43
Mittwoch, 8. August
Kjell erwachte von der fremdartigen Polizeisirene, die durch das offene Fenster drang, und blickte in die Dunkelheit, bis er spürte, dass er zur Toilette musste. Auf dem Rückweg zum Bett entdeckte er den Lichtstreifen unter der Türschwelle. Er folgte dem Licht und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sofi saß an dem runden Tisch im Verbindungszimmer der Suite und hatte ihr gesamtes Computerinventar vor sich aufgebaut. Er zögerte und überlegte, ob er sich wieder zurückziehen sollte, weil sie sich mit zerwühltem Haar unter dem gelben Lichtkegel über ihren Bildschirm gebeugt hatte und den Programmzeilen folgte. Da wollte er lieber nicht stören, das hatte er in den Wochen, seit sie sich kannten, gelernt.
»Du kannst Kaffee haben«, sagte sie und legte eine Hand auf die Kanne, bevor sie sie wieder zum Weiterschreiben brauchte. »Der ist noch ganz heiß.«
Er schloss alle Knöpfe seiner Schlafanzughose, setzte sich zu ihr und goss sich Kaffee in die zweite Tasse. Wie spät war es überhaupt?
»Sieh mal«, begann sie sogleich. Auf einem Stück Papier hatte sie Straßen und Häuser skizziert. »Das sind die Daten von Henning. Hier sind die Stellen eingezeichnet, wo mit Josefins Karte Geld abgehoben wurde. Und mit den Uhrzeiten kann man die Route verfolgen und ausrechnen, wie lange sie von Automat zu Automat gebraucht hat.«
Sie ließ ihm einen Augenblick, um sich in der Zeichnung zu orientieren und sich am Kinn zu kratzen. Die Bartstoppeln knirschten, jedenfalls hörte er es.
»Sie?«
»Oder ein anderer. Die Person muss in großer Eile gewesen sein. Henning hat sich über die Protokolle der Automaten hergemacht, und an einem Donnerstag um kurz vor Mitternacht steht man in dieser Gegend zehn Minuten in so einer Schlange.«
Er nickte. Sofi wohnte nur einige Straßen weiter und wusste, wovon sie sprach. »Sprich weiter.«
»Ich habe die Zeiten genau durchgerechnet. Wenn man alles einbezieht, kann eine Person die Stationen nicht allein abklappern. Sie kann diese Zeiten nicht schaffen. Henning hat sich beim Betreiber erkundigt, weil er wissen wollte, warum das 5000-Kronen-Limit bei Josefins Karte die weiteren Abhebungen nicht verweigert hat. Obwohl Henning sehr hartnäckig war, hatte der Betreiber nur die Erklärung, dass es sich um einen Datenfehler handeln müsse. Der sei nicht mehr rekonstruierbar, dazu brauche man die Karte. Mehr konnte Henning mit seinen Mitteln nicht ausrichten.«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber …«
»Moment noch. Die Götgata-Tour lässt sich nur bewerkstelligen, wenn man mindestens zu zweit ist.« Sofi hielt ein Victory-Zeichen in die Luft.
»Einer hat also schon bei der nächsten Schlange angestanden, während der andere noch an der vorherigen Station abhob?«
Sofi grinste, weil er ihren Gedankengang nachvollziehen konnte. »Ich habe mich gefragt, warum es so laufen musste. Man kann ja auch in andere Stadtteile fahren, wo nichts los ist. Zum Beispiel in Reimersholme.«
»Da gibt es keine Automaten. Wenn du nicht erklären kannst, warum dieser Nachteil in Kauf genommen wurde, dann musst du dich fragen, ob das nicht auch der Vorteil sein könnte.«
»Wer die Masse sucht, will sich in ihr verbergen, das denkst du auch, oder?«
Er nickte stumm.
»Es kann jedoch kein Staffellauf sein, wie du angenommen hast«, überlegte Sofi. »Denn da ist ja noch der Faktor mit dem Datenfehler. Das war kein Fehler.«
»Das ist also die Verknüpfung zu München.«
»Normalerweise kann ich mich mit einer Karte und einem Magnetstift in ein Café setzen und die Bits auf dem Magnetstreifen verändern, wie ich will. Ich könnte das Limit der Fehleingaben der PIN-Nummer von drei auf neun erhöhen oder meine Kontonummer verändern. Nichts ist leichter als das. Es ist aber kaum zu schaffen, wenn man zum nächsten Automaten traben muss.«
Kjell nippte an seinem Kaffee und genoss das Aroma. »Hast du die ganze Tafel da gegessen?«
Erschrocken griff sie nach dem Papier und begriff, dass keine Schokolade mehr da war.
