22
Als die Sonne am Mittag ganz hoch stand, entzog
die Dunkelheit in Josefins Wohnung den Dingen ihre Farbe. Sofi
beugte sich über das Geländer und blickte hinab auf die Straße.
Wüsste sie es nicht bereits, hätte sie nicht sicher sagen können,
ob man auf dem Bürgersteig auftreffen würde oder auf den Dächern
der parkenden Autos. Wie auch immer, das Geländer reichte ihr eine
Hand breit über den Bauchnabel. Man konnte sich hochstemmen und
nach vorne kippen lassen. Die Tatorttechniker behaupteten jedoch,
dass es so nicht gewesen sein konnte. Die Fingerabdrücke stimmten
mit diesem Szenario nicht überein und auch nicht die Flugbahn. Sofi
trat einen Schritt zurück und faltete die Skizze auf. Sie maß einen
halben Meter in der Breite und gab Auskunft über alle Spuren, die
bisher ausgewertet worden waren. Rücklings musste die Tote über das
Geländer gestürzt sein, ihr Körper hatte sich im Fall um
zweihundertsiebzig Grad gedreht und war mit dem Bauch voran
aufgeschlagen. Das war nach Einschätzung von Per zu viel Drehung
für einen Selbstmord. Wer in den Tod fallen will, hatte er erklärt,
macht das nicht mit so viel Schwung. Wer noch so viel Impuls besaß,
könnte ja auch getrost weiterleben. Wenn ein Selbstmörder mit dem
Rücken voran aus dem Fenster kippt, kommt er mit dem Rücken auf,
ohne dass sich sein Körper gedreht hat.
Sofi wandte sich abrupt um. Kjell hatte am Tisch
des mittleren Zimmers Platz genommen, um den Bericht noch einmal
genau durchzugehen.
»Können wir etwas ausprobieren?«
Kjell sah auf und wartete darauf, dass Sofi
präziser wurde.
»Du stellst dich vor die Tür und klingelst. Wenn
ich öffne, schlingst du deine Arme um meine Hüften, hebst mich und
rennst mit mir zum Fenster.«
Kjell nahm seine Lesebrille ab und legte sie auf
die Tischplatte.
»Ich habe in etwa dasselbe Gewicht wie die
Tote.«
Kjell erhob sich wortlos und ging zur Tür. Sofi
hatte eine längere Diskussion erwartet, bevor er einwilligte.
»Schließ das Fenster«, sagte er und zog die Tür
hinter sich zu.
Es klappte besser, als Sofi es sich ausgemalt
hatte. Kjell packte sie jedoch nicht an den Hüften. Mit männlichem
Ehrgeiz griff er sie unterhalb ihres Hinterns um die Schenkel,
stemmte sie hoch, und lief mit Vorlage durch den Raum, jedoch nicht
zum Fenster. Er setzte sie auf der Küchenanrichte ab, die neben dem
Fenster lag und nur ein wenig niedriger war als das Geländer. Sofi
knallte mit dem Hinterkopf gegen den Hängeschrank.
»Du hättest dich wehren können«, keuchte Kjell und
brachte seine Haare in Ordnung. »Deine Arme waren frei.«
»Ich hab gar nicht gekonnt«, staunte sie. »Obwohl
ich es wusste, war gar keine Zeit dazu.«
Sofi sprang von der Anrichte und nahm die Skizze
vom Tisch. »Du hast bestimmt Spuren hinterlassen«, sagte sie und
deutete auf den Holzboden. »Auf der Skizze sind aber keine
verzeichnet.«
Kjell warf einen Blick in die Skizze. »Allerdings
gibt es so gut wie keine Spuren vor dem Fenster.«
»Vielleicht war er kräftiger als du.«
Kjell schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf.
»Ich bin absichtlich nach vorne gebeugt gerannt. Nur wenn sie so am
Fenster ankamen, lässt sich die Drehung erklären. Wäre er kräftiger
gewesen, hätte er sie vielleicht ruhig getragen und über das
Geländer heben können. Dann wäre sie anders gefallen. Ich habe dich
mit Mühe auf die Anrichte setzen können.«
»Wir suchen also nach einem Mann, der so schwach
ist wie du.«
Als am Nachmittag die Sonne zu sinken begann,
kehrten alle Dinge im Zimmer zu ihrer alten Farbe zurück. Sofi
hatte sich mit ihrer Tüte Samstagssüßigkeiten in Josefins Zimmer
zurückgezogen und blätterte dort alle Unterlagen und Bücher durch.
