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Astrid Svärd reichte Sofi das von Kreide steife
Handtuch, das neben dem Waschbecken gehangen hatte. Nachdem sie den
ganzen Morgen durch die Stadt gefahren war, hatte sich der Himmel
immer mehr verdunkelt und die letzten dreihundert Meter zwischen
U-Bahn-Station ›Universität‹ und dem Wallenberglaboratorium
abgewartet, um Sofi mit einem Sturzregen innerhalb von Sekunden zu
durchnässen. Vorsichtig drückte Sofi mit dem Handtuch die Nässe aus
ihren Haarspitzen. Für ihr Gesicht nahm sie lieber ihre Hände, so
schimmlig, wie das Handtuch roch. Auf dem Boden hatte sich eine
Pfütze gebildet. Aus den Augenwinkeln nahm sie die nervösen
Bewegungen der Dozentin war, die in ihren Gesten einem jungen
Mädchen auf dem Höhepunkt der pubertären Unsicherheit glich. Dabei
war Astrid bald zehn Jahre älter als Sofi. Die Säpo hatte ganze
zwei Tage benötigt, um die Dozentin zu überprüfen. Astrid war seit
drei Jahren als Forscherin und Dozentin am Institut für antike
Kultur und Gesellschaft angestellt. Im letzten Winter hatte sie
einen Professor in Uppsala vertreten, der bei seinem alljährlichen
Spaziergang im Dunkel des Neujahrsmorgens im Botanischen Garten mit
einem Schneeräumfahrzeug kollidiert war. Vor und nach dieser
Periode hatte Josefin im ersten und dritten Semester je ein Seminar
bei Astrid Svärd belegt. Sie war vor allem für die Studienanfänger
zuständig. Unter dem Punkt ›Gefahrenpotential‹ führte der Bericht
der Säpo nur auf, dass Astrid lesbisch war.
Vor dem Fenster beugte der Regen die Zweige der
hohen Fichten. In der Ferne ragte das Dach der
Wissenschaftsakademie aus den Baumkronen. Der Regen rauschte so,
dass sie etwas lauter sprechen mussten, was Astrids Stimme ein
wenig ins Schwanken brachte. Offensichtlich widersprach es Astrids
Natur, die Stimme zu heben. Sie hantierte an dem Waschbecken neben
der Tür und setzte sich schließlich mit zwei Tassen Tee an ihren
Schreibtisch. Jenseits des Tisches saß Sofi auf dem Studentenstuhl
und hatte Mühe, nicht an ihre nasse Unterhose zu denken. Sie zog
ihren Notizblock aus der Tasche, in der zum Glück alles trocken
geblieben war.
Dass Josefin Rosenfeldt die Tochter des
Justizkanzlers war, dessen Name einem in den Zeitungen und im
Fernsehen dauernd begegnete, wusste Astrid Svärd nicht. Vielleicht
würde Astrid später ein wenig grübeln, warum die
Reichskriminalpolizei sich für Josefin und ihre Seminararbeit
interessierte. Das konnte Sofi nicht verhindern. Am Telefon hatte
sie bereits erklärt, dass sie Astrid den Grund des Gesprächs nicht
verraten durfte.
Zuerst begann Sofi, ihre Informationen mit Astrids
Akte über Josefin zu vergleichen. Das Seminar im ersten Semester
konnte sie abhaken, alle Studenten besuchten es und schlossen mit
einer Klausur ab. Das aktuelle Semester war viel interessanter. In
Josefins Zimmer hatte Sofi Ausdrucke einzelner Seiten der
Seminararbeit gefunden, doch ließ sich daraus nicht viel
rekonstruieren. Die einzig vollständige Fassung lag vor Astrid auf
dem Tisch.
»Kannst du mir etwas über Josefin Rosenfeldt
erzählen?«, fragte Sofi. »Wie war sie so?«
Astrid rückte die Arbeit einen Zentimeter in
Richtung Sofi. Das sollte wohl bedeuten, dass sie sich nur grob an
Josefins Aussehen erinnern konnte.
»Hast du die Arbeit schon korrigiert?«
»Schon vor einigen Wochen. Bevor du gekommen bist,
habe ich sie noch einmal durchgeblättert. Josefin war früh fertig
damit. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie sie bereits bei
ihrem Referat ganz zu Beginn des Semesters abgegeben. Das gibt es
selten.«
»Dann kannst du ja doch viel über sie sagen.«
Astrid lächelte vorsichtig. Sofi ging auf, dass
Astrid dem Besuch der Reichskriminalpolizei entgegengebibbert haben
könnte, und nun war sie zudem noch damit überrascht worden, dass
eine junge Frau hereinkam, die zugleich aussah wie eine ihrer
Studentinnen und Patrick Duffy in ›Der Mann aus dem Meer‹. Sofi
mochte nicht, wenn ihre Haare nass waren und die Kopfhaut
juckte.
Auf einmal hörte der Regen draußen von einer
Sekunde zur nächsten auf. Die Frauen sahen beide zum Fenster. Sofi
bat Astrid, ihr zu erklären, worum es in der Arbeit ging. Astrid
stimmte auch zu, dass Sofi das Gespräch aufzeichnete, weil sie
bestimmt nicht alles kapieren und behalten würde.
