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Mittwoch, 8. August
Kjell erwachte von der fremdartigen Polizeisirene,
die durch das offene Fenster drang, und blickte in die Dunkelheit,
bis er spürte, dass er zur Toilette musste. Auf dem Rückweg zum
Bett entdeckte er den Lichtstreifen unter der Türschwelle. Er
folgte dem Licht und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sofi saß an
dem runden Tisch im Verbindungszimmer der Suite und hatte ihr
gesamtes Computerinventar vor sich aufgebaut. Er zögerte und
überlegte, ob er sich wieder zurückziehen sollte, weil sie sich mit
zerwühltem Haar unter dem gelben Lichtkegel über ihren Bildschirm
gebeugt hatte und den Programmzeilen folgte. Da wollte er lieber
nicht stören, das hatte er in den Wochen, seit sie sich kannten,
gelernt.
»Du kannst Kaffee haben«, sagte sie und legte eine
Hand auf die Kanne, bevor sie sie wieder zum Weiterschreiben
brauchte. »Der ist noch ganz heiß.«
Er schloss alle Knöpfe seiner Schlafanzughose,
setzte sich zu ihr und goss sich Kaffee in die zweite Tasse. Wie
spät war es überhaupt?
»Sieh mal«, begann sie sogleich. Auf einem Stück
Papier hatte sie Straßen und Häuser skizziert. »Das sind die Daten
von Henning. Hier sind die Stellen eingezeichnet, wo mit Josefins
Karte Geld abgehoben wurde. Und mit den Uhrzeiten kann man die
Route verfolgen und ausrechnen, wie lange sie von Automat zu
Automat gebraucht hat.«
Sie ließ ihm einen Augenblick, um sich in der
Zeichnung zu orientieren und sich am Kinn zu kratzen. Die
Bartstoppeln knirschten, jedenfalls hörte er es.
»Sie?«
»Oder ein anderer. Die Person muss in großer Eile
gewesen sein. Henning hat sich über die Protokolle der Automaten
hergemacht, und an einem Donnerstag um kurz vor Mitternacht steht
man in dieser Gegend zehn Minuten in so einer Schlange.«
Er nickte. Sofi wohnte nur einige Straßen weiter
und wusste, wovon sie sprach. »Sprich weiter.«
»Ich habe die Zeiten genau durchgerechnet. Wenn man
alles einbezieht, kann eine Person die Stationen nicht allein
abklappern. Sie kann diese Zeiten nicht schaffen. Henning hat sich
beim Betreiber erkundigt, weil er wissen wollte, warum das
5000-Kronen-Limit bei Josefins Karte die weiteren Abhebungen nicht
verweigert hat. Obwohl Henning sehr hartnäckig war, hatte der
Betreiber nur die Erklärung, dass es sich um einen Datenfehler
handeln müsse. Der sei nicht mehr rekonstruierbar, dazu brauche man
die Karte. Mehr konnte Henning mit seinen Mitteln nicht
ausrichten.«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber
…«
»Moment noch. Die Götgata-Tour lässt sich nur
bewerkstelligen, wenn man mindestens zu zweit ist.« Sofi hielt ein
Victory-Zeichen in die Luft.
»Einer hat also schon bei der nächsten Schlange
angestanden, während der andere noch an der vorherigen Station
abhob?«
Sofi grinste, weil er ihren Gedankengang
nachvollziehen konnte. »Ich habe mich gefragt, warum es so laufen
musste. Man kann ja auch in andere Stadtteile fahren, wo nichts los
ist. Zum Beispiel in Reimersholme.«
»Da gibt es keine Automaten. Wenn du nicht erklären
kannst, warum dieser Nachteil in Kauf genommen wurde, dann musst du
dich fragen, ob das nicht auch der Vorteil sein könnte.«
»Wer die Masse sucht, will sich in ihr verbergen,
das denkst du auch, oder?«
Er nickte stumm.
»Es kann jedoch kein Staffellauf sein, wie du
angenommen hast«, überlegte Sofi. »Denn da ist ja noch der Faktor
mit dem Datenfehler. Das war kein Fehler.«
»Das ist also die Verknüpfung zu München.«
»Normalerweise kann ich mich mit einer Karte und
einem Magnetstift in ein Café setzen und die Bits auf dem
Magnetstreifen verändern, wie ich will. Ich könnte das Limit der
Fehleingaben der PIN-Nummer von drei auf neun erhöhen oder meine
Kontonummer verändern. Nichts ist leichter als das. Es ist aber
kaum zu schaffen, wenn man zum nächsten Automaten traben
muss.«
Kjell nippte an seinem Kaffee und genoss das Aroma.
