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Er war zu erwarten gewesen, dass die
Pressekonferenz zu einer politischen Grundsatzrede geraten würde.
Sten war nun seit über einem Jahr Reichskriminalchef. In dieser
Zeit war er damit beschäftigt gewesen, die Reformen seiner
Vorgängerin rückgängig zu machen und in die Gegenrichtung zu
marschieren. Der Tag war nun gekommen, wo er sich in aller
Öffentlichkeit selbst dafür loben musste. Die Reichsmordkommission
war so gut wie aufgelöst gewesen. Die Idee, die lokalen
Polizeibehörden Morde selbst aufklären zu lassen, hatte zu einem
katastrophalen Anstieg der ungelösten Fälle und falscher Anklagen
geführt. Das habe nicht zuletzt das südschwedische Ystad im letzten
Herbst gezeigt, wo es in den letzten dreißig Jahren nur zwei Morde
gegeben hatte und die Polizei mit dem Doppelmord mangels Erfahrung
völlig überfordert gewesen war. Die alte Reichsmord
wiederzubeleben, das war eine selbstverständliche Pflicht gewesen.
Zudem autonom operierende Ermittlergruppen zu ersinnen, damit habe
sich die schwedische Reichskriminalpolizei an die Spitze der
Avantgarde in der Ermittlungstechnik gesetzt.
Sofi brauchte den halben Schokoladenriegel lang, um
zu kapieren, dass Sten Haglund gerade von ihr sprach, und von
Kjell, Barbro und Henning. Zum Glück war sie wegen ihres Einsatzes
am Nachmittag von ihrem Auftritt befreit worden. Diese neuen
Gruppen arbeiteten entgegen der alten Schule nach der
experimentellen Szenarienmethode. Sofi konnte Kjell an den Augen
ablesen, dass auch er zum ersten Mal davon hörte.
Und jetzt zahle es sich aus, diesen zugegeben
riskanten Weg rechtzeitig, das hieß mit visionärer Voraussicht,
eingeschlagen zu haben. Gerade jetzt sei es wichtig, solche Gruppen
parat zu haben, wie in diesem Fall, wo man es mit einer unbekannten
Leiche und dem Verschwinden von Josefin Rosenfeldt zu tun hatte,
der Tochter des Justizkanzlers.
»Entschuldigung!«, rief ein Reporter, der
aufgesprungen war. »Habe ich das richtig verstanden? Die Tochter
des Justizkanzlers ist verschwunden?«
»Ja, leider.«
Im Publikum kam Unruhe auf. Sofi schüttelte sich
vor Lachen, als sie sah, wie Kjell neben Sten die Gesichtszüge
entglitten. Sten war wirklich ein ganz unglücklicher
Dramaturg.
Das Fenster des Fernsehprogramms nahm nicht den
ganzen Monitor ihres Computers ein. Als sie es bemerkte, konnte sie
nicht sagen, wie oft sie schon hingeblickt hatte, ohne dass ihr
Gehirn es erkannt hatte. Der Absender der neuesten E-Mail bestand
nur aus einem Wort. Sofi blinzelte und dachte an eine
Sinnestäuschung. Der Absender hieß Aisakos. Sofi blieb sitzen und
rührte sich nicht. Aisakos, wie konnte das sein? Dann klickte
sie.
Hilfe, las Sofi, hört auf! Ihr tötet
uns.
Wieso denn Aisakos? Sofi klickte auf den Namen, um
herauszufinden, welche Adresse sich dahinter verbarg, aber es war
nur eine der üblichen Massenadressen.
Wer seid ihr?, schrieb sie zurück.
Die Antwort kam sofort: Jetzt weiß Gunnar, dass
er Josefin nicht getötet hat.
Sofi sah auf dem anderen Fenster ihres Monitors,
wie weit die Pressekonferenz fortgeschritten war. Sie verstand
nichts.
Sie antwortete wieder. Dass sie nichts
verstand.
Aisakos antwortete wieder sofort: Josefin hat
herausgefunden, wer Gunnar ist. Es war Zufall.
Wer ist Gunnar?, wollte Sofi nun
wissen.
Die Antwort von Aisakos war eine Liste. Es waren
Dutzende von Namen. Da sonst nichts dabeistand, rief Sofi das
Personenregister auf und gab den ersten Namen ein. Finn Steffansson
war am 12.10.1961 geboren und wohnte in Mälarhöjden. Er war
verheiratet. Und er war Polizist. Die anderen waren auch
Polizisten. Sofi musste noch vier Stichproben durchführen, bis sie
verstand. Es war eine Liste von Polizisten, die mit Gunnar zu tun
hatten. Die zu Gunnar gehörten. Das war also die Botschaft. Aisakos
traute ihr nicht.
Sofi schrieb zurück, dass sie und ihre Kollegin
nicht dazugehörten und auch nicht auf der Liste standen, und
Aisakos antwortete, dass sie Josefin mit dem Bild in der Zeitung
und der gerade laufenden Pressekonferenz in Lebensgefahr gebracht
hatten.
Wenn sie gerade mit Aisakos in Kontakt war, wer war
dann der Tote aus dem Park? Das schrieb sie.
Warum wisst ihr das nicht?, antwortete
Aisakos. Es ist Klaras Mörder. Warum wisst ihr das nicht? Sie
haben mich gefunden. Ich muss dir die Daten geben.
Hieß das Mädchen etwa wirklich Klara? Sie hatten
schon Witze darüber gemacht!
Du musst sofort herkommen.
Zu gefährlich.
Du musst sofort herkommen!
Norr Mälarstrand. Lauf am Pavillon herum. Ich
finde dich.
Woher weißt du, wie ich aussehe?
Als Antwort schickte Aisakos ihr das Bild, das von
ihr in der Zeitung gewesen war. Sofi sprang auf und rannte los. Sie
rannte den Gang entlang, und kurz darauf stieß sie unten am
Haupteingang die Glastür auf und rannte in einem weiten Bogen nach
links auf die Straße. Sie rannte die Polhemsgatan hinab.
Stickige Luft kam ihnen entgegen. Theresa wich
zurück. Henning erklärte ihr, dass Schyman auf einem Friedhof
begraben lag und die Luft in Ordnung war. Sie machten Licht. Vor
ihren Augen tauchte die Wohnung eines alten Mannes auf, mit dunklen
schweren Holzmöbeln und einer gemusterten Tapete.
Theresa kniete sich hin und strich mit der Hand
über den Teppichboden. »Teppich, wie in Deutschland.«
Henning zog sie hoch und deutete mit dem Finger
nach rechts. Sie trennten sich. Henning betrat das große Zimmer.
Warum war diese Wohnung nach dem Tod von Schyman nicht aufgelöst
worden? Henning knipste das Licht an. Auch hier war alles mit
schwerem Holz eingerichtet. Auf dem Boden standen zwei
Reisetaschen.
»Henning!«
Es war Pers Stimme. Henning lief zu seinem Kollegen
ins andere Zimmer hinüber.
»Wieso hat ein Dreiundachtzigjähriger so einen
Computer?«
»Und eine Playbox, oder wie die Dinger heißen.«
Henning schaltete den Computer ein und ging wieder ins andere
Zimmer. Er öffnete die Taschen und zog die Kleidungsstücke heraus.
An einer Tasche klebte am Griff ein Gepäckband von einem SAS-Flug.
Henning griff zum Telefon.