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Der Rest des Kaffees war kalt geworden. Kjell
würgte ihn hinunter. Lennart Rosenfeldt hatte ratlos und verwirrt
gewirkt, Trauer, Panik oder Erleichterung war nicht zu erkennen
gewesen. Zähe Minuten lang hatten sie verhandelt, ob es sich um
eine Verwechslung der unglücklichen Art handeln konnte. Rosenfeldt
war von dieser Einschätzung gar nicht abzubringen gewesen. Auch
Sofi hatte Mühe gehabt, sich davon zu lösen. Nur Kjell war die
Wahrheit klar geworden wie ein Schlag auf den Hinterkopf, noch ehe
er den Gedanken wirklich hatte ausführen können. Die tote Frau war
nicht nur aus Josefins Fenster gefallen. Sie war von der Isländerin
ohne Zweifel als Josefin Rosenfeldt identifiziert worden und hatte
in Josefins Zimmer gewohnt.
Nach einem kurzen und unergiebigen Gespräch hatte
Kjell den Vater nach Hause gebracht, das in der Nähe des
Polizeigebäudes am Norr Mälarstrand lag. Danach hatten sie sich auf
den Weg zum Verhörraum machen wollen, wo die isländische
Mitbewohnerin auf sie wartete. Aber nun saßen sie schon eine halbe
Stunde im Seven-Eleven gegenüber dem Bezirkstag in der
Hantverkargatan und schwiegen mit leeren Köpfen. Wer war die Tote
und wo zum Teufel war Josefin? Sofi gab nach einigen zaghaften
Einfällen auf. Der XL-Erdbeer-Splash hatte ihre Zunge rot gefärbt.
An ihr schlugen Farben immer bis zum Rand des Pegels aus. In ihrem
Inneren war Sofi ganz aus Feuer, fantasierte Kjell.
Josefin Rosenfeldt wurde in ihrer Familie meist
Jossan genannt, und soweit der Vater wusste, taten das auch ihre
Freunde. Die Mutter war schon ein Jahr nach Josefins Geburt
gestorben. Das erinnerte Kjell ein wenig an seine eigene Familie.
Seit vier Jahren war er mit Linda ganz allein.
Das Wohnrecht für Josefins Wohnung hatte Rosenfeldt
bezahlt, einen Wohnkredit hatte er für die zwei Millionen nicht
benötigt. Offiziell war er Mitglied der Wohnungsgenossenschaft und
nicht seine Tochter. Kjell ließ Sofi dieses Detail in ihren Notizen
unterstreichen, denn es war die einzige Datenverbindung der
Rosenfeldts zur Sigtunagatan.
Jossans Auszug aus der Elternwohnung habe die
Gestalt eines sanften Entzugs gehabt, anders als ihr Bruder Oskar
hing sie am Vater. Das Verhältnis war immer noch innig. Waren sie
beide in Stockholm, hatte noch keiner den Donnerstagabend ausfallen
lassen, wo sie sich in einem Restaurant am Odenplan trafen und
anschließend noch ins Kino gingen, meist ins Grand und manchmal
auch am Hötorget. Für den Vater waren es die einzigen Stunden in
der Woche, wo er von seiner Arbeit wirklich frei war. Das war eines
der ersten Dinge gewesen, die er Sofi und Kjell erzählt hatte. Dass
Josefin oder ihre Doppelgängerin in genau diesen Stunden an einem
Donnerstagabend gestorben war, war dem Vater sogleich aufgefallen.
Und hatte ihn nicht mehr losgelassen. Sofi hatte sich noch notiert,
dass Josefin jeden Sommer mit dem Vater in Frankreich verbrachte.
So war es jedes Jahr. Dass es für eine Frau in ihrem Alter
ungewöhnlich war, keine eigenen Urlaubsideen zu entwickeln, war dem
Vater gar nicht aufgefallen. Josefin studierte seit drei Semestern.
Rosenfeldt konnte berichten, dass sie Kurse in Geschichte und
Sozialwissenschaften belegte. Sofi hatte auch gleich nach Freunden
gefragt, aber offenbar tat sich Josefin schwer, Kontakte zu anderen
Menschen zu knüpfen und war auch nicht daran interessiert,
Freundschaften zu erhalten. In ihrer Zeit auf dem Gymnasium hatte
sie zwei Freunde gehabt und eine beste Freundin, die aber seit
einem Jahr Geologie in Spitzbergen studierte.
