontaktleute lancieren zudem für die Redaktionen der Tageszeitungen, dass wir in der Nacht gegen die Betreiber der illegalen Downloadseite im Internet losschlagen. Dann denken die alten Hasen, dass Superman nur eine Ablenkung dafür war.«
»Könnt ihr die Aktion wirklich durchziehen?«, fragte Kjell. »Wir brauchen mehrere Tage Vorsprung. Ihr solltet gegen elf eine abgewandelte Kurzmeldung nachschieben. Wer weiß, wie viele Leute hier aus dem Fenster glotzen und sich wundern.«
»Wir haben uns für einen Kleintransporter entschieden, der eine junge Frau angefahren hat. Das erklärt, warum wir die Straße sperren mussten. Wir schicken noch einen Abschleppwagen vorbei.«
Kjell beendete das Gespräch mit der Begründung, einen Blick in die Wohnung werfen zu wollen.
»Superman hätte wahrscheinlich gereicht«, fand Barbro. »Der ist lustig genug. Die Abendzeitungen bringen ihn bestimmt auf dem Titel.«
In der letzten Nacht hatte ein arbeitsloser Heizungsmonteur sich sein Superman-Kostüm übergestreift, in das er im Schritt ein Loch geschnitten hatte. So war er auf den Schlafzimmerschrank geklettert, während ihn seine Frau auf dem Bett mit geöffneten Beinen erwartete. Die Sommerhitze und der Alkohol hatten dem Heizungsmonteur aber nicht nur diese Idee eingegeben, sondern auch verhindert, dass Superman die Flugbahn richtig berechnete. Statt in seiner Frau war Superman nämlich mit der Schläfe voran auf dem Bettpfosten gelandet, was ihn augenblicklich nicht nur all seiner übermenschlichen sondern auch seiner menschlichen Kräfte beraubt hatte.
»Sofi? Habt ihr sie schon erreicht?«
Barbro grinste. »Sie ist oben.«
Kjell stieg aus dem Wagen und betrat das Haus. Im Flur musste er Schutzkleidung anlegen. Die Treppe wand sich so eng hinauf, dass sich die Entgegenkommenden wie auf einer einspurigen Passstraße arrangieren mussten. Hier sah man bereits die Techniker in ihren weißen Overalls am Treppengeländer arbeiten. Das hatte Barbro nach der eigenartigen Aussage des Nachbarn gleich veranlasst. Das Treppenhaus roch nach feuchter Kellerluft. Sonst war es ganz schlicht und frei von Messing, wie man ihn sonst in so vielen Treppenhäusern fand.
Kjell war gespannt, was Sofi oben erreicht hatte. Barbro und Henning waren als Gründungsmitglieder der Gruppe von Anfang an dabei gewesen. Beide hatten davor jahrelang bei der Kriminalpolizei gearbeitet, Henning in der Mariawache in Söder und Barbro beim Betrug. Sofi hingegen war erst seit Kurzem Mitglied der Gruppe. Und sie war jung dazu. Zuvor hatte sie einige Monate bei der Schutzpolizei in Norrmalm verbracht, doch das war kaum der Rede wert. Die anderen Bewerber hatten zwar viel mehr Erfahrung besessen, aber das konnte der Arbeit mehr schaden als Unerfahrenheit, wenn man sich auf all die voreiligen Schlüsse verließ, auf die man jahrelang hereingefallen war. Dass viele bei der Polizei so dachten und arbeiteten, lag an der Art, wie man als Polizist seine Tage verbrachte. Wie bei vielen anderen Berufen auch bestand das Spektrum eines normalen Polizisten aus nur wenigen Erlebnissen, Erfahrungen und Methoden, die sich immer wiederholten.
Dies war Kjells Folgerung nach zwanzig Jahren und achtzehn Treppenstufen. Im dritten Stock schwebte ein leichter Chlorgeruch, den das Indikatormittel verbreitete, mit dem die Techniker das Geländer bearbeiteten. Die Hektik des Treppenhauses hörte im vierten Stock mit einem Schlag auf. Hier durfte inzwischen niemand mehr herauf außer den Technikern, und dabei sprachen sie nie mehr als das Nötigste.