»Es kommt wirklich auf jedes Detail an«, sagte Sofi
und drückte auf den Aufnahmeknopf.
Das brachte Astrid wieder zum Lächeln. Etwas von
ihrer Hut vor anderen Menschen fiel von ihr ab. Bei ihren
Erklärungen hangelte sie sich trotzdem am Inhaltsverzeichnis
entlang.
Im alten Athen hatte es zahlreiche Gerichtshöfe
gegeben. Josefin hatte sich nur mit solchen beschäftigt, die über
Tötungsdelikte zu urteilen hatten. Ein Gerichtsort namens Palladion
hatte sich auf tödliche Sportunfälle und fahrlässige Tötungen
spezialisiert. Am Delphinion, dem Apoll-Tempel in Delphi, mussten
sich all jene verantworten, die einen Menschen mit Absicht getötet
hatten. Allerdings musste diese Tötung gerecht sein. Athener
durften zum Beispiel Betrüger und Taschendiebe töten, wenn sie sie
in flagranti erwischten. Als Astrid vom Phraetto erzählte, einem
Ort an der Küste, wo Exilanten in einem nahe am Strand schwimmenden
Boot standen, weil sie attischen Boden nicht betreten durften,
schweiften Sofis Gedanken kurz zu Tobbe ab, zu dem sie als
Dreizehnjährige an einem Sommerabend gerudert war, um ihm am Steg
ihre Liebe zu gestehen, bevor sie ganz davon verzehrt würde. Das
war sicher eine der blödesten Ideen gewesen, die sie je gehabt
hatte. Es dauert nämlich sehr lange, bis man aus den Augen
desjenigen weggerudert ist, der flachbrüstige Zigeunermädchen eklig
findet, und zwar genau sieben Minuten und achtzehn Sekunden.
Vor allem aber hatte Josefin sich mit dem Areopag
beschäftigt, der sich nicht mit Kleinigkeiten aufhielt, sondern
richtige Mordfälle untersuchte. Sein Urteil war die Todesstrafe. In
den antiken Tragödien und in der Mythologie war der Areopag, der
Hügel des Ares, ein beliebter Handlungsort. Die Erinnyen hatten
dort den Orest angeklagt, weil er seine Mutter Klytaimnestra für
den Mord an ihrem Mann Agamemnon getötet hatte. Orest war von den
drei Rachegöttinnen dorthin zu Athene geflohen. Athene sprach Orest
frei, weil Klytaimnestra schließlich einen Mann getötet hatte und
Orest nur eine Frau. Der Mord an der Mutter sei Orest zudem von
Apoll selbst befohlen worden.
»Hätte die Verhandlung dann nicht am Delphinion
stattfinden müssen?«, wollte Sofi von Astrid wissen.
Astrid lächelte erfreut. »In jedem Fall gilt diese
Geschichte als Gründungsmythos des Areopags als Gericht. Das ist
eigentlich das Wichtige daran.«
»Und dann? Orest wurde also freigesprochen?«
»Die Erinnyen waren mit diesem Urteil nicht
zufrieden und verfolgten Orest.«
Sofi richtete sich alarmiert auf. »Darüber hat
Josefin geschrieben?«
Astrid reichte ihr die Arbeit. Sofi blätterte sie
durch. Sie umfasste nur dreiundzwanzig Seiten.
»Sie hat sich vor allem mit dem historischen und
mythischen Ursprung beschäftigt. Nirgendwo geht sie weiter als bis
zur Zeit des Ephialtes.«
Sofi sah Astrid erwartend an und notierte sich in
Gedanken, dass sie Effialtes später nachschlagen musste.
»Mich hat gefreut, dass sie sich mit Details
beschäftigt hat, die sonst alle übergehen«, fügte Astrid zögernd
hinzu. »Die Geschichte mit Orest findet sich in der Orestie, einer
Tragöden-Trilogie von Aischylos. Im dritten Stück, den Eumeniden,
spricht Athene also ihr Urteil und zugleich sagt sie dort, dass der
Hügel der Amazonen von nun an eine ständige Einrichtung sein
soll.«
Astrid bemerkte, dass Sofi beim Mitschreiben ins
Stocken geriet, und buchstabierte das Wort Eumeniden.
»Eumenes bedeutet ›wohlgesinnt‹. Ein Euphemismus für die
Erinnyen.«
»Aha«, schnaufte Sofi beim Kritzeln. »Und warum
Hügel der Amazonen? Ich dachte, es ist der Hügel des Ares.«
»Athene spricht von den Amazonen. Josefin ist
dieser Frage nachgegangen, aber es bleibt ziemlich dunkel.«
Sofi angelte sich ihre Tasche vom Boden und zog
ihren Computer heraus. Er war so schön klein, dass es jeden in
Erstaunen versetzte, wenn Sofi das tat.
