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Der Obduktionssaal hatte sich seit seinem letzten
Besuch verändert. Jemand hatte die alten lindgrünen Kacheln
abgeschlagen und durch Metallplatten ersetzt. Der scharfe Geruch
verriet, dass sie hier gerade erst mit dem Abspülen fertig geworden
waren. Die wandhohen Fenster waren gekippt, deshalb drang das
Zwitschern der Spatzen herein und verstärkte seine Intensität in
dem kargen Saal noch. Die aus Grönland stammende
Gerichtsmedizinerin saß ganz hinten neben dem vierten Tisch auf
einem Stuhl und hatte eine aufgeschlagene Stockholm City auf dem
Schoß liegen. Suunaat Kjærgaard las jedoch nicht, vielleicht
lauschte sie den Vögeln. Auf ihrem Gesicht wartete schon ein
professionelles Lächeln. Sie streckte Kjell die Hand entgegen, weil
sie einander noch nicht kannten. Beim Schütteln kniff Suunaat ihre
schmalen Augen zusammen.
»Suunaat Kjærgaard? Guten Morgen.« Zum Glück hieß
sie nicht Kirkegaard, dachte Kjell.
Suunaat versuchte, ihr Grönlanddänisch durch das
Anhängen bunter Vokale ihren schwedischen Mitmenschen
verständlicher zu gestalten. Kjell war von Henning beauftragt
worden, die Inuit-Frage auf höchster Instanz zu klären.
Suunaat kniff die Augen zusammen. »Inuit?
Nein.«
»Also falsch?«
»Nein.«
»Und wie nennt ihr euch nun?«
»Grönländer.«
Das war irgendwie logisch. Die Schweden hießen ja
auch nach ihrem Land und nicht etwa »Volvofahrer« oder
»Krebsfresser«. Die Antwort war zudem salomonisch und verhinderte
ein Auseinanderbrechen der Ermittlungsgruppe.
»Und Eskimo?«, fragte Sofi. »Sagt man das
auch?«
»Sagt man. Eskimo oder Grönländer.
Kalaaleq.«
»Kallalleck ist grönländisch für
›Grönländer‹?«, wollte Kjell wissen.
»Ja, grönländisch. Eigentlich isländisch, aber wir
sprechen so.«
»Verstehe. Inuit sagt ihr also nicht?« Kjell
wollte nur noch einmal nachfragen, damit es keine Unklarheiten
gab.
»Kann man sagen, aber macht keiner in Grönland. In
Kanada ja. Grönland nein.«
Dieses Ergebnis erstaunte Kjell. Die Grönländer
wollten Eskimos genannt werden, aber nicht Inuit. Zur Sicherheit
wollte er später Sofi fragen, wie sie dieses Gespräch erlebt
hatte.
Die Klarheit der Unterhaltung hatte Kjell in
leichte Unruhe versetzte, wenn er daran dachte, dass Suunaat gleich
einen komplexen Obduktionsbericht in ihrem Grönlanddannoschwedisch
bewältigen musste. Für ihren Bericht wechselte Suunaat jedoch in
ein amerikanisches Englisch, das so unbefleckt war wie das Laken,
das sie dabei von der Leiche krempelte.
Beim Anblick des zierlichen Mädchens stöhnte Kjell
auf. Die Maße ihres Körpers glichen Lindas. Mit ihren siebzehn
Jahren musste Linda sich glücklich schätzen, wenn sie wenigstens
auf sechzehn geschätzt wurde. Auch Josefin musste es so ergangen
sein. Der Sturz hatte ihrem Körper zahlreiche Verletzungen
beigebracht, die sich nicht nur auf das Knochengerüst beschränkten,
sondern auch die Organe betrafen. Das Blut war nach dem Aufprall
schnell aus ihrem Körper gewichen.
Suunaat glänzte mit vielen englischen
Fachausdrücken, deren Bedeutung Kjell nur verstand, weil Suunaat
immer auf die Stelle des toten Körpers deutete, von der sie gerade
sprach. Interessant war, was Suunaat zu vorausgegangenen
Verletzungen zu sagen hatte. Auf ihrer Haut und an anderen
verräterischen Stellen wie den Augen oder den Fingernägeln fanden
sich nirgendwo Hinweise, dass dem Sturz ein Kampf vorausgegangen
war. Josefin war leicht angetrunken gestorben. Ihr Blut enthielt
0,31 Promille Alkohol. Das deckte sich mit dem Bericht der
Isländerin, nachdem Josefin in den anderthalb Stunden vor ihrem Tod
zwei Gläser Weißwein getrunken haben sollte.
Josefin war keine Jungfrau mehr und hatte nie
empfangen oder eine Schwangerschaft abgebrochen.
»Die Entjungferung liegt noch nicht allzu lange
zurück«, berichtete Suunaat und deutete mit dem Finger auf die
entsprechende Stelle.
