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Sofi ließ sich in den Sitz sinken und schloss die
Augen. Sie hörte, wie sich die Türen schlossen, und bald rauschte
die Bahn leise dahin. Viel leiser als daheim vernahm man nur ein
tiefes Summen. Sie hatte auch den ganzen Tag noch keinen Menschen
gesehen, der in ein Headset sprach. Alle blickten ins Leere und
ließen an sich vorbeiziehen, was sie am Tag erlebt hatten.
»Wenn ich mit Linda in Deutschland U-Bahn fahre,
dann spielen wir immer Alfred Döblin«, sagte die Stimme von Kjell
neben ihr.
Sofi schlug die Augen auf und wartete auf eine
Fortsetzung.
»Du musst dir vorstellen, dass du bei der Arbeit
bist und gerade Feierabend machen willst. Du freust dich auf
Zuhause und steckst schon im Mantel, als das Telefon
schrillt.«
»Schrillt?«
»Du bist ja Döblin und lebst in den
Dreißigern.«
»Ach so.«
»Jemand teilt dir mit, dass du auf keinen Fall nach
Hause gehen darfst, weil dort die Geheimpolizei auf dich wartet, um
dich zu verhaften. Und jetzt sitzt du in der U-Bahn und hast nur
dreißig Reichsmark in der Tasche. Du musst so schnell wie möglich
das Land verlassen, aber im Ausland kennst du niemanden, und die
Grenzen sind gesperrt. Deine Wohnung wirst du nie mehr
wiedersehen.«
»Wieviel sind dreißig Reichsmark?«
»Denk nicht immer so pragmatisch!«
Sofi schloss die Augen, und als sie zwei Stationen
mit allen anderen aus der Bahn drängte, fühlte sie sich ganz
benommen. Sie mussten den langen Bahnsteig entlanglaufen.
»Bist du bereit?«, fragte Kjell.
»Ja.«
»Was ist geschehen?«
»Josefin Rosenfeldt, die Tochter des
Justizkanzlers, ist verschwunden. Eine Frau in ihrem Alter stürzt
aus dem Fenster von Josefins Wohnung.«
»Wie ist es geschehen?«
»Josefin lädt die Isländerin Sesselja Ragnarsdóttir
ein, vorübergehend bei ihr zu wohnen. Sie reist mit ihrem Vater
nach Frankreich, bricht den Aufenthalt jedoch früher ab als üblich.
Sie reist zurück nach Stockholm, gibt Unterlagen ihres Vaters in
der Kanzlei ab und ist seitdem verschollen. Als Sesselja ankommt,
öffnet eine andere Person die Tür und bestreitet nicht, Josefin zu
sein.«
Am Ende des Bahnsteigs stellten sie sich mit den
anderen Menschen auf die Rolltreppe.
»Kennen sich Josefin und die Fremde?«
»Ja. Nein.«
Als sie das Freie erreichten, leuchtete das letzte
Licht des Tages. Ihre Telefone fingen zugleich an zu piepsen. In
der letzten halben Stunde mussten eine Menge Anrufe angekommen
sein. Alle kamen von Henning. Sofi drückte die Kurzwahl.
»Was ist los bei euch?«, fragte Henning
gehetzt.
»Es gibt hier keinen Empfang in der U-Bahn.«
»Die Mikroskopie ist fertig. Die Tote hat den
Liebesbrief geschrieben.«
»Was? Ist das sicher?«
»Ihr Profil ist in der Tinte. Sie muss den Brief in
den Händen gehalten haben, als die Tinte noch feucht war. Es gibt
keinen Zweifel. Und wir haben Abdruckfragmente im Buch und DNA. Das
alles hat also nichts mit Josefin zu tun. Deine Theorie mit den
Rachegöttinnen kannst du wohl vergessen.«