10
Der Rest des Kaffees war kalt geworden. Kjell würgte ihn hinunter. Lennart Rosenfeldt hatte ratlos und verwirrt gewirkt, Trauer, Panik oder Erleichterung war nicht zu erkennen gewesen. Zähe Minuten lang hatten sie verhandelt, ob es sich um eine Verwechslung der unglücklichen Art handeln konnte. Rosenfeldt war von dieser Einschätzung gar nicht abzubringen gewesen. Auch Sofi hatte Mühe gehabt, sich davon zu lösen. Nur Kjell war die Wahrheit klar geworden wie ein Schlag auf den Hinterkopf, noch ehe er den Gedanken wirklich hatte ausführen können. Die tote Frau war nicht nur aus Josefins Fenster gefallen. Sie war von der Isländerin ohne Zweifel als Josefin Rosenfeldt identifiziert worden und hatte in Josefins Zimmer gewohnt.
Nach einem kurzen und unergiebigen Gespräch hatte Kjell den Vater nach Hause gebracht, das in der Nähe des Polizeigebäudes am Norr Mälarstrand lag. Danach hatten sie sich auf den Weg zum Verhörraum machen wollen, wo die isländische Mitbewohnerin auf sie wartete. Aber nun saßen sie schon eine halbe Stunde im Seven-Eleven gegenüber dem Bezirkstag in der Hantverkargatan und schwiegen mit leeren Köpfen. Wer war die Tote und wo zum Teufel war Josefin? Sofi gab nach einigen zaghaften Einfällen auf. Der XL-Erdbeer-Splash hatte ihre Zunge rot gefärbt. An ihr schlugen Farben immer bis zum Rand des Pegels aus. In ihrem Inneren war Sofi ganz aus Feuer, fantasierte Kjell.
Josefin Rosenfeldt wurde in ihrer Familie meist Jossan genannt, und soweit der Vater wusste, taten das auch ihre Freunde. Die Mutter war schon ein Jahr nach Josefins Geburt gestorben. Das erinnerte Kjell ein wenig an seine eigene Familie. Seit vier Jahren war er mit Linda ganz allein.
Das Wohnrecht für Josefins Wohnung hatte Rosenfeldt bezahlt, einen Wohnkredit hatte er für die zwei Millionen nicht benötigt. Offiziell war er Mitglied der Wohnungsgenossenschaft und nicht seine Tochter. Kjell ließ Sofi dieses Detail in ihren Notizen unterstreichen, denn es war die einzige Datenverbindung der Rosenfeldts zur Sigtunagatan.
Jossans Auszug aus der Elternwohnung habe die Gestalt eines sanften Entzugs gehabt, anders als ihr Bruder Oskar hing sie am Vater. Das Verhältnis war immer noch innig. Waren sie beide in Stockholm, hatte noch keiner den Donnerstagabend ausfallen lassen, wo sie sich in einem Restaurant am Odenplan trafen und anschließend noch ins Kino gingen, meist ins Grand und manchmal auch am Hötorget. Für den Vater waren es die einzigen Stunden in der Woche, wo er von seiner Arbeit wirklich frei war. Das war eines der ersten Dinge gewesen, die er Sofi und Kjell erzählt hatte. Dass Josefin oder ihre Doppelgängerin in genau diesen Stunden an einem Donnerstagabend gestorben war, war dem Vater sogleich aufgefallen. Und hatte ihn nicht mehr losgelassen. Sofi hatte sich noch notiert, dass Josefin jeden Sommer mit dem Vater in Frankreich verbrachte. So war es jedes Jahr. Dass es für eine Frau in ihrem Alter ungewöhnlich war, keine eigenen Urlaubsideen zu entwickeln, war dem Vater gar nicht aufgefallen. Josefin studierte seit drei Semestern. Rosenfeldt konnte berichten, dass sie Kurse in Geschichte und Sozialwissenschaften belegte. Sofi hatte auch gleich nach Freunden gefragt, aber offenbar tat sich Josefin schwer, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen und war auch nicht daran interessiert, Freundschaften zu erhalten. In ihrer Zeit auf dem Gymnasium hatte sie zwei Freunde gehabt und eine beste Freundin, die aber seit einem Jahr Geologie in Spitzbergen studierte.