»Darf ich rein?«
Eine Frau mit Plastikhaube über dem blonden Haar nickte und deutete mit dem Finger den Weg vor, auf dem er sich durch den Flur und das Zimmer zu halten hatte. Die Wohnung begann mit einem engen Flur, der durch die Kleiderstange in der Nische noch enger wirkte. Zwischen die Wände waren so viele Jacken gequetscht, dass es ein Wagnis war, einen Bügel herauszunehmen. Dazuhängen konnte man beim besten Willen nichts mehr. Die Techniker hatten mit Plastikplanen abgedeckt, was noch vor ihnen lag. Rechts ging ein Badezimmer mit himmelblauen Fliesen ab. Kjell bewegte sich behutsam durch das Zimmer. Die Wände waren hüfthoch vertäfelt, der weiße Lack auf dem Holz begann langsam zu vergilben. Kjell sah sich die Wohnung immer so schnell wie möglich an, denn sobald die Techniker mit allem fertig waren, ließen sie eine ewige Stille am Tatort zurück, die sich auch auf seine Gedanken legte und verhinderte, dass er sich wie ein unsichtbarer Beobachter der vorangegangenen Ereignisse fühlen konnte.
Beim Durchstreifen des Tatorts wollte er nicht gestört werden. Die zur Straße liegende Wand teilte sich in zwei Hälften. Links standen Spüle und Herd, rechts war die Wand vor dem Fenster leer, so dass man sich hinauslehnen konnte. Drei Techniker beschäftigten sich mit dem Geländer. Måns klebte die Kontaktfolie auf das Geländer, zog sie wieder ab und übergab sie seinem Gehilfen, der den Streifen beschriftete und in sein Album einklebte. Der andere Kollege kniete nur da und zog immer neue Streifen von der Rolle. So würde das stundenlang gehen. Die Konzentration auf das Fenster ließ keinen Zweifel daran, dass Josefin Rosenfeldt von dort hinabgestürzt war. Das Fenster musste nachträglich bis zum Boden verlängert worden sein, aber nach dem Zustand des weißen Haltegitters zu urteilen, lag das schon einige Jahre zurück. Als einziges Möbelstück stand ein Tisch in der Mitte des Raumes.
Auf einmal erklang Sofis Stimme im Nebenzimmer. Kjell schritt zum Türrahmen und sah sie zusammen mit Lasse vor einem Bett auf dem Boden sitzen.
»Sofi«, überraschte er sie von hinten. »Was machst du da?«
Sie fuhr herum.
»Kjell! Wir haben was!«
»Wo ist Per?«
»Urlaub!«, sagte Lasse, Pers dreißigjähriger Assistent, der für immer die Nummer zwei bleiben würde. Sein zwei Meter langer Körper war so schlaksig, dass er rückgratlos wirkte. Das schlug sich auf sein Selbstvertrauen nieder. »Er ist mit einer Bekanntschaft auf dem Götakanal unterwegs. Hat sich ein Boot gemietet.«
Deswegen wirkten hier auch alle so orientierungslos, dachte Kjell. Pers Gemotze am Tatort war sonst immer der rote Faden der Techniker bei ihrer Arbeit.
Lasse hielt ein Kuvert mit der Pinzette hoch. Es war so winzig und rot, dass man es nur als Gruß an Weihnachtsgeschenke kleben oder darin Liebesbriefe beim Sportunterricht zustecken konnte.
»Erst dachte ich, dass der Täter es hier unter das Kopfkissen gesteckt hat«, sagte Sofi. »Aber es muss schon länger dort gelegen haben.«
Lasse nickte und steckte das Kuvert in ein transparentes Biopack. »Es ist zugeklebt. Das können wir erst im Labor öffnen.«
Kjell fragte sich, von welchem Täter Sofi da sprach. »Wie lange seid ihr schon dran?«
»Halbe Stunde«, behauptete Sofi.
»Barbro sagt aber, du warst einer der ersten.«
»Vielleicht bin ich auch schon länger hier.«
»Ich hatte gesagt, du sollst nach Hause gehen.«
Sie hatten alle einen langen Tag im Büro hinter sich. Kjell musste Sofi den Feierabend immer befehlen, weil sie in ihrem Anfängerehrgeiz sonst einfach sitzen blieb. Auch diesmal musste sie trotz ihres Versprechens noch viel länger geblieben sein, weil sie sonst den Alarm nicht mehr mitbekommen hätte.