Ob Josefin neue Kontakte an der Universität
geknüpft hatte, konnte der Vater nicht beantworten. Bei ihren
Donnerstagabenden sprachen sie nämlich meist über die Arbeit des
Vaters. Er behauptete, dass seine Tochter ein sagenhaftes Gespür
für politische Konsequenzen und Machenschaften habe, er hingegen
gar keines. Die beiden hatten also ganz andere Themen zu besprechen
als Josefins Privatleben. Er glaubte, dass sie nicht nur ungern
über solche Dinge sprach, Privates nahm in ihrem Leben tatsächlich
wenig Raum ein.
Unnötigerweise deutete Sofi an, dass es jetzt in
den Ferien schwer werden würde, mehr über Freunde herauszufinden,
und probierte es noch einmal beim Frauendienst Kvinnojouren,
wo die ganze Zeit besetzt war. Josefin hatte vor einem Jahr
begonnen, dort Frauen in Not am Telefon zu beraten. Diesmal kam
Sofi durch. Die Leiterin musste in den alten Schichtplänen suchen.
Josefin war zum letzten Mal vor anderthalb Monaten dort gewesen und
hatte sich bis zum Herbst abgemeldet, weil das Studium ihr keine
Zeit lasse.
Sofi dankte und zeichnete die neuen Informationen
auf ihrer Zeitleiste ein, die sie in ihrem Notizblock angelegt
hatte. Es war ihre Art, sich für alles im Leben durch Schreiben
aufzuwärmen und manchmal auch abzukühlen, und so hatte sie es mit
dem Strohhalm im Mund auf zweieinhalb Seiten gebracht. Kjell selbst
ging nun zum fünften Mal durch, was Rosenfeldt ausgesagt hatte.
Josefin war am 3. Juli mit ihrem Vater nach Saint Malo in der
Bretagne geflogen. Dort besaß die Familie seit fünfzehn Jahren eine
Wohnung im Stadtkern. Kjell war schon zweimal dort gewesen. Die
Innenstadt war von einer breiten Festungsmauer umgeben, auf der man
wie auf einem Boulevard um das Zentrum spazieren konnte. Von der
Wohnung bis zum Stadtstrand hatte man nur hundert Meter zu gehen.
Josefin war jeden Tag dort gewesen. Der Vater konnte von vielen
losen Freundschaften zu Einheimischen in ihrem Alter berichten, die
Josefin seit ihrer Kindheit kannte.
Am 16. Juli eröffnete Josefin dem Vater, dass sie
nach Stockholm zurückmüsse, nannte aber keine Gründe. Mit der
Universität konnte es nichts zu tun haben. Das Semester hatte lange
vorher am 10. Juni geendet, und das nächste begann erst in vier
Wochen. Josefin hatte Stockholm auf jeden Fall erreicht, denn am
17. Juli, einem Dienstag, war sie nach Riddarholmen zum Sitz der
Justizkanzlei gefahren, um dem Büroleiter eine Mappe mit Akten zu
überbringen, die der Vater ihr mitgegeben hatte. Der Büroleiter
kannte Josefin, daher musste diese Begegnung als letztes
Lebenszeichen gelten. Es lag nun bereits siebzehn Tage
zurück.
Zu Josefins Bruder Oskar hatte der Vater seit
seiner Abreise keinen Kontakt mehr gehabt. Daran sei nichts
ungewöhnlich, fand Rosenfeldt. Oskar lebte sein eigenes Leben, und
das Verhältnis der beiden war wohl so angespannt, wie die Worte,
mit denen Rosenfeldt es beschrieb.
»Nach dem 17. Juli hat niemand mehr Josefin
gesehen«, sagte Kjell. »Sechzehn Tage später stürzte eine junge
Frau aus dem Fenster von Josefins Dreizimmerwohnung. Der Vater hat
keine Ahnung, um wen es sich dabei handeln könnte.«
»Satan auch!« Sofis schwarze Augen funkelten. »Die
Isländerin wohnt zum Zeitpunkt des Mordes schon dreizehn Tage dort!