Sofi gab einen erstaunten Laut von sich. Linda war
siebzehn und auch noch Jungfrau, aber Kjell sagte nichts, weil er
nicht verraten wollte, dass er als Vater davon wusste.
Es gab jedoch ein Problem. In Josefins Bad lag eine
Packung Verhütungspillen, die zur Hälfte aufgebraucht war. Sie
gehörten nicht der Isländerin, aber der endokrinologische Befund
ließ keinen Zweifel daran, dass Josefin die Pillen nicht genommen
hatte.
Während sie draußen auf die Ankunft von Lennart
Rosenfeldt warteten, führte Kjell ein kurzes Gespräch mit Jenna aus
dem Labor. Bisher hatte sie in der Wohnung Fingerabdrücke von
vierzehn Personen gefunden, wobei sie zunächst nur die freien
Flächen geprüft hatten. Jeden verstauten Gegenstand zu
kontrollieren, vermieden die Techniker, da es meist nur Verwirrung
stiftete. Es brachte eine hohe Zahl an Abdrücken, doch darunter gab
es nur sehr selten einen, der mit der Tat zu tun hatte.
»Auf der Verpackung der Tabletten sind die Abdrücke
einer anderen Person«, sagte er dann zu Sofi.
»Die Verkäuferin?«
»Jenna sagt, dass sie diesen Abdruck an vielen
Stellen in der Wohnung gefunden haben. Eher eine Freundin.«
Sie warteten im Wagen, der vor dem Eingang der
Pathologie im Schatten parkte, ohne die Türen zu schließen. Der
Sommer zog sich schon so lange hin, dachte Kjell und blickte zum
Himmel. Seit einer Woche wurde ein Abendgewitter angekündigt, das
jedoch nie gekommen war.
»Wenn von der Familie keine Hinweise kommen, sind
wir am Ende.« Das war keine Jammerei. Es würde so sein.
Sofi schwieg und spielte lange mit dem Saum ihres
Rocks. »Wenn wir später mit der Isländerin reden, vielleicht kommt
da was raus.«
»Der Nachbar hat sich geirrt.«
»Hast du das Geländer gesehen? Sie ist so groß wie
Linda. Das Geländer reicht ihr bis über den Bauchnabel.«
»Also Selbstmord?«
Sofi schüttelte den Kopf. »Wenn sie nüchtern
gewesen wäre, hätten wir uns wundern können, warum sie sich nicht
wehrt. Aber zwei Gläser haben sie schon ordentlich betrunken
gemacht. Sie könnte schon getaumelt haben.«
»Sie hatte nur 0,3 Promille.«
»Es waren sechsundzwanzig Grad. Auf jeden Fall
konnte sie die Situation nicht mehr richtig einschätzen.«
»Hast du die Aussagen der Isländerin
studiert?«
»Sie ist Ärztin und arbeitet seit einigen Tagen im
Söderkrankenhaus in der Notaufnahme. Obwohl sie wirr und geschockt
wirkte, hat sie doch eine recht entschiedene Aussage gemacht und
Josefin als verängstigt beschrieben.« Sofi blätterte in ihrem
Notizblock, worin sie in jeder freien Minute las und schrieb.
»Hier! Verängstigt oder traumatisiert, das hat sie gesagt. Sie ist
Notfallärztin. Wir können also viel auf ihren Eindruck
geben.«
Ein dunkler Saab fuhr in hohem Tempo auf den
Parkplatz und hielt vor dem Eingang. Kjell und Sofi stiegen aus
ihrem Wagen. Der Beifahrer sprang aus dem Saab und öffnete die
Hintertür. Er musste von der Säpo sein. Der Justizkanzler hob sich
beschwerlich von der Rückbank. Er trug ein kariertes Hemd aus
dickem, weichem Stoff, das er schon einmal in einer
Fernsehdiskussion angehabt hatte. Da hatten die Karos auf dem
Bildschirm geflimmert, deshalb konnte Sofi sich erinnern.
Rosenfeldt sah immer ein wenig verwahrlost aus, im Gegensatz zu den
anderen Trägern hoher Staatsämter. Sofi hatte immer gerätselt, ob
er sich mit Absicht so gab, damit die Leute ihn nicht als abgehoben
betrachteten. Aber jetzt konnte sie sehen, dass an seiner
Erscheinung nichts unecht war. Das dunkelgraue Haar fiel wie immer
in dicken Strähnen. Und wie immer blickte Rosenfeldt traurig drein.
Ihm fehlte all das Souveräne und Hochmütige, das Politiker und
Juristen sonst an sich hatten. Kjell hatte Sofi aufgetragen,
Rosenfeldt genau zu betrachten, während er in kargen Worten
darlegte, was am Vorabend geschehen war. Als er von der Vermutung
sprach, dass jemand in die Wohnung eingedrungen sein könnte, um
Josefin aus dem Fenster zu stürzen, verzogen sich die Augenbrauen
des Mannes. Offenkundig hielt er den Gedanken für abwegig, es mit
einem Mord oder gar einem Attentat zu tun zu haben.