Noch im Türrahmen stehend begann er, sich im Zimmer umzusehen. In dem schmalen Bett konnten nie und nimmer zwei Menschen zusammenliegen, wie sehr sie sich auch lieb hatten. Den Schreibtisch hatte sich Josefin ganz einfach wie beim Tapezieren aus einer Holzplatte und zwei Böcken hergestellt. Darauf stand Sofis Computer und lief.
Sie rappelte sich vom Boden auf, was ihr wegen der Plastiksäckchen über ihren Füßen und der Folie auf dem Boden einige Mühe bereitete. »Hast du das hier gesehen?« Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand, die er noch gar nicht entdeckt hatte. »Es ist Burt.«
Kjell drehte sich herum. Es musste Jahrzehnte zurückliegen, dass Kjell eine Fototapete gesehen hatte. Burt Reynolds war jung, nackt und behaart wie eine Kokosnuss. Er lag auf einem Eisbärenfell, sein Ellenbogen verdeckte geschickt seine Scham. Zwischen den Fingern qualmte ein dünnes Zigarillo und davor stand ein klobiger Aschenbecher aus Glas. Kjell wusste nicht, ob Sofi erst seit einer halben Stunde Burt-Reynolds-Fan war, aber sie schien die Tapete zu mögen. Entscheidungen, ob Männeroberkörper behaart oder unbehaart sein mussten, wurden bei der Reichskrim immer am Kaffeeautomaten zwischen Aufzug zwei und der Damentoilette gefällt, und da ging er nie hin.
»Ich wär auch aus dem Fenster gesprungen, wenn ich so eine Tapete in meinem Wohnzimmer hängen hätte«, kommentierte Kjell den Anblick. »Gibt’s außer diesem Motiv noch andere Spuren?«
Sofi probierte mehrere Blickrichtungen aus und vermied Augenkontakt. Offensichtlich verstand sie langsam, warum er so ungehalten war. Ganz sicher war sie die ganze Zeit mit Lasse auf dem Boden herumgekrochen und hatte sich alles von ihm zeigen lassen. Dabei war ihre einzige Aufgabe, hier den Überblick zu behalten und Informationen nach unten zu liefern.
»Ich bin schon fertig und hab nur auf dich gewartet. Ich habe mit dem Nachbarn geredet.«
»Schon gehört.«
»Sie haben ihn gleich weggebracht. Wer da geklingelt hat, wissen wir noch nicht.«
»Ist das alles?«
»Sonst deutet nichts darauf hin, dass jemand hier gewesen ist. Jenna aus der Technischen macht das Abdruckmuster am Fenster. Im Zimmer war es unordentlich. Kein Computer, kein Telefon und keine Dokumente. Bestimmt ist jemand hier gewesen.«
Kjell nickte. »Fahr ins Präsidium und bereite das Dossier vor.«
»Okay.« Sie legte zwei Schritte zum Tisch zurück, schnappte sich ihren Computer und klappte ihn so laut zu, wie sie glaubte, dass es ihre aufflammende Wut angemessen zum Ausdruck brachte. Und dann war sie auch schon weg. Es war eine grausame Entscheidung, sie jetzt wegzuschicken, wo das Leben gerade ihren Lieblingsgeschmack angenommen hatte. Aber er wollte für die kommenden Tage von vornherein die Weichen erzieherisch richtig stellen.
Nachdem Lasse das Bettzeug verpackt hatte, wanderte er mit seinen Geräten hinüber in das Zimmer der Mitbewohnerin, das sonst noch niemand betreten durfte. Kjell blieb allein zurück und setzte seine Erkundung mit den Augen fort, ohne sich von dem Punkt zu bewegen, wo er stand. Die Fototapete stammte nicht von der einundzwanzigjährigen Josefin, sie musste schon viel länger an dieser Wand kleben und hatte von den Möbeln früherer Bewohner schon einige Schrammen abbekommen. Viel interessanter fand Kjell das Plakat, das Josefin über ihrem Schreibtisch aufgehängt hatte. Darauf blickten zwei Frauen den Betrachter ernst an. Sie trugen beide sehr akkurate Frisuren, und so graphisch gestaltet war auch der Rest an ihnen und dem Layout. »Schlag zurück!«, stand als großer Schriftzug darunter. »Die vierte Schwesternschaft.«
Kjell rief nach Lasse und fragte, wie lange das Plakat schon dort hing.
»Noch nicht lange«, bekam er zur Antwort. »Sieht ganz neu aus.«
Die Falsche Tote
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