Kjell saß immer noch nebenan und studierte die Akte. An der Wand
gegenüber dem Schreibtisch standen zwei Regale mit Büchern. Sofi
nahm jedes Buch aus dem Regal und blätterte darin. Sie hatte
bereits das erste Regal hinter sich und in den Büchern zwei
Postkarten, ein Urlaubsfoto aus vergangenen Tagen und einen Brief
in einem aufgeschlitzten Kuvert gefunden. Er stammte von der
Wohnungsgesellschaft und enthielt nur die vier Monate alte
Mitteilung, dass im Herbst die Abgabe für Strom, Wasser und Wärme
um zweihundert Kronen erhöht werden müsse. Sie legte den Brief
wieder ins Buch und stellte es ins Regal zurück. Sie hatte sich
mehr versprochen von diesem Zimmer, nachdem sie den Zettel unter
dem Kopfkissen gefunden hatten. Mit den Kartons auf dem
Schreibtisch hatte sie begonnen. Darin sammelte Josefin Notizen,
Rechnungen und alles, was man nirgendwo einordnen kann. Sofi nahm
das zweite Regal in Angriff und fand wieder einen Brief. Die
benutzte Josefin anscheinend gern als Lesezeichen. Doch dieser hier
war anders. Er stammte nicht von einer Behörde, das Kuvert war
jedenfalls unbeschriftet. Sofi strich über die gelbliche
Oberfläche. Teures, schweres Papier. Sie drehte das Buch hin und
her und betrachtete den Einband. Da hatte sie gar nicht so genau
aufgepasst. Bo Setterlind, der Dichter. Ich liege im Dunklen bei
dir, lautete der Titel. Es war eine Sammlung seiner wichtigsten
Gedichte. Sie musste Barbro fragen, ob es Zufall war, dass sie Bos
Nachnamen trug. Sie blätterte das Taschenbuch durch und prüfte, ob
es Anstreichungen darin gab oder einen Namen. Ein Papierstreifen
fiel heraus und segelte zu Boden. Sofi bückte sich danach und hob
ihn auf. Volltreffer, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Brief
glich dem, den sie unter dem Kopfkissen gefunden hatten. Er steckte
jedoch nicht in einem roten Miniaturkuvert.
Sofi lief hinüber zu Kjell.
»Es war in dem Buch hier. Ein zweiter Brief von
Aisakos und dieses geschlossene Kuvert.«
Kjell trug keine Handschuhe. Ohne den Zettel zu
berühren, begann er zu lesen. »Nicht allem spüre nach. Gut ist’s,
dass viel verborgen bleibt. Aisakos.« Kjell sah auf. »Auf welcher
Seite des Buches hat der denn gesteckt?«
»Weiß ich nicht. Ich hab zu schnell
durchgeblättert. Dabei ist es rausgefallen.«
»Das hier ist jedenfalls ein ganz eindeutiges Zitat
von Sophokles.«
»Ist es berühmt?«
»Wer klassische Literatur studiert hat, kennt es
wohl. Ich müsste nachschlagen, um zu sagen, aus welcher Tragödie es
stammt. Welcher der beiden Zettel wohl der ältere ist?«
Sofi konnte nur mit den Schultern zucken.
»Vielleicht gibt uns das hier die Antwort.« Sie legte das
verschlossene Kuvert auf den Tisch. Kjell nahm es vorsichtig an den
Kanten. Es war sorgfältig zugeklebt. Sofi glitt auf den freien
Stuhl und betrachtete ihren Chef.
»Soll ich es zu Per bringen?«
Kjell bewegte den Kopf. Er wollte die Frage
abschütteln. »Hast du dein Teppichmesser dabei?«
Sofi griff nach ihrer Tasche und wühlte darin. Sie
hatte immer ein Teppichmesser dabei, falls ihr Kajalstift gespitzt
oder etwas abisoliert werden musste. Es klackte, als Kjell die
Klinge ausfuhr. Er legte das Kuvert an den Rand der Tischplatte und
schnitt es an der Seite auf.
»Worüber hast du eigentlich deine Abschlussarbeit
geschrieben?«, fragte Sofi, um die Wartezeit durchzustehen.
»Über den Optativ.«
»Optativ ist, wenn man sich etwas wünschen darf,
oder?«
Kjell lächelte, während er mit dem Teppichmesser
die letzten Zentimeter hinter sich brachte. »Oder wenn man etwas
bekommt, womit man gar nicht gerechnet hat.«
Per Arrelöv würde sie bestimmt töten, wenn er
hiervon erfuhr. Kjell zog einen gefalteten Papierbogen aus dem
Schlitz. Es war von der gleichen Sorte wie das Kuvert. Kjell
faltete es auf, ohne die Fläche des Papiers selbst zu berühren.
»Wird schwierig mit den Fingerabdrücken«, murmelte er vor sich hin.
Das Papier war weich und rau.
Er konnte es unmöglich ganz gelesen haben, als er
ihr das Papier nach wenigen Augenblicken hindrehte. Er grinste
ernst.