»Hast du die ganze Tafel da gegessen?«
Erschrocken griff sie nach dem Papier und begriff,
dass keine Schokolade mehr da war.
»Dann verrate mir den Trick.«
»Es waren zwei oder mehr. Jeder hatte einen Stapel
mit Klonen der Originalkarte. Für jeden Automatenbesuch haben sie
einen neuen Klon verwendet. Vielleicht haben sie auch Geld von
anderen Konten abgeholt, das wissen wir ja nicht.«
»Also dieselben Leute wie in München?«
Sie nickte. »Aber der Trick in München war viel
raffinierter. Ich habe mir die Daten angeschaut, die Mäusler mir
auf der CD mitgegeben hat. Das sind aber nur die Kartendaten und
die Automatenprotokolle, also nicht mal die Hälfte vom Ganzen. Da
muss es vorher auch einen Eingriff auf den Server gegeben haben.
Man kann ja nicht einfach eine Karte reinschieben und den Automaten
umprogrammieren wie in einem Agentenfilm.«
»Also mindestens zwei Personen.«
»Und die Person, die man auf den
Überwachungsaufnahmen aus München nicht sehen kann, das kann die
Tote sein. Der andere ist der Mann auf dem Überwachungsvideo. Er
liegt jetzt tot in der Pathologie.«
»Jedenfalls hätten wir das gerne.«
Sofi konnte recht haben. Sesselja war an diesem
Donnerstag am frühen Abend zu ihrer ersten Nachtschicht
aufgebrochen. Was die Tote von da an bis drei Stunden vor ihrem Tod
getan hatte, konnte Sesselja also nicht sagen.
»Sie wurden verfolgt«, fuhr Sofi fort, ohne sich
von seinem Einwand bremsen zu lassen. »Am Donnerstagabend haben sie
in der Deckung all dieser Menschen, die dort auf der Straße waren,
so viel Geld beschafft wie möglich. Dann müssen sie sich getrennt
haben, wenn man bedenkt, wie wir die beiden später tot gefunden
haben. Beide wurden von ihren Verfolgern eingeholt. Die Tote wurde
aus dem Fenster gestürzt. In der Wohnung fanden wir Geld, das sie
früher mit anderen Karten aus Automaten geholt haben könnten.
Lauter unterschiedliche Geldscheine. Das ist Hesperia. Aisakos wird
auch aufgespürt. Er stirbt denselben Tod wie seine Komplizin und
landet im Park.«
»Das ist also dein Szenario. Nicht schlecht! Die
Briefe könnten dem Zweck dienen, sich chiffriert zu verständigen.
Vielleicht sind sie aber auch tatsächlich ein Liebespaar. Aber wer
hat sie verfolgt und ermordet?«
»Ich dachte an Gunnar.«
»Die beiden müssen ja keine Deutschen sein. Sie
haben nur das Land gewechselt. Bei Hesperias Anblick habe ich schon
an Süd- oder Osteuropa gedacht. Sicher können wir es bei ihr aber
nicht sagen.«
»Aber beim Mann sehr wohl. Der stammt auf jeden
Fall nicht aus Nordeuropa und auch nicht aus Deutschland.«
»Dass die Frau in Deutschland dabei gewesen ist,
überzeugt mich nicht so recht. Das würde sich zwar gut fügen, aber
…«
»… nichts fügt sich so gut wie der Irrtum. Ich weiß
schon.«
»Sie hätte dann auch sehr jung sein müssen. Der
Mann ist doch bestimmt zehn Jahre älter als sie. Es ist auch nicht
so wichtig. Wir müssen uns fragen, was die beiden mit der
Gunnar-Bande zu tun haben.«
»Der Liebesbrief könnte auch echt sein. Der wirkt
richtig komponiert.«
»Vielleicht ist sie wirklich Griechin. Wenn wir der
Sondereinheit glauben, die an Gunnar dran ist, dann muss der Tote
aus dem Zentrum der Struktur stammen, deshalb hat Gunnar alle Hebel
in Bewegung gesetzt, ihn vor der Polizei zu erwischen. Das ist, was
sie in Stockholm glauben. Der Fundort im Park sollte der Polizei
vorführen, dass seine Organisation schneller und besser war.«
Sofi nickte und machte sich schweigend
Notizen.