Ob Josefin neue Kontakte an der Universität geknüpft hatte, konnte der Vater nicht beantworten. Bei ihren Donnerstagabenden sprachen sie nämlich meist über die Arbeit des Vaters. Er behauptete, dass seine Tochter ein sagenhaftes Gespür für politische Konsequenzen und Machenschaften habe, er hingegen gar keines. Die beiden hatten also ganz andere Themen zu besprechen als Josefins Privatleben. Er glaubte, dass sie nicht nur ungern über solche Dinge sprach, Privates nahm in ihrem Leben tatsächlich wenig Raum ein.
Unnötigerweise deutete Sofi an, dass es jetzt in den Ferien schwer werden würde, mehr über Freunde herauszufinden, und probierte es noch einmal beim Frauendienst Kvinnojouren, wo die ganze Zeit besetzt war. Josefin hatte vor einem Jahr begonnen, dort Frauen in Not am Telefon zu beraten. Diesmal kam Sofi durch. Die Leiterin musste in den alten Schichtplänen suchen. Josefin war zum letzten Mal vor anderthalb Monaten dort gewesen und hatte sich bis zum Herbst abgemeldet, weil das Studium ihr keine Zeit lasse.
Sofi dankte und zeichnete die neuen Informationen auf ihrer Zeitleiste ein, die sie in ihrem Notizblock angelegt hatte. Es war ihre Art, sich für alles im Leben durch Schreiben aufzuwärmen und manchmal auch abzukühlen, und so hatte sie es mit dem Strohhalm im Mund auf zweieinhalb Seiten gebracht. Kjell selbst ging nun zum fünften Mal durch, was Rosenfeldt ausgesagt hatte. Josefin war am 3. Juli mit ihrem Vater nach Saint Malo in der Bretagne geflogen. Dort besaß die Familie seit fünfzehn Jahren eine Wohnung im Stadtkern. Kjell war schon zweimal dort gewesen. Die Innenstadt war von einer breiten Festungsmauer umgeben, auf der man wie auf einem Boulevard um das Zentrum spazieren konnte. Von der Wohnung bis zum Stadtstrand hatte man nur hundert Meter zu gehen. Josefin war jeden Tag dort gewesen. Der Vater konnte von vielen losen Freundschaften zu Einheimischen in ihrem Alter berichten, die Josefin seit ihrer Kindheit kannte.
Am 16. Juli eröffnete Josefin dem Vater, dass sie nach Stockholm zurückmüsse, nannte aber keine Gründe. Mit der Universität konnte es nichts zu tun haben. Das Semester hatte lange vorher am 10. Juni geendet, und das nächste begann erst in vier Wochen. Josefin hatte Stockholm auf jeden Fall erreicht, denn am 17. Juli, einem Dienstag, war sie nach Riddarholmen zum Sitz der Justizkanzlei gefahren, um dem Büroleiter eine Mappe mit Akten zu überbringen, die der Vater ihr mitgegeben hatte. Der Büroleiter kannte Josefin, daher musste diese Begegnung als letztes Lebenszeichen gelten. Es lag nun bereits siebzehn Tage zurück.
Zu Josefins Bruder Oskar hatte der Vater seit seiner Abreise keinen Kontakt mehr gehabt. Daran sei nichts ungewöhnlich, fand Rosenfeldt. Oskar lebte sein eigenes Leben, und das Verhältnis der beiden war wohl so angespannt, wie die Worte, mit denen Rosenfeldt es beschrieb.
»Nach dem 17. Juli hat niemand mehr Josefin gesehen«, sagte Kjell. »Sechzehn Tage später stürzte eine junge Frau aus dem Fenster von Josefins Dreizimmerwohnung. Der Vater hat keine Ahnung, um wen es sich dabei handeln könnte.«
»Satan auch!« Sofis schwarze Augen funkelten. »Die Isländerin wohnt zum Zeitpunkt des Mordes schon dreizehn Tage dort! Die Tote hat sich ihr gegenüber ohne Zweifel als Josefin ausgegeben. Noch gruseliger finde ich, dass die echte Josefin ihrem Vater in Frankreich sogar ankündigt, dass sie eine Mitbewohnerin aus Island bekommt.«
»Die echte Josefin hat das also vereinbart, aber als die Isländerin dann ankam, muss die Doppelgängerin schon dort gewesen sein.« Kjell deutete auf Sofis Zeitleiste, und Sofi setzte ein blaues Kreuz auf den 21. Juli. Spätestens von da an musste die Doppelgängerin übernommen haben. »Ganze zwei Wochen«, murmelte Kjell. »Solange hat die Isländerin nichts gemerkt.«
»Wie sollte sie auch!«
»Du glaubst der Isländerin also?«
»Nein, lieber nicht.«
Die Tote. Rosenfeldt hatte ein Foto von Josefin mitgebracht, das erst im Urlaub aufgenommen worden war. Das Bild im Polizeiarchiv war viel älter, und die Ähnlichkeit immerhin so groß, dass keinem bei der Polizei Zweifel gekommen waren. Aber die Ähnlichkeit war nur grob und erinnerte an Ankreuzoptionen bei einer Partnerschaftsagentur, wo man auswählen konnte, ob man eine Blonde oder Brünette wollte. Beide Frauen hatten braunes Haar, das der Toten war jedoch ein wenig dunkler. Beide hatten recht zierliche Körper und Gesichter, doch im Bus hätte er die beiden nicht für Schwestern gehalten.
