11
Die dreiunddreißigjährige Inspektorin Barbro Setterlind stöckelte durch den Hinterhof der Repslagargatan 13 in Södermalm. Sie musste mit ihren Schuhabsätzen auf dem Kiesboden achtgeben. Mit dem Notizheft fächelte sie sich Luft ins Gesicht. Bald ging es auf Mittag und dreißig Grad zu.
Die Zeit hatte mit all ihrer Liebe hübsche Risse und Strukturen in die terrakottafarbene Fassade des Hauses gemalt. Das würde sie in Barbros Gesicht auch bald tun, fürchtete sie. An vielen Stellen war der Putz abgebrochen, und das Mauerwerk aus flachen braunen Ziegeln wurde sichtbar. Ein Mädchen, das eine Vorstellung davon gab, wie Pipi Langstrumpf im Alter von fünf Jahren ausgesehen haben musste, hüpfte Seil, während ihr gleichaltriger Bruder sie auf seinem Fahrrad umkreiste.
Kühle Kellerluft zog durch das Treppenhaus. Barbro folgte mit Gänsehaut auf den Unterarmen der knarrenden Treppe. Sie hielt sich links am Geländer, denn in der Mitte hatten sich vom Hoch- und Runterlaufen Kuhlen in den Treppenstufen gebildet. Die Türen kamen ohne Klingeln oder Namensschilder aus. Oskar Rosenfeldts Wohnung lag im zweiten Stock. Die Tür war geschlossen, doch so verzogen, dass von innen schwaches Licht durch den Spalt drang. Auf das Holz war ein altes Riegelschloss geschraubt. Barbro drückte die Klinke.
»Sieh an, die liebreiche Barbro Setterlind.«
Per Arrelöv stand mitten im Raum und streifte sich schwarze Gummihandschuhe von den Händen.
»Hat Sten dich gerufen?«
Per schüttelte den Kopf. »Lasse hat sich mit ein paar Fragen an mich gewandt.«
»Und da bist du gleich zurückgekehrt?«
Vor acht Tagen war Per zu einer Bootsreise auf dem Götakanal aufgebrochen. Gerüchte, dass auch eine Frau mit an Bord des gemieteten Hausbootes war, hatten anfangs unglaublich geklungen, sich dann aber bestätigt. Nach Lasses Anruf musste Per vom fahrenden Schiff gesprungen und mit heraushängender Zunge auf der E18 nach Stockholm zurückgerast sein.
Barbro erwartete, dass Per wie üblich seine wüste Masche durchzog. Doch er wirkte verändert. Weil er vor dem Fenster stand, schimmerte das Licht von hinten durch sein verschwitztes und schütteres Haar.
»Hier bin ich fertig«, sagte er und holte mit den Handschuhen in seiner Hand zu einer Feldherrngeste aus. »Die sichtbare Unordnung stammt wohl von Oskar selbst.«
Der Fußboden bestand aus langen Bohlen, der blaugraue Lack konnte noch nicht allzu alt sein. Darauf zu gehen, gab dem Leben etwas Federndes. Im Vorderzimmer stand ein Bett, in dem drei Menschen nebeneinander schlafen konnten. Sonst gab es nur einen Jugendstilkleiderschrank aus Kirschholz und daneben einen weißen Stuhl im gustavianischen Stil. Barbro zog es in das Hinterzimmer. Zusammen ergaben die beiden Räume eine Grundfläche von fünfzig Quadratmetern. In der einen Ecke standen ein Herd und ein Kühlschrank. Sie stachen unter den Möbeln dadurch hervor, dass sie ganz neu waren. Die Wand mit drei Fenstern nahm ein Flügel ein, der den in Barbros Elternhaus an Größe noch übertraf. Barbro drehte sich einmal um ihre Achse und sah Per an, der ihr schlurfend gefolgt war.
»Wie hat er den bloß in die Wohnung bekommen?«
Per zuckte mit den Achseln. »Sie werden ihn hier gebaut haben. Oder er stand hier, und dann haben sie das Haus drumherum gebaut.«
Barbro ließ sich auf dem schwarzen Stuhl daran nieder. Auf dem Notenständer lag das C-Moll-Präludium aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers aufgeschlagen. Bei diesem Stück war ihr vor vielen Jahren zum ersten Mal aufgefallen, dass sie für eine entscheidende menschliche Empfindung unfähig war. Jetzt hatte sie nicht den Mut zu testen, ob sie dabei Fortschritte erzielt hatte, und spielte stattdessen die ersten zehn Takte einer G-Dur-Fughetta, eines jener kleinen Stücke, die Bach für Anlässe wie diesen hier komponiert hatte. Dann entglitt ihr die Kontrolle über das Tempo. Die Tasten reagierten so eigenartig, so unmittelbar auf den geringsten Druck. Sie versuchte eine Tonleiter und ein Glissando. Auf der kleinen Fläche neben der Klaviatur lag ein Stapel Holzplättchen, wie man sie unter die Tasten legte, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Der Yamaha-Flügel war mindestens so alt wie Oskar und hervorragend gestimmt, soweit Barbro das beurteilen konnte. Die Kindheit in der Familie Setterlind hatte sie ihres Gehörs für Missklänge fast völlig beraubt.
»Unser Oskar ist ein Freund des präzisen Nonlegatospiels. Und ein Handwerker ist er obendrein. Die Tasten reagieren fantastisch.«
Per ließ sich auf einem Stuhl nieder und zog sein Klemmbrett hervor. Barbro setzte sich zu ihm.
»Der Nachbar kam erst gegen zehn Uhr nach Hause«, begann er. »Da war Lasses Team schon eine Stunde bei der Arbeit. Er und Oskar haben aber beide einen Reserveschlüssel ihrer Wohnungen auf dem Spülkasten im Klo versteckt, soweit man dabei von Verstecken sprechen kann. Das Klo liegt die Treppe runter. Der Schlüssel fehlt. Wie lange schon, weiß der Nachbar nicht. Aber du hast das Türschloss ja selbst gesehen. Wenn man die Tür hochhebt, kann man den Riegel auch ohne Schlüssel über den Bolzen schieben.«
»Du weißt es also nicht.«
Per grinste. »Lasse ist mit dem RC-Strahler rein. Am Kleiderschrank und bei der Kommode hüpften die Fasern noch wie Glühwürmchen in der Luft.«
»Wie lange dauert es, bis sich der Staub wieder legt?« »Muss ganz frisch gewesen sein. Nicht länger als drei Stunden. Der Kleiderschrank, diese Kommode da und vielleicht auch der Flügelkasten. Eine hübsche systematische Suche kannst du es nennen.«
»Das ist ganz schön viel. Danke, dass du gekommen bist.«
»Es gibt noch mehr: In dieser Wohnung wird seit Tagen nicht mehr gewohnt.«
Die Falsche Tote
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