47
Das Haus war früh in den Schatten der Bäume gesunken. Die Wiese vor dem Waldrand leuchtete noch gelb von der tief stehenden Sonne. Kjell spürte die Kälte des feuchten Mooses langsam in seinen Körper kriechen. Sofi schien es nicht zu bemerken. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf das Haus gerichtet und den dunkelroten BMW, der davor parkte. Nur noch Ermin lag bei ihnen, seine drei Männer waren vor fünf Minuten ausgeschwärmt. Der Wagen stand unter einem Windfang, und einer der Männer musste sich nahe an das Grundstück heranwagen, um das Nummernschild ablesen zu können. Fasziniert hatte Sofi verfolgt, wie die Männer ihre Phantom zusammenmontierten. Dabei deuteten Sofis Ergebnisse beim Training auf eine Schussangst hin, an der sie noch Jahre zu arbeiten hatte.
Der Wald hatte die drei Männer verschluckt. Ermin hatte sein rechtes Auge an das Visier gelegt und rührte sich nicht mehr. Auf einmal näherte sich ihnen ein undeutbares Geräusch von hinten. Die Rückendeckung war Kjells Aufgabe. Er drehte den Kopf und suchte den Wald von links nach rechts ab.
Sofi blickte auf zum Himmel. »Graugänse.«
Es dauerte lange, bis Sofi recht bekam. Eine dreieckige Formation erschien hinter ihnen über den Wipfeln und flog über die Lichtung hinweg. Ermin sah besorgt zum Himmel.
»Die landen nicht hier«, flüsterte Sofi.
»Sie ist aus Värmland«, erklärte Kjell.
Ermins Mundwinkel zuckten.
Sofi starrte wieder zum Haus. »Das ist kein gutes Zeichen.«
»Warum?«
»Die Graugänse bringen die Seelen der Toten ins Jenseits. Wenn sie auftauchen, ist der Tod in der Nähe.«
Eine erstaunliche Aussage für jemanden, der vor einer halben Stunde noch mit dem Zirkel in der Hand behauptet hatte, alles im Leben ließe sich durch ein Differential in den Griff bekommen.
»Woher hast du das denn? Ist das aus Nils Holgersson?«
»Das wissen sie bei uns seit der Wikingerzeit.«
Ermin hob die Hand und bat um Stille. Offenbar bekam er etwas über seinen Kopfhörer. Er tippte mit der Fingerspitze auf das Tab-Pad an seinem Handgelenk. Kjell gab den Versuch rasch auf, etwas zu verstehen. Er entdeckte keine Ähnlichkeit mit der Morsesprache. Ermin deutete auf zwei Punkte in der Nähe des Hauses. Einer der Männer saß an der Südseite in einer Baumkrone. Der andere lag in einem Gebüsch nur zwei Meter vor dem Eingang.
Sofi wollte von Ermin eine Erklärung haben, warum sich seine Leute so eigenartige Orte ausgesucht hatten.
»Mähfeuer.« Ermin hob wieder die Hand und notierte dann etwas auf dem Notizblock, der vor ihm lag.
Während Ermin schweigend horchte, wollte Kjell lieber nicht daran denken, dass jemand aus dem Haus treten könnte, um wild herumzuschießen. Aber das wäre auch das Einzige gewesen, was seine Lage im nassen Moos noch unangenehmer hätte machen können.
Das Kennzeichen des BMW lautete YEC 214. Sofi drückte eine Kurzwahltaste und gab es der Zentrale durch. Bald legte sich ihre Stirn in Falten. Anscheinend ging das nicht so reibungslos.
»Der ist hier«, sagte sie. Sie reichte das Telefon an Kjell. »Sie braucht die Genehmigung eines Voruntersuchungsleiters.«
»Kjell Cederström. 0313. Nenn mir den Besitzer des Wagens.«
»Der Inhaber des Kennzeichens lautet Berne Ahnlund, Valhallavägen 12, Lidingö.«
»Personenabfrage, bitte. Warum ist die Nummer geschützt?«
»Berne Ahnlund ist zweiter vorsitzender Richter am Kammergericht in Stockholm. Status G.«
Kjell legte auf. »Hoher Richter«, keuchte er. Woher seine Atemlosigkeit kam, wusste er nicht, aber das hier war nichts Gutes. Er wählte die Nummer von Rosenfeldts Mobiltelefon. Der Justizkanzler nahm sofort ab. Ja, er hatte mit dem Kammergericht zu tun, es gab vier schwebende Vorgänge. Nach dem Auflegen sah Ermin ihn erwartend an. Kjell nickte. Ermin tippte ein Kommando auf sein Tab-Pad.
Sie hörten nichts. Es dauerte vier Minuten, bis sich Ermin aus dem Gras erhob.