»Ist dir das auch schon einmal passiert?«, fragte Kjell. »Dass du zwei Dinge als zusammengehörend empfunden hast, nur weil sie gemeinsam auftraten? Wobei das ganz und gar nicht der Fall war?«
Sofis Augenbrauen wölbten sich zu Bögen. »Dauernd!«, sagte sie zu seinem Erstaunen. »Mit zwölf habe ich im Fernsehen einen amerikanischen Film gesehen. In einer Bar sagte eine Frau zu einem Mann, sie habe keine Zeit, sie sei auf der Suche nach einem Job und laufe sich die Hacken wund. Ich wusste damals nicht, was das Wort »Job« bedeutet, ich hatte es noch nie gehört. Der Mann erwiderte, er verstehe, und reichte der Frau einen Autoschlüssel. Sie verließ die Bar, schloss mit dem Schlüssel einen amerikanischen Schlitten auf und fuhr davon.«
Sofi hielt inne und betrachtete ihren Chef erwartungsvoll.
»Und?«, fragte er.
»Ich habe drei Jahre lang geglaubt, dass »Job« eine amerikanische Automarke ist.«
Dass sie mit so einem guten Beispiel glänzen konnte, hatte er nicht erwartet.
»Du musst auch ein Beispiel geben.«
Kjell erzählte von Estelle, seiner ersten Liebe. Kjell hatte sie in seinem zwölften Lebensjahr am Urlaubsstrand kennengelernt, und ihre Liebe hatte acht Sonnenuntergänge lang gedauert. Beim achten hatte Estelle ihm auf seine Frage, was sie einmal werden wolle, stolz geantwortet, dass sie erst studieren und dann Mätresse sein wollte. Entsetzt hatte Kjell den achten gemeinsamen Sonnenuntergang abgebrochen und Estelle am Strand sitzengelassen. Noch ehe die Sonne ganz mit dem Meer verschmolzen war.
»Aha«, sagte Sofi. »Und dann?«
»Ich war am Boden zerstört und von progressiver Eifersucht zerfressen. Kurz nach meiner Rückkehr nach Schweden fand ich dann heraus, dass maîtresse das französische Wort für ›Lehrerin‹ ist.«
Sofi lachte schallend. »Das ist tragisch, aber noch lange kein Beispiel dafür, dass man eine falsche Verbindung zwischen zwei Dingen konstruiert.«
Sofi hatte ja auch Estelle nie in die Augen geblickt. Auf der anderen Seite konnten zwei Bilder zusammengehören, zwischen denen es keine logische Verbindung gab. Kjell war beim Lotto darauf gestoßen. Wenn dort die Eins und die Vier kamen, trat zugleich nie die Fünf auf als Summe aus eins und vier, dafür aber die Vierzehn. Das ließ sich nicht mit Mathematik erklären, aber dennoch hatte er genau diese Erscheinung in seinen Jahren als Ermittler immer wieder beobachten können. Für ihn war es das wesentliche Prinzip, nach dem die Wirklichkeit komponiert war. Leider erkannte er es immer erst am Ende einer Ermittlung - oder einer Romanze -, wenn alles offen lag, denn die anerzogene Logik brachte einen immer wieder dazu, solche Hinweise als unwahrscheinlich oder zufällig abzutun. Deshalb hatte er in das Handbuch für die Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen, an das sich alle Ermittler in Schweden halten mussten, eine neue Regel eingefügt. Sie lautete knapp »1 + 1 = 11«, und ebenso knapp war Barbros Lachen gewesen, als sie es gelesen hatte.