ΤΟΥΤΟΛΕΓΕΙΕΣΠΕΡΙΑ
ΗΔΥΘΕΡΟΥΣΔΙΨΟΝΤΙΧΙΩΝΠΟΤΟΝ
ΗΔΙΟΝΔΟΠΟΤΑΝΚΡΥΨΗ
ΜΙΑΤΟΥΣΦΙΛΕΟΝΤΑΣΧΛΑΙΝΑ
ΗΔΥΘΕΡΟΥΣΔΙΨΟΝΤΙΧΙΩΝΠΟΤΟΝ
ΗΔΙΟΝΔΟΠΟΤΑΝΚΡΥΨΗ
ΜΙΑΤΟΥΣΦΙΛΕΟΝΤΑΣΧΛΑΙΝΑ
»Das ist Griechisch, oder?«
»Ganz recht.«
»Ganz schön lang, die Wörter. Wieder ein Brief von
Aisakos?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Das ist ein Brief
an Aisakos.«
Kjell bückte sich, bis er mit den Augen auf Höhe
des Papiers war. »Das war Tinte!«
»Tatsächlich? Wer kann denn so gleichmäßig
schreiben?«
Kjell wusste es auch nicht. Die Buchstaben wiesen
überhaupt nichts Menschliches auf und glichen in ihrer Gestalt der
Schrift auf Autobahnschildern. Beim ersten Anblick hatten sie es
beide für einen Ausdruck gehalten.
Sofi beugte sich über die Zeilen. »Kannst du etwas
lesen?«
»Die erste Zeile, ja, auf Anhieb. ›So spricht
Hesperia.‹«
»Das steht da?«
»Ja.«
Sofi drehte den Zettel wieder, damit Kjell den Rest
übersetzen konnte. Er begann, die beiden folgenden Zeilen auf
seinem Notizblock abzuschreiben. Danach zog er senkrechte Striche
zwischen die Zeichen, um die Wörter abzutrennen.
»Es wäre leicht zu lesen, wenn es normal
geschrieben wäre, mit Zwischenräumen und Kleinbuchstaben. So ist es
etwas ungewohnt.« Er begann zu schreiben.
Sofi nahm sich das Original vor. »Ob Josefin das
geschrieben hat? Oder stammt das von der Toten?«
Das war in der Tat kaum zu beurteilen, und es würde
auch für die Techniker nicht leicht werden. Sie hatten zwar
gesicherte Handschriftproben von Josefin, aber das hier war so
anders.
»Du kannst inzwischen nachsehen, ob du mehr von
diesem Briefpapier findest«, sagte Kjell, ohne aufzuschauen.
In Josefins Zimmer und auch in dem von Sesselja
entdeckte Sofi nichts, was diesem Papier glich. Sie kehrte zum
Tisch zurück und zog sich ihren Computer heran. Auf den
Internetseiten von Ordnung&Klarheit und bei Svanströms
prüfte sie, ob sie das Papier führten. Sie versuchte es auch bei
allen Papierherstellern, die ihr auf Anhieb einfielen. Es erwies
sich als zu vage, die Bilder im Internet mit dem Blatt vor ihr zu
vergleichen. Sie würde warten müssen, bis Per sich das Papier
angesehen hatte.
»Süß ist dem Dürstenden im Sommer der Trank von
Schnee. Süßer noch, wenn eine Decke die Liebenden verbirgt.«
Sofi starrte Kjell in die Augen.
»Es ist nicht von ihr«, erklärte er. »Ich habe das
schon einmal gelesen. Irgendwo habe ich das schon einmal
gelesen.«
Sie saßen beide eine Weile schweigend da.
»Es gibt sie also wirklich«, sagte Kjell.
»Hesperia.«
»Das war doch klar. Aber wer ist es nun?«
»Das ist gar nicht so wichtig. Jetzt wissen wir,
womit wir es zu tun haben.«
»Nämlich nicht mit dem Justizkanzler?«
»Nämlich nicht.«
»Die Tote könnte Griechin sein.«
»Es ist astreines Altgriechisch.« Kjell blätterte
in seinen Notizen. »Josefins Seminararbeit hatte mit dem antiken
Athen zu tun. Nun frage ich mich: Konnte sie Griechisch?«
»Muss man Griechisch können, um das zu schreiben?
Anscheinend ist es ein Zitat.«
»Du musst dich mit der Dozentin treffen«, sagte er,
während er sein Telefon aus der Hemdtasche zog und auf die Eins
drückte. Sofi lauschte und fragte sich, warum ausgerechnet sie sich
mit der Dozentin treffe sollte, wo er doch der Experte war. Kjell
erkundigte sich nach Lindas Wohlergehen und gab ihr dann
Instruktionen, im Flur zum Regal zu gehen und ein dickes braunes
Buch zu suchen. In diesem Moment klingelte Sofis Telefon. Es war
Barbro.
»Es gibt eine Entwicklung«, sagte Barbro ohne
Begrüßung. »Ihr solltet sofort herkommen.«