»Die können wirklich zum Justizkanzler gewollt
haben, um dort Asyl zu bekommen«, nahm Kjell das Gespräch wieder
auf.
Auch wenn das juristisch unklug war, weil es nicht
zu den Kompetenzen des Justizkanzlers gehörte, so war der
Gedankengang leicht nachzuvollziehen. Einem Ausländer ohne
Kenntnisse über das schwedische Rechtssystem war der Justizkanzler
dennoch ein Begriff, weil er bei anderen Fällen Ausländer gegen die
Polizei oder andere Behörden verteidigt hatte. Und er galt weithin
als aufrichtiger Mann.
»Allerdings war der JK nicht da.«
»Und jetzt kommt Josefin ins Spiel. Die wussten, wo
sie die Tochter finden.«
Sie sahen einander an. Es gab einen Haken an der
Geschichte.
»Sesselja Ragnarsdóttir«, raunte Sofi.
»Ja, wer ist sie?«
Sofi schnappte sich ihren Block und ging in
Windeseile ihre Notizen durch. »Die beiden können sich nur zu einem
früheren Zeitpunkt an Josefin gewandt haben, wenn Sesselja die
Wahrheit sagt.«
»Sesselja könnte auch die Frau auf dem
Überwachungsfilm sein, das ist dir klar, oder?«
»Aber wir und die Säpo haben sie so gut
überprüft.«
»Okay«, sagte Kjell. »Nimm an, sie sagt die
Wahrheit. Für die Wohnung gibt es vier Schlüssel, einen davon hatte
Oskar aufbewahrt. Josefin besaß im Gegenzug einen Schlüssel zu
Oskars Wohnung. Diese beiden Exemplare konnte einer beim anderen
abholen, wenn er seinen Schlüsselbund verlor. Die drei anderen
Schlüssel waren in Josefins Wohnung. Einen davon hatte Sesselja,
die beiden anderen lagen im Flur. Oskars Exemplar konnte in seiner
Wohnung nicht gefunden werden, Barbro hat er erzählt, der Schlüssel
sei immer in einer Schublade gewesen.«
»Und bei der Toten finden wir 500 000 Kronen, von
denen wir nur wissen, dass das abgehobene Geld von Josefins Konto
nicht darunter ist. Das muss die Doppelgängerin doch mitgebracht
haben, denn warum hätte Josefin ihr Konto plündern sollen, wenn so
viel Geld in der Wohnung war.«
»Dieses Geld könnte natürlich aus der Kasse der
Gunnar-Bande kommen«, gab Kjell zu bedenken. »Es muss nicht aus
Automaten gestohlen worden sein.«
»Aber der Mörder kann nicht danach gesucht haben,
dann hätte er es ebenso rasch gefunden wie wir. Wenn wir Sesselja
glauben, dann hat er ja überhaupt nichts mitgenommen. Von dem Geld
hat er gar nichts gewusst.«
»Er kann das Geld auch mitgebracht haben«, nahm
Kjell den Faden wieder auf. »Du vergisst, dass es von Josefin
nichts Persönliches mehr in der Wohnung gibt. Ihr tragbarer
Computer und ihr Portemonnaie fehlen.«
Sofi nickte nachdenklich. »Ja, natürlich.« »Das
klingt also schon ganz gut«, resümierte Kjell. »Auch wenn noch
einiges im Dunkeln liegt. Aber wir tun gut daran, wenn wir
annehmen, dass Josefin in den Händen der Gunnar-Leute ist. Warum?
Ist sie ein Druckmittel?«
»Zu welchem Zweck denn? Nein.«
»Was dann?«
»Sie weiß etwas«, antwortete Sofi ohne Zögern.
»Durch Aisakos und Hesperia weiß sie etwas über die
Gunnar-Struktur.«
»Ganz genau. Aber warum nimmst du so sicher an,
dass es Gunnar ist?«
»Ich bin natürlich nicht sicher, aber überleg mal,
was wir und die Säpo in den letzten Tagen alles angestellt haben.
Und wir haben so gut wie nichts! Das erfordert auf der Seite der
Täter eine brillante Organisation und Infrastruktur. Und genau das
ist das Merkmal von Gunnar. Die Tarnung der Struktur ist ihre
Stärke. Niemand kennt irgendeinen Namen.«
»Außer Josefin vielleicht.«
»Vielleicht auch der JK selbst. Vielleicht ist es
ihm nur noch nicht bewusst.«
»Das Archiv«, sagte Kjell. »Aber dort haben sie
nichts gefunden.«