»Es gibt noch einen älteren Mythos. Demnach hat
Poseidon den Gott Ares angeklagt, weil er dessen Sohn getötet hatte
als Rache für eine Vergewaltigung an dessen Tochter.«
»Der Tochter des Ares?«
»Mmm, Alkippe heißt sie.«
»Ares ist der Kriegsgott und Poseidon der
Meeresgott, ja?«
»Äh, nein, das liest man so überall, aber stimmen
tut es nicht. Poseidon ist nicht das Wasser, er ist die Kraft, die
das Wasser bewegt, aber auch das Land, Poseidon kann auch Erdbeben
auslösen. Jedenfalls ist er nicht mit Neptun identisch. Er lässt
zusammenstürzen, was falsch und frevelhaft ist. Das ist seine
Rolle. Es gibt dagegen richtige Wassergötter wie Nereus.«
»Ist das nicht der, der einem die Wahrheit sagen
muss, wenn man ihm eine Frage stellt?«
»Ja«, antwortete Astrid.
So wie Tobbe, dachte Sofi. Der war auch ein Nereus
gewesen. Endlich war der Computer hochgefahren. Sie öffnete die
Bilddatei und zeigte Astrid das Poster aus Josefins Zimmer. »Hast
du das schon einmal gesehen?«
Das Betrachten des Bildes bereitete Astrid
Vergnügen. Sie schüttelte jedoch den Kopf.
Satan auch, dachte Sofi. »Sagen dir Aisakos und
Hesperia etwas?«
»Eine Liebesgeschichte.«
»Darin geht es doch auch um den Tod. Aisakos
verliebt sich in die Nymphe Hesperia und will ihr seine Liebe
gestehen. Sie flieht vor ihm, und auf der Flucht stirbt sie durch
den Biss einer Schlange. Aisakos stürzt sich vor Kummer ins
Meer.«
»Aber mit dem Areopag hat es nichts zu tun.« Astrid
verstummte für einen Moment und biss sich auf die Unterlippe. »Es
ist natürlich der Biss des Gewissens, der Aisakos in den Tod
treibt. Personifiziert sind Gewissensbisse die Erinnyen. Das wäre
eine Verbindung, aber ausdrücklich ist sie nicht. Es ist auch keine
sehr gehaltvolle Geschichte.«
»Wann sind Liebesgeschichten das schon!« Sofi
klappte ihren Laptop zusammen und stopfte alles, was sie im Laufe
des Gesprächs auf der Tischplatte verteilt hatte, wieder in ihre
Tasche. Sie stand abrupt auf. »Ich muss gehen. Vielen Dank.«
»Die Arbeit kannst du gern mitnehmen.«
Erst an der Tür fiel es ihr ein. »Kann Josefin
eigentlich Griechisch?«
»Das weiß ich nicht.«
»Kannst du das aus der Arbeit nicht ablesen?«
»Nein, alle Zitate sind auf Englisch. Wir arbeiten
nur mit Übersetzungen. An einem Kurs hat sie jedenfalls nicht
teilgenommen.«
Sofi kehrte nicht sogleich zur U-Bahn zurück. Erst
musste sie nachdenken. Um das Haus herum führte ein Weg zum Wasser.
Die Oberfläche war aufgewühlt. Deshalb dachte Sofi an Poseidon und
ein allerletztes Mal an Tobbe. War da wirklich eine Verbindung?
Eine feministische Verbindung, eine Tote, eine Verschwundene, deren
Vater einer der höchsten Vertreter der schwedischen Gerichtsbarkeit
war? Sofi dachte an die türkische Familie, als sie sich ins nasse
Gras kniete, um auf ihrem Notizblock ihre Gedanken zu
kartographieren. Die Familie hatte einen Ehrenmord an der Tochter
begangen, und der Justizkanzler war gegen das Urteil am Vater
vorgegangen, denn bei den Verhören hatte die Polizei der Wahrheit
etwas nachhelfen müssen. Der Justizkanzler hatte sich also gegen
ein Unrecht gewandt, zugleich blieb das Unrecht des Vaters an
seiner Tochter durch das Wirken des Justizkanzlers ungesühnt. Das
hatte viele Schweden in ihrer Meinung geteilt. Nun war die Tochter
des Verantwortlichen verschwunden, eine andere, die nicht nur
Josefin auf grobe Weise ähnlich sah, sondern vielleicht auch dem
türkischen Mädchen, war aus dem Fenster gestürzt. War das nicht
eine Spezialität der Erinnyen, Leute dazu zu bringen, sich in den
Tod zu stürzen?
An der Wand hatte ein Poster gehangen. Es hatte
noch nicht lange dort gehangen. Die Tote konnte es dort aufgehängt
haben. War das ein Rachemord? Lag Josefin irgendwo tot? Dann konnte
die Tote die Mörderin sein. Gab es doch eine Verbindung zwischen
der toten Türkin und der Doppelgängerin? Dann war ihr Sturz
vielleicht gar kein Mord. Es konnte doch irgendeine andere
Erklärung für das geben, was der Nachbar gehört hatte.
Sofi blätterte in ihrem Notizblock weit nach vorn.
Sesselja. Sie hatte die Tote doch als verängstigt beschrieben.
Vielleicht war alles andersherum, als wir bisher geglaubt haben,
murmelte sie vor sich hin, so herum ergab es auch eine
Geschichte.