Die Tote hat sich ihr gegenüber ohne Zweifel als Josefin
ausgegeben. Noch gruseliger finde ich, dass die echte Josefin ihrem
Vater in Frankreich sogar ankündigt, dass sie eine Mitbewohnerin
aus Island bekommt.«
»Die echte Josefin hat das also vereinbart, aber
als die Isländerin dann ankam, muss die Doppelgängerin schon dort
gewesen sein.« Kjell deutete auf Sofis Zeitleiste, und Sofi setzte
ein blaues Kreuz auf den 21. Juli. Spätestens von da an musste die
Doppelgängerin übernommen haben. »Ganze zwei Wochen«, murmelte
Kjell. »Solange hat die Isländerin nichts gemerkt.«
»Wie sollte sie auch!«
»Du glaubst der Isländerin also?«
»Nein, lieber nicht.«
Die Tote. Rosenfeldt hatte ein Foto von Josefin
mitgebracht, das erst im Urlaub aufgenommen worden war. Das Bild im
Polizeiarchiv war viel älter, und die Ähnlichkeit immerhin so groß,
dass keinem bei der Polizei Zweifel gekommen waren. Aber die
Ähnlichkeit war nur grob und erinnerte an Ankreuzoptionen bei einer
Partnerschaftsagentur, wo man auswählen konnte, ob man eine Blonde
oder Brünette wollte. Beide Frauen hatten braunes Haar, das der
Toten war jedoch ein wenig dunkler. Beide hatten recht zierliche
Körper und Gesichter, doch im Bus hätte er die beiden nicht für
Schwestern gehalten.
»Ist dir das auch schon einmal passiert?«, fragte
Kjell. »Dass du zwei Dinge als zusammengehörend empfunden hast, nur
weil sie gemeinsam auftraten? Wobei das ganz und gar nicht der Fall
war?«
Sofis Augenbrauen wölbten sich zu Bögen.
»Dauernd!«, sagte sie zu seinem Erstaunen. »Mit zwölf habe ich im
Fernsehen einen amerikanischen Film gesehen. In einer Bar sagte
eine Frau zu einem Mann, sie habe keine Zeit, sie sei auf der Suche
nach einem Job und laufe sich die Hacken wund. Ich wusste damals
nicht, was das Wort »Job« bedeutet, ich hatte es noch nie gehört.
Der Mann erwiderte, er verstehe, und reichte der Frau einen
Autoschlüssel. Sie verließ die Bar, schloss mit dem Schlüssel einen
amerikanischen Schlitten auf und fuhr davon.«
Sofi hielt inne und betrachtete ihren Chef
erwartungsvoll.
»Und?«, fragte er.
»Ich habe drei Jahre lang geglaubt, dass »Job« eine
amerikanische Automarke ist.«
Dass sie mit so einem guten Beispiel glänzen
konnte, hatte er nicht erwartet.
»Du musst auch ein Beispiel geben.«
Kjell erzählte von Estelle, seiner ersten Liebe.
Kjell hatte sie in seinem zwölften Lebensjahr am Urlaubsstrand
kennengelernt, und ihre Liebe hatte acht Sonnenuntergänge lang
gedauert. Beim achten hatte Estelle ihm auf seine Frage, was sie
einmal werden wolle, stolz geantwortet, dass sie erst studieren und
dann Mätresse sein wollte. Entsetzt hatte Kjell den achten
gemeinsamen Sonnenuntergang abgebrochen und Estelle am Strand
sitzengelassen. Noch ehe die Sonne ganz mit dem Meer verschmolzen
war.
»Aha«, sagte Sofi. »Und dann?«
»Ich war am Boden zerstört und von progressiver
Eifersucht zerfressen. Kurz nach meiner Rückkehr nach Schweden fand
ich dann heraus, dass maîtresse das französische Wort für
›Lehrerin‹ ist.«
Sofi lachte schallend. »Das ist tragisch, aber noch
lange kein Beispiel dafür, dass man eine falsche Verbindung
zwischen zwei Dingen konstruiert.«
Sofi hatte ja auch Estelle nie in die Augen
geblickt. Auf der anderen Seite konnten zwei Bilder
zusammengehören, zwischen denen es keine logische Verbindung gab.
Kjell war beim Lotto darauf gestoßen. Wenn dort die Eins und die
Vier kamen, trat zugleich nie die Fünf auf als Summe aus eins und
vier, dafür aber die Vierzehn. Das ließ sich nicht mit Mathematik
erklären, aber dennoch hatte er genau diese Erscheinung in seinen
Jahren als Ermittler immer wieder beobachten können. Für ihn war es
das wesentliche Prinzip, nach dem die Wirklichkeit komponiert war.
Leider erkannte er es immer erst am Ende einer Ermittlung - oder
einer Romanze -, wenn alles offen lag, denn die anerzogene Logik
brachte einen immer wieder dazu, solche Hinweise als
unwahrscheinlich oder zufällig abzutun. Deshalb hatte er in das
Handbuch für die Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen, an das sich
alle Ermittler in Schweden halten mussten, eine neue Regel
eingefügt. Sie lautete knapp »1 + 1 = 11«, und ebenso knapp war
Barbros Lachen gewesen, als sie es gelesen hatte.