»Dann verrate mir den Trick.«
»Es waren zwei oder mehr. Jeder hatte einen Stapel mit Klonen der Originalkarte. Für jeden Automatenbesuch haben sie einen neuen Klon verwendet. Vielleicht haben sie auch Geld von anderen Konten abgeholt, das wissen wir ja nicht.«
»Also dieselben Leute wie in München?«
Sie nickte. »Aber der Trick in München war viel raffinierter. Ich habe mir die Daten angeschaut, die Mäusler mir auf der CD mitgegeben hat. Das sind aber nur die Kartendaten und die Automatenprotokolle, also nicht mal die Hälfte vom Ganzen. Da muss es vorher auch einen Eingriff auf den Server gegeben haben. Man kann ja nicht einfach eine Karte reinschieben und den Automaten umprogrammieren wie in einem Agentenfilm.«
»Also mindestens zwei Personen.«
»Und die Person, die man auf den Überwachungsaufnahmen aus München nicht sehen kann, das kann die Tote sein. Der andere ist der Mann auf dem Überwachungsvideo. Er liegt jetzt tot in der Pathologie.«
»Jedenfalls hätten wir das gerne.«
Sofi konnte recht haben. Sesselja war an diesem Donnerstag am frühen Abend zu ihrer ersten Nachtschicht aufgebrochen. Was die Tote von da an bis drei Stunden vor ihrem Tod getan hatte, konnte Sesselja also nicht sagen.
»Sie wurden verfolgt«, fuhr Sofi fort, ohne sich von seinem Einwand bremsen zu lassen. »Am Donnerstagabend haben sie in der Deckung all dieser Menschen, die dort auf der Straße waren, so viel Geld beschafft wie möglich. Dann müssen sie sich getrennt haben, wenn man bedenkt, wie wir die beiden später tot gefunden haben. Beide wurden von ihren Verfolgern eingeholt. Die Tote wurde aus dem Fenster gestürzt. In der Wohnung fanden wir Geld, das sie früher mit anderen Karten aus Automaten geholt haben könnten. Lauter unterschiedliche Geldscheine. Das ist Hesperia. Aisakos wird auch aufgespürt. Er stirbt denselben Tod wie seine Komplizin und landet im Park.«
»Das ist also dein Szenario. Nicht schlecht! Die Briefe könnten dem Zweck dienen, sich chiffriert zu verständigen. Vielleicht sind sie aber auch tatsächlich ein Liebespaar. Aber wer hat sie verfolgt und ermordet?«
»Ich dachte an Gunnar.«
»Die beiden müssen ja keine Deutschen sein. Sie haben nur das Land gewechselt. Bei Hesperias Anblick habe ich schon an Süd- oder Osteuropa gedacht. Sicher können wir es bei ihr aber nicht sagen.«
»Aber beim Mann sehr wohl. Der stammt auf jeden Fall nicht aus Nordeuropa und auch nicht aus Deutschland.«
»Dass die Frau in Deutschland dabei gewesen ist, überzeugt mich nicht so recht. Das würde sich zwar gut fügen, aber …«
»… nichts fügt sich so gut wie der Irrtum. Ich weiß schon.«
»Sie hätte dann auch sehr jung sein müssen. Der Mann ist doch bestimmt zehn Jahre älter als sie. Es ist auch nicht so wichtig. Wir müssen uns fragen, was die beiden mit der Gunnar-Bande zu tun haben.«
»Der Liebesbrief könnte auch echt sein. Der wirkt richtig komponiert.«
»Vielleicht ist sie wirklich Griechin. Wenn wir der Sondereinheit glauben, die an Gunnar dran ist, dann muss der Tote aus dem Zentrum der Struktur stammen, deshalb hat Gunnar alle Hebel in Bewegung gesetzt, ihn vor der Polizei zu erwischen. Das ist, was sie in Stockholm glauben. Der Fundort im Park sollte der Polizei vorführen, dass seine Organisation schneller und besser war.«
Sofi nickte und machte sich schweigend Notizen.
