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Barbro Setterlind hatte es sich mit einem Becher
Kaffee auf ihrer Kühlerhaube bequem gemacht und behielt den Eingang
des Geschäfts im Auge. Dass sie in etwa dieser Haltung in einer
kalten Märznacht im Jahre 1990 ihre Unschuld verloren hatte, daran
erinnerte sie sich nur ungern, aber leider sehr gut. Auch damals
hatte sie wie jetzt immer wieder auf die Uhr geschaut.
Es wurde halb neun, als endlich ein älterer Mann
mit gelbweißem Haar vor die Tür des Antiquariats in der
Drottninggatan 73 trat und den Schlüssel ins Schloss steckte. Das
Goldgestell seiner Brille funkelte in der Morgensonne. Barbro
überquerte die Straße und trat hinter ihn.
»Hermann Wessén?«
Der Mann drehte sich vorsichtig um und nickte.
Barbro zückte ihren Ausweis.
»Kjell Cederström schickt mich. Es geht um ein
kleines Anliegen.«
Wessén nickte, schob die Tür auf und ging hinein.
Barbro folgte ihm durch das Geschäft und in den hinteren Raum. Wie
wohl jeden Morgen seit Jahrzehnten schaufelte Wessén zuerst einmal
Kaffeepulver in den Filter. Barbro zögerte, ob sie schon mit dem
Vortrag beginnen sollte. Wessén verhielt sich jedenfalls so, als
hätte er ihre Anwesenheit schon wieder vergessen. Als er aber dann
zwei Tassen aus dem Schrank nahm, fasste sie Mut.
»Es geht um diese beiden Zettel hier«, begann sie
und legte die Kopien auf den Tisch. »Es ist eine Schriftart, die
den Technikern bei der Polizei nicht geläufig ist. Und nun haben
wir uns gedacht, wenn jemand eine seltene Schriftart erkennt, dann
du.«
Wessén antwortete nicht. Stattdessen nahm er die
Kanne aus der Maschine und goss den Kaffee in die Tassen. Nachdem
er sich gesetzt hatte, griff er nach den beiden Kopien und zog
langwierig die Nase hoch. Als er an seinem Kaffee nippte, klang das
nicht viel anders. Insgesamt deutete Barbro sein Verhalten als
Skepsis. Wessén stand auf und schlurfte hinaus. Weil er schon mal
unterwegs war, tauschte er auch gleich seine Schuhe gegen
Pantoffeln. Er kehrte mit einer vergilbten Karteikarte
zurück.
»Du solltest die hier fragen. Sie kommt ab und zu
und sucht nur nach alten Büchern mit besonderem Schriftsatz.«
Auf der Karte stand nur der Name Malin Sissing,
eine Adresse im Gärdet und eine Telefonnummer.
Zehn Minuten später spähte Barbro durch die
Türscheibe in den Hausflur der Furusundsgatan 32 und versuchte, die
Klingelschilder zu entziffern. Den Namen Sissing entdeckte sie
nicht, und als sie beim Anrufen erfuhr, dass die Nummer abgemeldet
sei, fluchte sie. Es würde wieder einer der komplizierten Tage
werden.
Sie raste durch den Montagmorgenverkehr nach
Kungsholmen. Es war Viertel nach neun, als sie endlich die
Garagenabfahrt am Fridhemsplan hinabrollte. Und es dauerte noch
einmal eine Viertelstunde, bis sie ins Büro kam.
Henning stand am offenen Fenster und rauchte.
»Du solltest herkommen und schauen«, brummte er
ungewöhnlich heiter für einen Montagmorgen. Als Barbro aus dem
Fenster blickte, sah sie, wie Henriksson und Lexne von der Wache
einen strampelnden Mann die Polhemsgatan entlangschleppten. Vorne
am Altglascontainer, wo die Treppe in den Kronobergspark führte,
sah man ein Dutzend weiterer Uniformierter ein Rudel Journalisten
davon abhalten, über die Treppe in den Park zu gelangen. Im Park
selbst standen auch Polizisten herum und sprachen mit den Leuten am
Hundespielplatz. Da war um diese Zeit immer viel los. Barbro
blickte jäh an der Fassade herab. So gut wie alle Fenster waren
geöffnet, und mindestens fünfzig Köpfe ragten heraus.
»Janne!«, rief Henning, und der Mann aus dem
Stockwerk unter ihnen drehte seinen Kopf. »Ich sag mal, zweihundert
auf eine Drogensache.«
Janne schüttelte den Kopf »Vergewaltigung, wenn du
mich fragst.«
»Zweihundert also?«
Janne nickte.
»Du bist das Letzte!«, schrie Barbro hinab.
»Warum denn?«
»Jetzt musst du hoffen, dass es wirklich eine
Vergewaltigung war.«
Janne zuckte mit den Achseln, die auch aus dem
Fenster ragten. »Aber dann hätte die Sache ja auch ihr
Gutes.«
Barbro ging zur Bundeslade, wie sie die unterste
Schublade an Hennings Schreibtisch nannten, weil sie alles
enthielt, was im Leben wesentlich war, und schnappte sich eine von
Hennings Prince.
»Drogensache, sag ich doch!«, brummte
Henning.
Jetzt kam Leben in die Sache. Unter ihnen eilten
Per, Lasse und zwei weitere Leute von der Technischen aus dem
Haupteingang. Alle vier trugen je zwei Koffer.
Der Park war ein recht hoher Hügel. Um
hineinzugelangen, musste man die Treppe an der Straßenkreuzung
emporsteigen. Per und seine Männer kamen oben auf der Wiese an und
machten sich am Lüftungsschacht der Polizeigarage zu schaffen. Da
sie unter dem Park lag, ragte der blaue Schacht mitten aus dem
Rasen.
Henning deutete nach rechts zur Kungsholmsgatan.
Von dort kam die gesamte lokale Mordkommission angelaufen. Das
Vordergebäude gehörte der Reichskriminalpolizei. Die lokale Polizei
saß im Seitentrakt, und man sah Kalles Truppe den langen Weg an,
als sie unter ihnen vorbeirannten.
Dann geschah eine Viertelstunde lang nichts. Die
Männer standen oben auf der Wiese herum und deuteten auf die
Baumkronen. Barbro wurde es zu langweilig. Sie setzte sich an
Hennings Computer und suchte nach Malin Sissing. Sie wohnte seit
vier Monaten in der Sickla Kanalgatan. Barbro seufzte. Sie hatte
die ganze Ringstraße vor sich.