»Bist du bereit für die fünf Fragen?«
»Jetzt schon?«
Er nickte. Sie auch.
»Was ist geschehen?«
Das wollte er immer zuerst von ihr wissen.
»Eine junge Frau fällt aus dem Fenster. Kurz davor hat es an der Tür geklingelt. Jemand ist bei ihr gewesen.«
»Wie ist es geschehen?«
»Der Eindringling hat sie gestoßen. Oder geworfen.«
»Sicher?«
»Nein. Er kann sie mit einer Waffe bedroht haben. Sie hat sich zurückgezogen und ist über die Brüstung gestürzt. Oder er hat sie mit einer Waffe genötigt. Damit sie springt.«
»Das kannst du vergessen. Das gibt es nur in Krimis oder im Western mit der Das-Grab-selber-schaufeln-lassen-Variante.«
Sofi notierte und sprach dabei. »Ausweglosigkeit. Weißt du, was das ist?«
»Ich wohne immerhin mit Linda zusammen.« Kjell dachte an seine Tochter und fragte sich, wie es ihr gerade erging. »Die Tatorttechniker behaupten, dass die Höhe des Geländers es nicht zulässt, dass ein Mensch dieser Größe und mit diesem Gewicht über das Geländer kippt. Ihr Schwerpunkt liegt zu tief.« Er gab Sofi etwas Zeit zum Schreiben. »Hast du alles? Kann ich die nächste Frage stellen?«
»Ich habe ›Nötigung‹ und ›Ausweglosigkeit‹.«
»Schreib noch ›Erwartung‹ dazu. Frage drei. Warum ist es geschehen?«
»Das wissen wir nicht.« Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen.
»Wer war der Täter?«
»Auch nicht.«
»Hat sie ihn gekannt?«
»Wenn es ein professioneller Mord war. Weiß nicht. Sie kann die Bedrohung gekannt haben. Hast du das mit ›Erwartung‹ gemeint?«
»Sie hat die Bedrohung gekannt. Da kannst du sicher sein. Fünf. Was ist jetzt?«
Durch die Antwort auf diese Frage war man in vielen Fällen schon am Ziel. Sofi schwieg, entdeckte den Strohhalm ihres halb leeren XL-Erdbeer-Splashs und sog daran. Das sah Kjell als Ausdruck dafür, dass sich der Weg hier gabelte.
»Wen wollte der Mörder überhaupt umbringen?«, fragte sie.
In der Tat, dachte Kjell. Der Kardinalfragenkatalog des Handbuchs zur Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen der Reichsmordkommission hatte diesen Fall nicht berücksichtigt. »Es gibt zwei Arten des Profimordes. Leiche weg oder Selbstmord. Hier der inszenierte Selbstmord. Also noch mal, wer sollte sterben?«
»Josefin. Die Doppelgängerin kann nicht das Ziel gewesen sein. Sonst wäre dem Mörder doch klar gewesen, dass wir rasch erkennen, dass die Tote nicht Josefin ist.«
Kjell nickte bedächtig. »Was gibt es für einen Grund, Josefin zu töten?«
Auf Sofis Stirn und am Hals glänzte Schweiß. »Was gäbe es für einen Grund, die Doppelgängerin zu töten?«
Ihm fiel lange keine Antwort ein. »Über die Tote wissen wir nur zweierlei. Sie ist eine Frau, und sie ist jung. Nenn mir ein Motiv.«
Sofi stützte ihre Ellenbogen auf die Holzplatte und spreizte ihre Finger in die Höhe. »Rache?« Erst wollte sie mit den Augen das Gesicht ihres Chefs nach einer Reaktion auf ihren Vorschlag absuchen. Da war aber keine Reaktion. »Die Tote ist die Kopie. Das Original ist verschollen. Wir brauchen nur Josefin zu finden. Dann wissen wir alles.«
»Am Anfang warst du dir ganz sicher, dass noch jemand in der Wohnung war«, brachte Kjell in Erinnerung.
»Durch den Nachbarn. Wir glauben ihm.«
»Und ohne den Nachbarn?«
»Dann hätten wir einen Selbstmord vermutet.«
»Wie ist dieser Eindruck entstanden?«
Sofi grinste. »Durch die Isländerin.«
»Weiß sie von dem Nachbarn?«
»Nein.«
»Dann trink aus.«
Die Falsche Tote
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