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Die dreiunddreißigjährige Inspektorin Barbro
Setterlind stöckelte durch den Hinterhof der Repslagargatan 13 in
Södermalm. Sie musste mit ihren Schuhabsätzen auf dem Kiesboden
achtgeben. Mit dem Notizheft fächelte sie sich Luft ins Gesicht.
Bald ging es auf Mittag und dreißig Grad zu.
Die Zeit hatte mit all ihrer Liebe hübsche Risse
und Strukturen in die terrakottafarbene Fassade des Hauses gemalt.
Das würde sie in Barbros Gesicht auch bald tun, fürchtete sie. An
vielen Stellen war der Putz abgebrochen, und das Mauerwerk aus
flachen braunen Ziegeln wurde sichtbar. Ein Mädchen, das eine
Vorstellung davon gab, wie Pipi Langstrumpf im Alter von fünf
Jahren ausgesehen haben musste, hüpfte Seil, während ihr
gleichaltriger Bruder sie auf seinem Fahrrad umkreiste.
Kühle Kellerluft zog durch das Treppenhaus. Barbro
folgte mit Gänsehaut auf den Unterarmen der knarrenden Treppe. Sie
hielt sich links am Geländer, denn in der Mitte hatten sich vom
Hoch- und Runterlaufen Kuhlen in den Treppenstufen gebildet. Die
Türen kamen ohne Klingeln oder Namensschilder aus. Oskar
Rosenfeldts Wohnung lag im zweiten Stock. Die Tür war geschlossen,
doch so verzogen, dass von innen schwaches Licht durch den Spalt
drang. Auf das Holz war ein altes Riegelschloss geschraubt. Barbro
drückte die Klinke.
»Sieh an, die liebreiche Barbro Setterlind.«
Per Arrelöv stand mitten im Raum und streifte sich
schwarze Gummihandschuhe von den Händen.
»Hat Sten dich gerufen?«
Per schüttelte den Kopf. »Lasse hat sich mit ein
paar Fragen an mich gewandt.«
»Und da bist du gleich zurückgekehrt?«
Vor acht Tagen war Per zu einer Bootsreise auf dem
Götakanal aufgebrochen. Gerüchte, dass auch eine Frau mit an Bord
des gemieteten Hausbootes war, hatten anfangs unglaublich
geklungen, sich dann aber bestätigt. Nach Lasses Anruf musste Per
vom fahrenden Schiff gesprungen und mit heraushängender Zunge auf
der E18 nach Stockholm zurückgerast sein.
Barbro erwartete, dass Per wie üblich seine wüste
Masche durchzog. Doch er wirkte verändert. Weil er vor dem Fenster
stand, schimmerte das Licht von hinten durch sein verschwitztes und
schütteres Haar.
»Hier bin ich fertig«, sagte er und holte mit den
Handschuhen in seiner Hand zu einer Feldherrngeste aus. »Die
sichtbare Unordnung stammt wohl von Oskar selbst.«
Der Fußboden bestand aus langen Bohlen, der
blaugraue Lack konnte noch nicht allzu alt sein. Darauf zu gehen,
gab dem Leben etwas Federndes. Im Vorderzimmer stand ein Bett, in
dem drei Menschen nebeneinander schlafen konnten. Sonst gab es nur
einen Jugendstilkleiderschrank aus Kirschholz und daneben einen
weißen Stuhl im gustavianischen Stil. Barbro zog es in das
Hinterzimmer. Zusammen ergaben die beiden Räume eine Grundfläche
von fünfzig Quadratmetern. In der einen Ecke standen ein Herd und
ein Kühlschrank. Sie stachen unter den Möbeln dadurch hervor, dass
sie ganz neu waren. Die Wand mit drei Fenstern nahm ein Flügel ein,
der den in Barbros Elternhaus an Größe noch übertraf. Barbro drehte
sich einmal um ihre Achse und sah Per an, der ihr schlurfend
gefolgt war.
»Wie hat er den bloß in die Wohnung
bekommen?«
Per zuckte mit den Achseln. »Sie werden ihn hier
gebaut haben. Oder er stand hier, und dann haben sie das Haus
drumherum gebaut.«
Barbro ließ sich auf dem schwarzen Stuhl daran
nieder. Auf dem Notenständer lag das C-Moll-Präludium aus dem
zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers aufgeschlagen. Bei
diesem Stück war ihr vor vielen Jahren zum ersten Mal aufgefallen,
dass sie für eine entscheidende menschliche Empfindung unfähig war.
Jetzt hatte sie nicht den Mut zu testen, ob sie dabei Fortschritte
erzielt hatte, und spielte stattdessen die ersten zehn Takte einer
G-Dur-Fughetta, eines jener kleinen Stücke, die Bach für Anlässe
wie diesen hier komponiert hatte. Dann entglitt ihr die Kontrolle
über das Tempo. Die Tasten reagierten so eigenartig, so unmittelbar
auf den geringsten Druck. Sie versuchte eine Tonleiter und ein
Glissando. Auf der kleinen Fläche neben der Klaviatur lag ein
Stapel Holzplättchen, wie man sie unter die Tasten legte, um ihr
Verhalten zu beeinflussen. Der Yamaha-Flügel war mindestens so alt
wie Oskar und hervorragend gestimmt, soweit Barbro das beurteilen
konnte. Die Kindheit in der Familie Setterlind hatte sie ihres
Gehörs für Missklänge fast völlig beraubt.
»Unser Oskar ist ein Freund des präzisen
Nonlegatospiels. Und ein Handwerker ist er obendrein. Die Tasten
reagieren fantastisch.«
Per ließ sich auf einem Stuhl nieder und zog sein
Klemmbrett hervor. Barbro setzte sich zu ihm.
»Der Nachbar kam erst gegen zehn Uhr nach Hause«,
begann er. »Da war Lasses Team schon eine Stunde bei der Arbeit. Er
und Oskar haben aber beide einen Reserveschlüssel ihrer Wohnungen
auf dem Spülkasten im Klo versteckt, soweit man dabei von
Verstecken sprechen kann. Das Klo liegt die Treppe runter. Der
Schlüssel fehlt. Wie lange schon, weiß der Nachbar nicht. Aber du
hast das Türschloss ja selbst gesehen. Wenn man die Tür hochhebt,
kann man den Riegel auch ohne Schlüssel über den Bolzen
schieben.«
»Du weißt es also nicht.«
Per grinste. »Lasse ist mit dem RC-Strahler rein.
Am Kleiderschrank und bei der Kommode hüpften die Fasern noch wie
Glühwürmchen in der Luft.«
»Wie lange dauert es, bis sich der Staub wieder
legt?« »Muss ganz frisch gewesen sein. Nicht länger als drei
Stunden. Der Kleiderschrank, diese Kommode da und vielleicht auch
der Flügelkasten. Eine hübsche systematische Suche kannst du es
nennen.«
»Das ist ganz schön viel. Danke, dass du gekommen
bist.«
»Es gibt noch mehr: In dieser Wohnung wird seit
Tagen nicht mehr gewohnt.«