31
Barbro Setterlind hatte es sich mit einem Becher Kaffee auf ihrer Kühlerhaube bequem gemacht und behielt den Eingang des Geschäfts im Auge. Dass sie in etwa dieser Haltung in einer kalten Märznacht im Jahre 1990 ihre Unschuld verloren hatte, daran erinnerte sie sich nur ungern, aber leider sehr gut. Auch damals hatte sie wie jetzt immer wieder auf die Uhr geschaut.
Es wurde halb neun, als endlich ein älterer Mann mit gelbweißem Haar vor die Tür des Antiquariats in der Drottninggatan 73 trat und den Schlüssel ins Schloss steckte. Das Goldgestell seiner Brille funkelte in der Morgensonne. Barbro überquerte die Straße und trat hinter ihn.
»Hermann Wessén?«
Der Mann drehte sich vorsichtig um und nickte. Barbro zückte ihren Ausweis.
»Kjell Cederström schickt mich. Es geht um ein kleines Anliegen.«
Wessén nickte, schob die Tür auf und ging hinein. Barbro folgte ihm durch das Geschäft und in den hinteren Raum. Wie wohl jeden Morgen seit Jahrzehnten schaufelte Wessén zuerst einmal Kaffeepulver in den Filter. Barbro zögerte, ob sie schon mit dem Vortrag beginnen sollte. Wessén verhielt sich jedenfalls so, als hätte er ihre Anwesenheit schon wieder vergessen. Als er aber dann zwei Tassen aus dem Schrank nahm, fasste sie Mut.
»Es geht um diese beiden Zettel hier«, begann sie und legte die Kopien auf den Tisch. »Es ist eine Schriftart, die den Technikern bei der Polizei nicht geläufig ist. Und nun haben wir uns gedacht, wenn jemand eine seltene Schriftart erkennt, dann du.«
Wessén antwortete nicht. Stattdessen nahm er die Kanne aus der Maschine und goss den Kaffee in die Tassen. Nachdem er sich gesetzt hatte, griff er nach den beiden Kopien und zog langwierig die Nase hoch. Als er an seinem Kaffee nippte, klang das nicht viel anders. Insgesamt deutete Barbro sein Verhalten als Skepsis. Wessén stand auf und schlurfte hinaus. Weil er schon mal unterwegs war, tauschte er auch gleich seine Schuhe gegen Pantoffeln. Er kehrte mit einer vergilbten Karteikarte zurück.
»Du solltest die hier fragen. Sie kommt ab und zu und sucht nur nach alten Büchern mit besonderem Schriftsatz.«
Auf der Karte stand nur der Name Malin Sissing, eine Adresse im Gärdet und eine Telefonnummer.
Zehn Minuten später spähte Barbro durch die Türscheibe in den Hausflur der Furusundsgatan 32 und versuchte, die Klingelschilder zu entziffern. Den Namen Sissing entdeckte sie nicht, und als sie beim Anrufen erfuhr, dass die Nummer abgemeldet sei, fluchte sie. Es würde wieder einer der komplizierten Tage werden.
Sie raste durch den Montagmorgenverkehr nach Kungsholmen. Es war Viertel nach neun, als sie endlich die Garagenabfahrt am Fridhemsplan hinabrollte. Und es dauerte noch einmal eine Viertelstunde, bis sie ins Büro kam.
Henning stand am offenen Fenster und rauchte.
»Du solltest herkommen und schauen«, brummte er ungewöhnlich heiter für einen Montagmorgen. Als Barbro aus dem Fenster blickte, sah sie, wie Henriksson und Lexne von der Wache einen strampelnden Mann die Polhemsgatan entlangschleppten. Vorne am Altglascontainer, wo die Treppe in den Kronobergspark führte, sah man ein Dutzend weiterer Uniformierter ein Rudel Journalisten davon abhalten, über die Treppe in den Park zu gelangen. Im Park selbst standen auch Polizisten herum und sprachen mit den Leuten am Hundespielplatz. Da war um diese Zeit immer viel los. Barbro blickte jäh an der Fassade herab. So gut wie alle Fenster waren geöffnet, und mindestens fünfzig Köpfe ragten heraus.
»Janne!«, rief Henning, und der Mann aus dem Stockwerk unter ihnen drehte seinen Kopf. »Ich sag mal, zweihundert auf eine Drogensache.«
Janne schüttelte den Kopf »Vergewaltigung, wenn du mich fragst.«
»Zweihundert also?«
Janne nickte.
»Du bist das Letzte!«, schrie Barbro hinab.
»Warum denn?«
»Jetzt musst du hoffen, dass es wirklich eine Vergewaltigung war.«
Janne zuckte mit den Achseln, die auch aus dem Fenster ragten. »Aber dann hätte die Sache ja auch ihr Gutes.«
Barbro ging zur Bundeslade, wie sie die unterste Schublade an Hennings Schreibtisch nannten, weil sie alles enthielt, was im Leben wesentlich war, und schnappte sich eine von Hennings Prince.
»Drogensache, sag ich doch!«, brummte Henning.
Jetzt kam Leben in die Sache. Unter ihnen eilten Per, Lasse und zwei weitere Leute von der Technischen aus dem Haupteingang. Alle vier trugen je zwei Koffer.
Der Park war ein recht hoher Hügel. Um hineinzugelangen, musste man die Treppe an der Straßenkreuzung emporsteigen. Per und seine Männer kamen oben auf der Wiese an und machten sich am Lüftungsschacht der Polizeigarage zu schaffen. Da sie unter dem Park lag, ragte der blaue Schacht mitten aus dem Rasen.
Henning deutete nach rechts zur Kungsholmsgatan. Von dort kam die gesamte lokale Mordkommission angelaufen. Das Vordergebäude gehörte der Reichskriminalpolizei. Die lokale Polizei saß im Seitentrakt, und man sah Kalles Truppe den langen Weg an, als sie unter ihnen vorbeirannten.
Dann geschah eine Viertelstunde lang nichts. Die Männer standen oben auf der Wiese herum und deuteten auf die Baumkronen. Barbro wurde es zu langweilig. Sie setzte sich an Hennings Computer und suchte nach Malin Sissing. Sie wohnte seit vier Monaten in der Sickla Kanalgatan. Barbro seufzte. Sie hatte die ganze Ringstraße vor sich.
Die Falsche Tote
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