»Die können wirklich zum Justizkanzler gewollt haben, um dort Asyl zu bekommen«, nahm Kjell das Gespräch wieder auf.
Auch wenn das juristisch unklug war, weil es nicht zu den Kompetenzen des Justizkanzlers gehörte, so war der Gedankengang leicht nachzuvollziehen. Einem Ausländer ohne Kenntnisse über das schwedische Rechtssystem war der Justizkanzler dennoch ein Begriff, weil er bei anderen Fällen Ausländer gegen die Polizei oder andere Behörden verteidigt hatte. Und er galt weithin als aufrichtiger Mann.
»Allerdings war der JK nicht da.«
»Und jetzt kommt Josefin ins Spiel. Die wussten, wo sie die Tochter finden.«
Sie sahen einander an. Es gab einen Haken an der Geschichte.
»Sesselja Ragnarsdóttir«, raunte Sofi.
»Ja, wer ist sie?«
Sofi schnappte sich ihren Block und ging in Windeseile ihre Notizen durch. »Die beiden können sich nur zu einem früheren Zeitpunkt an Josefin gewandt haben, wenn Sesselja die Wahrheit sagt.«
»Sesselja könnte auch die Frau auf dem Überwachungsfilm sein, das ist dir klar, oder?«
»Aber wir und die Säpo haben sie so gut überprüft.«
»Okay«, sagte Kjell. »Nimm an, sie sagt die Wahrheit. Für die Wohnung gibt es vier Schlüssel, einen davon hatte Oskar aufbewahrt. Josefin besaß im Gegenzug einen Schlüssel zu Oskars Wohnung. Diese beiden Exemplare konnte einer beim anderen abholen, wenn er seinen Schlüsselbund verlor. Die drei anderen Schlüssel waren in Josefins Wohnung. Einen davon hatte Sesselja, die beiden anderen lagen im Flur. Oskars Exemplar konnte in seiner Wohnung nicht gefunden werden, Barbro hat er erzählt, der Schlüssel sei immer in einer Schublade gewesen.«
»Und bei der Toten finden wir 500 000 Kronen, von denen wir nur wissen, dass das abgehobene Geld von Josefins Konto nicht darunter ist. Das muss die Doppelgängerin doch mitgebracht haben, denn warum hätte Josefin ihr Konto plündern sollen, wenn so viel Geld in der Wohnung war.«
»Dieses Geld könnte natürlich aus der Kasse der Gunnar-Bande kommen«, gab Kjell zu bedenken. »Es muss nicht aus Automaten gestohlen worden sein.«
»Aber der Mörder kann nicht danach gesucht haben, dann hätte er es ebenso rasch gefunden wie wir. Wenn wir Sesselja glauben, dann hat er ja überhaupt nichts mitgenommen. Von dem Geld hat er gar nichts gewusst.«
»Er kann das Geld auch mitgebracht haben«, nahm Kjell den Faden wieder auf. »Du vergisst, dass es von Josefin nichts Persönliches mehr in der Wohnung gibt. Ihr tragbarer Computer und ihr Portemonnaie fehlen.«
Sofi nickte nachdenklich. »Ja, natürlich.« »Das klingt also schon ganz gut«, resümierte Kjell. »Auch wenn noch einiges im Dunkeln liegt. Aber wir tun gut daran, wenn wir annehmen, dass Josefin in den Händen der Gunnar-Leute ist. Warum? Ist sie ein Druckmittel?«
»Zu welchem Zweck denn? Nein.«
»Was dann?«
»Sie weiß etwas«, antwortete Sofi ohne Zögern. »Durch Aisakos und Hesperia weiß sie etwas über die Gunnar-Struktur.«
»Ganz genau. Aber warum nimmst du so sicher an, dass es Gunnar ist?«
»Ich bin natürlich nicht sicher, aber überleg mal, was wir und die Säpo in den letzten Tagen alles angestellt haben. Und wir haben so gut wie nichts! Das erfordert auf der Seite der Täter eine brillante Organisation und Infrastruktur. Und genau das ist das Merkmal von Gunnar. Die Tarnung der Struktur ist ihre Stärke. Niemand kennt irgendeinen Namen.«
»Außer Josefin vielleicht.«
»Vielleicht auch der JK selbst. Vielleicht ist es ihm nur noch nicht bewusst.«
»Das Archiv«, sagte Kjell. »Aber dort haben sie nichts gefunden.«
Die Falsche Tote
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