»Kommt, schnell!«
Sie sprangen auf und liefen geduckt über die ungemähte Wiese hin zu dem beige gestrichenen Holzhaus. Die Fenster waren dunkel, bis auf eines. Das lag in der oberen Etage. Einer der Männer stand in der offenen Haustür.
»Wir sind durch«, sagte er. »Ein Mann und eine Frau.« Kjell drängte sich vor und trat in den schummrigen Raum. Nach dem Eintreten erwies er sich als Stube. Zwei Sofas standen vor den untergliederten Fenstern. Ermins Männer hatten die Schränke aufgerissen. Die einzige Innentür offenbarte eine beleuchtete Küche. Ermin deutete zur Treppe. Sie war ganz aus Holz und führte ins obere Stockwerk. Auf dem Weg dorthin hörte Kjell Sofis Schritte hinter sich. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Auch oben gab es nur einen Raum. Die Dachschrägen ließen ihn jedoch viel kleiner erscheinen. Der Mann und die Frau saßen auf Stühlen, die ein wenig vom Tisch in der Mitte des Raumes weggerückt standen. Ermins Männer wachten daneben. Vor den Fenstern standen niedrige Regale mit Büchern und allerlei Tierfiguren aus rotem Ton, deren Gestalt aus der Entfernung nicht zu erkennen war. Tief unter der Dachschräge stand ein Bett. Besonders romantisch hatten es sich die beiden nicht gemacht.
»Berne Ahnlund?«, fragte Kjell.
Der etwa sechzigjährige Mann sah auf. Es war vor allem das finstere Abendlicht, das ihn alt wirken ließ. Seine Hände fummelten zitternd in seiner Brieftasche.
»Berne Ahnlund?«, fragte Kjell noch einmal.
»Ja«, sagte Ahnlund. Auch seine Stimme zitterte.
»Ich bin Kjell Cederström. Leiter der Reichsmordkommission und vom Reichsankläger sonderbeauftragter Vorermittlungsleiter.«
»Ja«, sagte der Mann.
»Wer bist du?«, fragte Kjell die Frau, die ganz sicher Amelie Heidvall war.
»Amelie Heidvall.«
Amelies Ruhe war vollkommen. Nach den Überlegungen, die sie hierher geführt hatten, hatte Kjell genau das Gegenteil erwartet. Warum war sie so ruhig? Nach seiner Erfahrung traten auch Richter anders auf und versuchten gleich, die Polizei juristisch unter Druck zu setzen.
Josefin ist nicht hier, dachte Kjell, seit er das Haus betreten hatte. Er fühlte sich am völlig falschen Platz. Er setzte sich an den Tisch und verlangte von den beiden die Ausweise. So wollte er etwas Zeit gewinnen. Amelie musste aufstehen und in ihrer Tasche nachsehen, die neben dem Bett stand. Ahnlund gelang es endlich, seine Karte mit den Fingerspitzen aus der Brieftasche zu ziehen. Kjell nahm beide Papiere entgegen und studierte sie. Im Hintergrund waren Sofis Schritte zu hören. Sie schritt langsam durch das Zimmer, nahm Dinge in die Hand und stellte sie wieder zurück.
»Er ist der Eigentümer dieses Hauses«, sagte auf einmal Amelie. »Was soll das?«
Kjell antwortete nicht. Als er aufsah, blickte er direkt in Sofis Augen. Sie stand am Fenster im Rücken der beiden und suchte Blickkontakt. Mit der flachen Hand schlug sie lautlos auf die Faust der anderen Hand. Das war ihm auch schon klar geworden. Nur das erklärte die Reaktionen der beiden, und vor allem die des Richters.
»Auf der Grundlage des elften Paragraphen von Kapitel 6 des Strafgesetzes lasse ich euch als Verdächtigten und als Zeugin zur Befragung dem Reichsankläger vorführen.«
Kjell stand abrupt auf und ging zur Treppe. Unten gab er Ermin Anweisung, die beiden getrennt zu bewachen, bis die Fahrzeuge eintrafen. Ohne auf Sofi zu achten, verließ er das Haus. Nach einigen Metern hatte sie ihn eingeholt.
Er fluchte laut und rieb sich mit den Händen die letzten Grasreste von der Hose. »Ich rieche wie ein Torfstecher.«
»Was ist los?«
»Was ist das für eine Ironie? Ich suche die Tochter des Justizkanzlers und finde einen Richter, der Frauen für Sex in seinem Sommerhaus bezahlt. Das ist los!«
»Ist doch witzig«, lachte Sofi und hüpfte neben ihm über die Wiese. »Jetzt muss Rosenfeldt ihn seines Amtes entheben.«
Die Falsche Tote
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