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Interessiert schlenderte Barbro durch das
Arbeitszimmer in Malin Sissings schöner Sjöstad-Wohnung. Durch das
großzügige Fenster sah man den Skiberg von Hammarbyhöjden
emporragen. Der Scanner summte. Als das Geräusch verklang, gesellte
sich Barbro zu Malin und betrachtete den Bildschirm. Bei einer
Tasse Pfefferminztee hatte Malin erklärt, dass sie seit zehn Jahren
als freie Schriftgestalterin arbeitete. Die Arbeit bestand darin,
alte Buchschriften zu modernisieren und zu digitalisieren, damit
man sie auf dem Computer verwenden konnte. Sie hatte auch sofort
verstanden, was Barbro von ihr wollte. Dabei hatte Barbro nicht
viel erklären müssen. Die Zettel hatten sogleich ihr Interesse
geweckt. Sie erschienen jetzt in starker Vergrößerung auf dem
Bildschirm. Malin vollführte einige komplizierte
Tastenkombinationen, und ein Liniengitter legte sich über die
Schrift. Malin ließ sich in ihrem Polsterstuhl zurücksinken und
starrte auf die Buchstaben. Weitere Tastenkombinationen waren
nötig. Zwischen den Zeichen erschienen schwarze und graue
Rechtecke. Am Ende leuchtete der Text hellgrau vor schwarzem
Hintergrund.
»Dass du dir die Tastenkombinationen alle merken
kannst«, staunte Barbro.
Malin seufzte. »Ich sitze viel zu viel vor dem
Computer. Neulich ist mir beim Abtrocknen eine Tasse
heruntergefallen, und mir schoss sogleich der Befehl ›Rückgängig
machen!‹ durch den Kopf.«
»Eine schöne Zwangsneurose, die du da hast.«
Malin nickte kichernd und zoomte mit der Maus die
Linien und Kreuzungen der Buchstaben heran. Schließlich schien sie
sich zu einem Urteil durchgerungen zu haben. Sie nickte verstehend
und schrieb den Text des ersten Zettels in eine neue Zeile über den
alten.
»Siehst du es?«, fragte sie.
Barbro nickte. Jede Zeile war in einer anderen
Schrift gesetzt, aber sie waren sich alle auf geschwisterliche
Weise ähnlich.
»Es ist die Jenson, eine sehr alte Schrift aus dem
17. Jahrhundert.« Malin zeigte Barbro an ausgewählten Merkmalen,
woran die Jenson besonders gut von anderen Schriften zu
unterscheiden war. Dass die Q-Schleife besonders lang war, konnte
Barbro noch nachvollziehen, bei Federkielabflachungen in den
Schwüngen erkannte sie keine Unterschiede, obwohl Malin sie wie ein
Vorschulfräulein mit dem Cursor nachfuhr.
»Als im zwanzigsten Jahrhundert die neue Zeit
begann, hat man die alten Bleisatzschriften digitalisiert. Es gibt
immer mehrere Versionen von unterschiedlichen Herstellern.« Sie
fuhr über die Zeilen. »Diese hier ist auch so eine Digitalisierung,
aber ich kenne sie nicht. Das ist ganz schön seltsam.«
Malin blätterte in mehreren Katalogen.
»Die Jenson imitiert den Strichstärkenkontrast
einer breiten Schreibfeder stärker als andere Schriften. Bei den
modernen Adaptionen ist das ein wenig zurückgenommen. Von allen
digitalen Versionen gleicht diese hier dem alten Original am
meisten. Eine sehr konservative Variante. Außerdem wurde sie nach
dem Bleisatzschriftbild digitalisiert und nicht nach der Form des
Bleistempels. Da hatte jemand wirklich Ahnung. Die Digitalisierung
ist auch sehr hochwertig. Nur die Abstände der Buchstaben
nicht.«
Barbro versuchte, daraus Verwertbares abzuleiten
und runzelte die Stirn. »Kannst du etwas über die Person sagen, die
das geschrieben hat?«
»Wer das geschrieben hat, hat sich Mühe gegeben.
Aber es ist die Mühe eines Laien. Das Wort ›Aisakos‹ ist mit einem
Worttrennstrich vom Text abgesetzt. Das würde ein Fachmann niemals
tun. Ein Fachmann würde die Zeilen auch nie zentrieren. Das ist
typisch für Laien. Diese Zettel wurden mit einem normalen
Textverarbeitungsprogramm geschrieben. Das erkennt man aus den
Konturen. Schau, wie scharf die sind. Und die Abstände der Zeichen
stimmen auch nicht. Bei einer professionellen Druckerschrift ist
der Abstand jeder Buchstabenkombination genau festgelegt. Deshalb
sind sie so teuer.«
»Es ist also keine Druckerschrift.«
»Doch. In eine professionelle Schriftdatei sind
immer zwei Informationen eingefügt. Zum einen die Konturen der
Zeichen. Die sind bei Buchdruckschriften viel sorgfältiger
gezeichnet als bei kostenlosen Computerschriften. Und zudem steckt
in der Datei eine Tabelle, in der die Abstände jeder
Zeichenkombinationen, die du dir vorstellen kannst, genau
festgelegt sind. Im Gegensatz zu Satzprogrammen können aber
Schreibprogramme, wie man sie im Büro oder zu Hause verwendet,
diese Tabelle nicht richtig lesen oder anwenden. Und das Ergebnis
siehst du hier. Solche unschönen Abstände hätte ein guter
Schriftgestalter niemals festgelegt. Sieh dir nur das erste Wort
an: Mag er kommen! Zwischen M und A klafft eine Lücke, aber
A und G kleben aneinander.«
Malin schüttelte sich vor Abscheu.