»Bist du bereit für die fünf Fragen?«
»Jetzt schon?«
Er nickte. Sie auch.
»Was ist geschehen?«
Das wollte er immer zuerst von ihr wissen.
»Eine junge Frau fällt aus dem Fenster. Kurz davor
hat es an der Tür geklingelt. Jemand ist bei ihr gewesen.«
»Wie ist es geschehen?«
»Der Eindringling hat sie gestoßen. Oder
geworfen.«
»Sicher?«
»Nein. Er kann sie mit einer Waffe bedroht haben.
Sie hat sich zurückgezogen und ist über die Brüstung gestürzt. Oder
er hat sie mit einer Waffe genötigt. Damit sie springt.«
»Das kannst du vergessen. Das gibt es nur in Krimis
oder im Western mit der
Das-Grab-selber-schaufeln-lassen-Variante.«
Sofi notierte und sprach dabei. »Ausweglosigkeit.
Weißt du, was das ist?«
»Ich wohne immerhin mit Linda zusammen.« Kjell
dachte an seine Tochter und fragte sich, wie es ihr gerade erging.
»Die Tatorttechniker behaupten, dass die Höhe des Geländers es
nicht zulässt, dass ein Mensch dieser Größe und mit diesem Gewicht
über das Geländer kippt. Ihr Schwerpunkt liegt zu tief.« Er gab
Sofi etwas Zeit zum Schreiben. »Hast du alles? Kann ich die nächste
Frage stellen?«
»Ich habe ›Nötigung‹ und ›Ausweglosigkeit‹.«
»Schreib noch ›Erwartung‹ dazu. Frage drei. Warum
ist es geschehen?«
»Das wissen wir nicht.« Sie schüttelte den Kopf,
ohne aufzusehen.
»Wer war der Täter?«
»Auch nicht.«
»Hat sie ihn gekannt?«
»Wenn es ein professioneller Mord war. Weiß nicht.
Sie kann die Bedrohung gekannt haben. Hast du das mit ›Erwartung‹
gemeint?«
»Sie hat die Bedrohung gekannt. Da kannst du sicher
sein. Fünf. Was ist jetzt?«
Durch die Antwort auf diese Frage war man in vielen
Fällen schon am Ziel. Sofi schwieg, entdeckte den Strohhalm ihres
halb leeren XL-Erdbeer-Splashs und sog daran. Das sah Kjell als
Ausdruck dafür, dass sich der Weg hier gabelte.
»Wen wollte der Mörder überhaupt umbringen?«,
fragte sie.
In der Tat, dachte Kjell. Der Kardinalfragenkatalog
des Handbuchs zur Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen der
Reichsmordkommission hatte diesen Fall nicht berücksichtigt. »Es
gibt zwei Arten des Profimordes. Leiche weg oder Selbstmord. Hier
der inszenierte Selbstmord. Also noch mal, wer sollte
sterben?«
»Josefin. Die Doppelgängerin kann nicht das Ziel
gewesen sein. Sonst wäre dem Mörder doch klar gewesen, dass wir
rasch erkennen, dass die Tote nicht Josefin ist.«
Kjell nickte bedächtig. »Was gibt es für einen
Grund, Josefin zu töten?«
Auf Sofis Stirn und am Hals glänzte Schweiß. »Was
gäbe es für einen Grund, die Doppelgängerin zu töten?«
Ihm fiel lange keine Antwort ein. Ȇber die Tote
wissen wir nur zweierlei. Sie ist eine Frau, und sie ist jung. Nenn
mir ein Motiv.«
Sofi stützte ihre Ellenbogen auf die Holzplatte und
spreizte ihre Finger in die Höhe. »Rache?« Erst wollte sie mit den
Augen das Gesicht ihres Chefs nach einer Reaktion auf ihren
Vorschlag absuchen. Da war aber keine Reaktion. »Die Tote ist die
Kopie. Das Original ist verschollen. Wir brauchen nur Josefin zu
finden. Dann wissen wir alles.«
»Am Anfang warst du dir ganz sicher, dass noch
jemand in der Wohnung war«, brachte Kjell in Erinnerung.
»Durch den Nachbarn. Wir glauben ihm.«
»Und ohne den Nachbarn?«
»Dann hätten wir einen Selbstmord vermutet.«
»Wie ist dieser Eindruck entstanden?«
Sofi grinste. »Durch die Isländerin.«
»Weiß sie von dem Nachbarn?«
»Nein.«
»Dann trink aus.«