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Die Frau an der Spitze der
Gunnar-Ermittlungsgruppe hieß Ulrika. Ulrika und Gunnar, dachte
Barbro, als sie die beiden Kaffeetassen auf dem Tisch im
Besprechungsraum abstellte. Ulrika sah kurz auf und lächelte. Sie
hatte eine Viertelstunde lang in der Akte gelesen und vor- und
zurückgeblättert.
»Die Liste mit den Polizistennamen«, sagte sie und
trank von dem dampfenden Kaffee. »Sie arbeiten in ganz Schweden,
aber gegen keinen gibt es irgendwelche Hinweise. Da müssten wir
jeden einzeln prüfen.«
Ulrika vertiefte sich wieder in die Papiere.
»Josefin weiß, wer Gunnar ist«, las sie.
»Und davor: Jetzt weiß Gunnar, dass er Josefin nicht getötet
hat.« Sie kniff die Augen zusammen und öffnete sie
wieder.
Ulrika arbeitete seit dreieinhalb Jahren an Gunnar.
Barbro hatte sich bisher zurückgehalten. Sie wollte keinen Einfluss
auf Ulrikas Gedanken ausüben.
»Ist es möglich?«, fragte sie jetzt.
»Ja, möglich ist es.« Ulrika zog wieder die
Jugendakte von Stavros Jernberg zu sich. Sie hatte sie bereits
zweimal studiert. »Ja«, sagte sie wieder. »Allerdings weiß ich
nicht genau, welche Beweise der Junge und das Mädchen da haben
wollen.«
»Der Junge hat behauptet, es sei Zufall.«
Ulrika nickte heftig. »Das verspricht Gutes. Nur
durch einen Zufall kann es den beiden möglich gewesen sein, ihn zu
identifizieren.«
»Was mich an Jernberg stört, ist seine
Makellosigkeit. Er ist jetzt 38 und hat seit einem
Vierteljahrhundert - soweit bekannt - kein Verbrechen verübt. Er
hat es ja auch gar nicht nötig. Die Agentur macht eine halbe
Milliarde Kronen Umsatz im Jahr.«
»Vor Steuer«, gab Ulrika zu bedenken. »Das ist nur
ein Bruchteil dessen, was sich in der Gunnarstruktur als Reingewinn
ergibt. Ich habe noch nie erlebt, dass der Kopf einer großen
Organisation nicht schon reich in seine Zweitkarriere gestartet
wäre.«
Sie schwiegen.
»Was mich vor allem irritiert, ist die Struktur der
Agentur!«, überlegte Ulrika dann. »Die versichern fast das ganze
Cargo-Geschäft im Ostseeverkehr. Gehen wir mal davon aus, dass
Jernberg Gunnar ist. Dann muss er seine Agentur fantastisch gut von
seinem illegalen Geschäft abgeschottet haben.«
»Aber geografisch-wirtschaftlich sind diese beiden
Bereiche doch ziemlich deckungsgleich, finde ich.«
»Genau das ist der Punkt.«
Ein dumpfes Klopfen ließ Barbro den Kopf zur Tür
drehen. Sie stand auf und lief in den Gang hinaus. Hinter der
Glastür stand eine Frau in mittleren Jahren, die Barbro stark an
ihre alte Grundschullehrerin erinnerte. Sie hatte rubinrot
gefärbtes Haar, das vorne in Fransen ins Gesicht fiel, als blickte
sie aus dem Schlund einer fleischfressenden Pflanze. Sie wedelte
eine Papierrolle in der Hand. Barbro öffnete die Tür.
»Hej. Martina Lundström von der Konterspionage. Ich
bringe den Plan zurück.«
Das war die Säpo-Frau. Barbro bat sie in das
Besprechungszimmer und machte die beiden Frauen miteinander
bekannt. Während Barbro auch ihr eine Tasse Kaffee servierte,
rollte Martina den Plan aus Davids Wohnung auf der Tischplatte aus.
Dabei pendelte ein münzenförmiges Medaillon von ihrem Hals.
»Wir haben uns wirklich den Kopf zerbrochen, was
das sein könnte! Immerhin, es ist kein militärisches oder ziviles
Bauwerk in Schweden. Leider ist das Ufer nur schematisch
angedeutet. Wir wissen zwar, dass es ein Ufer ist, aber das
Luftbild-Matching hat kein Ergebnis gebracht.« Martina fuhr mit der
Spitze ihres Zeigefingers auf der Kontur des eingezeichneten
Rundbaus entlang. »Wir dachten wegen des Durchmessers erst an einen
Leuchtturm, aus mehreren Gründen kann es aber keiner sein. Unsere
Techniker glauben, dass es sich nicht um Außenwände handelt. Dieser
Balken hier dreht sich, und der Kreis beschreibt den Drehradius, so
wie auf Wohnungsplänen bei Türen immer ein Viertelkreis
eingezeichnet ist, damit man weiß, wie viel Platz die Tür zum
Öffnen braucht. Ich will es kurzmachen. Wir glauben, der Balken ist
ein neun Meter breiter, rotierender Parabolreflektor, und weil er
zur Landseite hin durch eine Wand abgeschirmt ist, glauben wir,
dass es sich um ein Radar handelt.«
»Aber das müsstet ihr doch wissen«, fand Barbro.
»So ein Riesending.«
Neun Meter! So weit war es von der Tür bis zum
Aufzug.
Martina streckte den Arm aus und tippte didaktisch
auf eine andere Stelle. »Dieses Akronym steht für denjenigen, der
diese Zeichnung technisch geprüft hat: Checked by E. Ü.
Wegen des Ü glauben wir, dass die Person aus Deutschland
ist.«
»Also steht das Ding in Deutschland?«, mischte sich
Ulrika ein.
»Nein. Aus Deutschland kommt die Steuerungstechnik
für ein ziviles Projekt der Europäischen Union, an dem sich alle
Ostseeländer beteiligen. Es geht um die Weiterentwicklung eines
Überhorizontradarsystems. Das wird bisher nur ganz selten
eingesetzt. Es ist nicht so genau und setzt Riesenantennen voraus,
aber damit kann man die Erdkrümmung über weitere Strecken
überbrücken. Die EU plant, dieses neue System als Alternative zum
Galileo-Ortungssystem für den Schiffverkehr in der Ostsee zu
entwickeln und dann an die Pazifikländer zu verkaufen. Diese
Weitentwicklung arbeitet viel genauer als klassisches
Überhorizontradar und kommt mit Antennen aus, die genauso groß sind
wie dieser Balken hier.«