Erstaunlicherweise wirkte sie selbst lange nicht so ausgeglichen,
wie sie es von ihren Buchstaben erwartete.
»Und diese Schrift stammt von einem guten
Schriftgestalter?«
»Allerdings. Ein Meisterwerk. Stell dir eine halbe
Million Kronen vor. Das ist der Preis, um so eine Schrift zu
entwickeln.«
»Aber wie kommt es, dass wir diese Schrift sonst
nirgendwo finden?«
»Große Unternehmen lassen sich oft eine eigene
Schrift für ihr Corporate Design erstellen. Aber selbst, wenn nur
einer sie benutzen darf, sind sie in meinen Katalogen gelistet. Das
ist wirklich sonderbar.«
Henning sah Barbro mit einem gelben Tablett auf
seinen Tisch zusteuern. Ihr Gesicht hatte sich versteift. Auch als
sie zwischen Tagge und Leif von der Registratur hindurchschlüpfen
musste, regte sich darin nichts. Das war bei ihr immer ein Zeichen,
dass der Tag nicht so ergiebig gewesen war, wie sie es sich
vorgenommen hatte. Henning wusste nicht, ob sie der Zwang, den Tag
so effizient wie möglich zu gestalten, erst nach der Geburt von
Emmi überwältigt hatte, weil er sie erst seitdem kannte. Vielleicht
waren Frauen auch einfach so, da wollte er lieber nicht zu tief
einsteigen aus Angst vor möglichen Erkenntnissen. So kurz nach dem
Essen brachte er gerade noch die Kraft auf, um zwei, drei
Zahnstocher weichzukauen.
Barbro erreichte den Tisch, nahm Platz und begann
wortlos zu essen.
»Du kommst spät«, bemerkte Henning, um es noch ein
wenig schlimmer zu machen.
Das klappte jedoch nicht. Barbro ließ sich nur von
sich selbst nervös machen. »Was hast du gemacht?«, fragte
sie.
»Bin mit Sten zur Kanzlei gefahren. Wir haben
Rosenfeldt alles erzählt. Er ist schließlich der
Justizkanzler.«
»Scheint auch nicht so toll gewesen zu sein, wenn
du in der Kantine herumlungerst.«
Die Ermittlung war jetzt am toten Punkt angelangt.
Die Motivation auch. Alles war möglich, aber nirgendwohin führte
ein Weg. Es ging auf drei Uhr zu. Inzwischen waren alle
Mittagsgäste gegangen, und die Italienerinnen begannen, das Büffet
für die Abendschicht zu decken. Barbro sah Lasse und den jungen
Dunkelhaarigen, der letzte Woche bei der Tatorttechnik begonnen
hatte, durch die Glastür in die Kantine kommen.
Schöpflöffel-Rosinda reichte den beiden zwei Kisten über die
Theke.
»Sind die immer noch drüben im Park?«, wollte
Barbro wissen.
Henning nickte. Er überlegte gerade, ob er noch
einen Zahnstocher beginnen oder lieber gleich hochgehen
sollte.
»Was ist aus den zweihundert Spannen geworden, um
die du mit Janne gewettet hast?«
»Ist sich zu null ausgegangen. Kennst du den Baum
drüben auf der Wiese?«
»Da gibt’s nur Bäume.«
»Der große, gleich nach der Treppe neben dem
Lüftungsschacht.«
Barbro nickte.
»Da hing ein Toter. Gut, oder?«
Barbro schob ihr Tablett beiseite und tupfte sich
mit der Serviette den Mund ab.
»Jemand hat ihn kopfüber dort aufgehängt, in Folie
eingepackt und gut verschnürt. Schöne Provokation. Fünfzehn Meter
von der Reichskrim entfernt. Das hat es auch noch nicht
gegeben.«
Henning erhob sich, um seiner Kollegin einen Kaffee
zu holen. Dann erzählte er, was er während des Mittagessens alles
erfahren hatte. Während Barbro am Morgen bei Wessén gewesen war,
musste den Leuten, die man jeden Morgen und jeden Nachmittag am
Hundespielplatz beobachten konnte, der eigenartige Schatten in der
Baumkrone aufgefallen sein. Die Hunde hatten nichts bemerkt. Die
hatten nichts Besseres zu tun, als sich in dem abgezäunten Carré im
Kreis zu jagen.
»Die müssen auch gleich bei den Zeitungen angerufen
haben. Die waren ja schneller da als die Techniker.«
»Wer ermittelt?«
»Granholms Leute.«
»Bezirkspolizei? Warum nicht die Reichsmord?
Immerhin hing der Tote vor unserer Tür.«
»Könnte der Typ sein, den Gunnar sucht.«
»Wieso glaubst du das?«
»Hab mit Sten gesprochen. Sie wissen noch nichts,
aber der Tote sieht osteuropäisch aus. Die Fingerabdrücke sind
unbekannt.«
Hm, machte Barbro. »Da muss ja beim Täter die
Absicht bestanden haben, dass die Leiche schnell gefunden wird. Es
muss eine Botschaft an die Polizei sein.«
Henning zog sich den Zahnstocher aus dem Mundwinkel
und begutachtete das Resultat. »Wenn du willst, dass sich die
Nachricht in Windeseile im ganzen Polizeikomplex herumspricht, dass
also wirklich alle davon erfahren, was ja nicht leicht ist, wo
würdest du die Leiche deponieren?«
»Ich würde sie an der Eibe neben dem
Lüftungsschacht aufhängen«, sagte Barbro.
Henning nickte und grinste.
»Von außen könnte man denken, du bist ein fauler
Sack und sitzt hier herum«, fand Barbro.
Henning grinste breit.