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Das Haus war früh in den Schatten der Bäume
gesunken. Die Wiese vor dem Waldrand leuchtete noch gelb von der
tief stehenden Sonne. Kjell spürte die Kälte des feuchten Mooses
langsam in seinen Körper kriechen. Sofi schien es nicht zu
bemerken. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf das Haus gerichtet und
den dunkelroten BMW, der davor parkte. Nur noch Ermin lag bei
ihnen, seine drei Männer waren vor fünf Minuten ausgeschwärmt. Der
Wagen stand unter einem Windfang, und einer der Männer musste sich
nahe an das Grundstück heranwagen, um das Nummernschild ablesen zu
können. Fasziniert hatte Sofi verfolgt, wie die Männer ihre Phantom
zusammenmontierten. Dabei deuteten Sofis Ergebnisse beim Training
auf eine Schussangst hin, an der sie noch Jahre zu arbeiten
hatte.
Der Wald hatte die drei Männer verschluckt. Ermin
hatte sein rechtes Auge an das Visier gelegt und rührte sich nicht
mehr. Auf einmal näherte sich ihnen ein undeutbares Geräusch von
hinten. Die Rückendeckung war Kjells Aufgabe. Er drehte den Kopf
und suchte den Wald von links nach rechts ab.
Sofi blickte auf zum Himmel. »Graugänse.«
Es dauerte lange, bis Sofi recht bekam. Eine
dreieckige Formation erschien hinter ihnen über den Wipfeln und
flog über die Lichtung hinweg. Ermin sah besorgt zum Himmel.
»Die landen nicht hier«, flüsterte Sofi.
»Sie ist aus Värmland«, erklärte Kjell.
Ermins Mundwinkel zuckten.
Sofi starrte wieder zum Haus. »Das ist kein gutes
Zeichen.«
»Warum?«
»Die Graugänse bringen die Seelen der Toten ins
Jenseits. Wenn sie auftauchen, ist der Tod in der Nähe.«
Eine erstaunliche Aussage für jemanden, der vor
einer halben Stunde noch mit dem Zirkel in der Hand behauptet
hatte, alles im Leben ließe sich durch ein Differential in den
Griff bekommen.
»Woher hast du das denn? Ist das aus Nils
Holgersson?«
»Das wissen sie bei uns seit der
Wikingerzeit.«
Ermin hob die Hand und bat um Stille. Offenbar
bekam er etwas über seinen Kopfhörer. Er tippte mit der
Fingerspitze auf das Tab-Pad an seinem Handgelenk. Kjell gab den
Versuch rasch auf, etwas zu verstehen. Er entdeckte keine
Ähnlichkeit mit der Morsesprache. Ermin deutete auf zwei Punkte in
der Nähe des Hauses. Einer der Männer saß an der Südseite in einer
Baumkrone. Der andere lag in einem Gebüsch nur zwei Meter vor dem
Eingang.
Sofi wollte von Ermin eine Erklärung haben, warum
sich seine Leute so eigenartige Orte ausgesucht hatten.
»Mähfeuer.« Ermin hob wieder die Hand und notierte
dann etwas auf dem Notizblock, der vor ihm lag.
Während Ermin schweigend horchte, wollte Kjell
lieber nicht daran denken, dass jemand aus dem Haus treten könnte,
um wild herumzuschießen. Aber das wäre auch das Einzige gewesen,
was seine Lage im nassen Moos noch unangenehmer hätte machen
können.
Das Kennzeichen des BMW lautete YEC 214. Sofi
drückte eine Kurzwahltaste und gab es der Zentrale durch. Bald
legte sich ihre Stirn in Falten. Anscheinend ging das nicht so
reibungslos.
»Der ist hier«, sagte sie. Sie reichte das Telefon
an Kjell. »Sie braucht die Genehmigung eines
Voruntersuchungsleiters.«
»Kjell Cederström. 0313. Nenn mir den Besitzer des
Wagens.«
»Der Inhaber des Kennzeichens lautet Berne Ahnlund,
Valhallavägen 12, Lidingö.«
»Personenabfrage, bitte. Warum ist die Nummer
geschützt?«
»Berne Ahnlund ist zweiter vorsitzender Richter am
Kammergericht in Stockholm. Status G.«
Kjell legte auf. »Hoher Richter«, keuchte er. Woher
seine Atemlosigkeit kam, wusste er nicht, aber das hier war nichts
Gutes. Er wählte die Nummer von Rosenfeldts Mobiltelefon. Der
Justizkanzler nahm sofort ab. Ja, er hatte mit dem Kammergericht zu
tun, es gab vier schwebende Vorgänge. Nach dem Auflegen sah Ermin
ihn erwartend an. Kjell nickte. Ermin tippte ein Kommando auf sein
Tab-Pad.
Sie hörten nichts. Es dauerte vier Minuten, bis
sich Ermin aus dem Gras erhob.
»Kommt, schnell!«
Sie sprangen auf und liefen geduckt über die
ungemähte Wiese hin zu dem beige gestrichenen Holzhaus. Die Fenster
waren dunkel, bis auf eines. Das lag in der oberen Etage. Einer der
Männer stand in der offenen Haustür.
»Wir sind durch«, sagte er. »Ein Mann und eine
Frau.« Kjell drängte sich vor und trat in den schummrigen Raum.
Nach dem Eintreten erwies er sich als Stube. Zwei Sofas standen vor
den untergliederten Fenstern. Ermins Männer hatten die Schränke
aufgerissen. Die einzige Innentür offenbarte eine beleuchtete
Küche. Ermin deutete zur Treppe. Sie war ganz aus Holz und führte
ins obere Stockwerk. Auf dem Weg dorthin hörte Kjell Sofis Schritte
hinter sich. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Auch oben gab
es nur einen Raum. Die Dachschrägen ließen ihn jedoch viel kleiner
erscheinen. Der Mann und die Frau saßen auf Stühlen, die ein wenig
vom Tisch in der Mitte des Raumes weggerückt standen. Ermins Männer
wachten daneben. Vor den Fenstern standen niedrige Regale mit
Büchern und allerlei Tierfiguren aus rotem Ton, deren Gestalt aus
der Entfernung nicht zu erkennen war. Tief unter der Dachschräge
stand ein Bett. Besonders romantisch hatten es sich die beiden
nicht gemacht.
»Berne Ahnlund?«, fragte Kjell.
Der etwa sechzigjährige Mann sah auf. Es war vor
allem das finstere Abendlicht, das ihn alt wirken ließ. Seine Hände
fummelten zitternd in seiner Brieftasche.
»Berne Ahnlund?«, fragte Kjell noch einmal.
»Ja«, sagte Ahnlund. Auch seine Stimme
zitterte.
»Ich bin Kjell Cederström. Leiter der
Reichsmordkommission und vom Reichsankläger sonderbeauftragter
Vorermittlungsleiter.«
»Ja«, sagte der Mann.
»Wer bist du?«, fragte Kjell die Frau, die ganz
sicher Amelie Heidvall war.
»Amelie Heidvall.«
Amelies Ruhe war vollkommen. Nach den Überlegungen,
die sie hierher geführt hatten, hatte Kjell genau das Gegenteil
erwartet. Warum war sie so ruhig? Nach seiner Erfahrung traten auch
Richter anders auf und versuchten gleich, die Polizei juristisch
unter Druck zu setzen.
Josefin ist nicht hier, dachte Kjell, seit er das
Haus betreten hatte. Er fühlte sich am völlig falschen Platz. Er
setzte sich an den Tisch und verlangte von den beiden die Ausweise.
So wollte er etwas Zeit gewinnen. Amelie musste aufstehen und in
ihrer Tasche nachsehen, die neben dem Bett stand. Ahnlund gelang es
endlich, seine Karte mit den Fingerspitzen aus der Brieftasche zu
ziehen. Kjell nahm beide Papiere entgegen und studierte sie. Im
Hintergrund waren Sofis Schritte zu hören. Sie schritt langsam
durch das Zimmer, nahm Dinge in die Hand und stellte sie wieder
zurück.
»Er ist der Eigentümer dieses Hauses«, sagte auf
einmal Amelie. »Was soll das?«
Kjell antwortete nicht. Als er aufsah, blickte er
direkt in Sofis Augen. Sie stand am Fenster im Rücken der beiden
und suchte Blickkontakt. Mit der flachen Hand schlug sie lautlos
auf die Faust der anderen Hand. Das war ihm auch schon klar
geworden. Nur das erklärte die Reaktionen der beiden, und vor allem
die des Richters.
»Auf der Grundlage des elften Paragraphen von
Kapitel 6 des Strafgesetzes lasse ich euch als Verdächtigten und
als Zeugin zur Befragung dem Reichsankläger vorführen.«
Kjell stand abrupt auf und ging zur Treppe. Unten
gab er Ermin Anweisung, die beiden getrennt zu bewachen, bis die
Fahrzeuge eintrafen. Ohne auf Sofi zu achten, verließ er das Haus.
Nach einigen Metern hatte sie ihn eingeholt.
Er fluchte laut und rieb sich mit den Händen die
letzten Grasreste von der Hose. »Ich rieche wie ein
Torfstecher.«
»Was ist los?«
»Was ist das für eine Ironie? Ich suche die Tochter
des Justizkanzlers und finde einen Richter, der Frauen für Sex in
seinem Sommerhaus bezahlt. Das ist los!«
»Ist doch witzig«, lachte Sofi und hüpfte neben ihm
über die Wiese. »Jetzt muss Rosenfeldt ihn seines Amtes
entheben.«