»Hältst du es denn für möglich, dass sie gesprungen
sein könnte?«, fragte Sofi, obwohl sie ja eigentlich nichts sagen
sollte.
»Das weiß man doch nie«, antwortete er mit leiser
Stimme. Die klang immer ein wenig brüchig. Rosenfeldt sprach nie
ohne Zweifel. »Ich sehe keinen Grund, weder in ihr noch außen, aber
so etwas kommt doch immer aus einer Tiefe, in die man auch als
Vater nicht blicken kann.«
Sofi hatte seit dem gestrigen Abend alles über ihn
zusammengetragen, was sie finden konnte. Rosenfeldt war 52 Jahre
alt und in Eskilstuna geboren. Schon kurz nach seinem Studium in
Uppsala war er beim Justizministerium gelandet. Als Ressortleiter
hatte er an zahlreichen Gesetzgebungen mitgewirkt, und wo immer er
seine Hand im Spiel hatte, wollte er verhindern, dass Konstrukte
wie der Staat sich am Leben vergriffen. Man konnte also behaupten,
dass seine Karriere von Anfang an auf sein jetziges Amt als
Justizkanzler hinausgelaufen war. Sofi fand, dass er es ideal
verkörperte. Dort war er nämlich dafür zuständig, dass Behörden
kein Unrecht an den Bürger begingen. Die Polizei gehörte auch dazu.
Im Frühling war es zum Eklat gekommen. Rosenfeldt behauptete, die
Polizei jongliere zu locker mit Zeugenaussagen und Geständnissen,
wenn sie jemand für schuldig halte, dies aber nicht beweisen könne.
Aus ihrer Zeit in Norrmalm wusste Sofi, was er damit meinte. Als
Erste hatte Agneta Norrbäck, die Chefin der Polizei von Stockholm,
sich offiziell dazu zu Wort gemeldet. Dies sei eine haltlose
Behauptung. Sten Haglund, der Reichskriminalchef, hatte am
darauffolgenden Tag in einer anderen Zeitung nachgelegt, der JK
solle Beweise vorlegen oder wahlweise die Klappe halten. Natürlich
war es ganz und gar unmöglich, diese Behauptung zu beweisen. In den
folgenden Tagen übernahmen der Chef des Polizeiverbandes und im
Anschluss noch weitere Polizeivertreter den Staffelstab. Dann
schwiegen alle mit einem Schlag, und die Sache war erledigt. Diese
Taktik wurde »Schwedische Mauer« genannt. Einer nach dem anderen
zeigte sich empört und tat, als wüsste er gar nicht, wovon der
Justizkanzler da redete. Dabei war alles genau abgesprochen
gewesen. Schließlich lobten einige Journalisten Rosenfeldts
Courage. Damit war die Sache noch vor dem Urlaub aus der Welt
geschafft.
Der Justizkanzler hatte aber noch viel mehr
Kompetenzen, um sich Feinde zu schaffen. Rosenfeldt überwachte alle
Juristen, die Richter und die Anwälte. Auch hier hatte er schon das
ein oder andere Spektakel ausgelöst. Zwei Richter und eine Latte an
Anwälten durften ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Doch all dies waren Gegner, die sich ihren Weg in
der Regel nicht durch Mord freiräumten. Rosenfeldt hatte sich aber
noch weitere Feinde gemacht, die sich aus seiner Aufgabe ergaben,
die Meinungs- und Pressefreiheit in Schweden zu gewährleisten. Dort
hatte er die Säpo gegen sich aufgebracht, die gerne die eine oder
andere Internetseite provisorisch stilllegen ließ. Niemand wusste,
was die Säpo in Wahrheit mit ihren Feinden machte, aber seit den
Morden an Palme und Lindh dachte jeder zunächst an das Schlimmste.
Der JK sorgte auch dafür, dass die Pressefreiheit nicht missbraucht
wurde. Mehrmals hatte Rosenfeldt kurdische und
nationalsozialistische Zeitungen und Flugblätter beschlagnahmen
lassen.
Es gab also nur zwei Gruppen, die Rosenfeldt
liebten, die Bürger Schwedens und die Journalisten. Das waren
beruhigend viele Menschen, aber ausgerechnet dem Rest war alles
zuzutrauen. Und er war so groß, dass eine junge Polizeiassistentin
unruhig werden konnte, wenn sie an ihren in acht Tagen beginnenden
Urlaub und ihre großen Pläne dafür dachte.
Zu dritt betraten sie das Gebäude und folgten dem
langen Gang. Es erstaunte Sofi, dass Lennart Rosenfeldt jetzt noch
so viel Haltung bewahren konnte. Ohne seinen Titel wäre Sten
Haglund nur ein strenger Opa gewesen, fand Sofi, Rosenfeldt
hingegen blieb auch jetzt derselbe. Er verhielt sich in seinen
Gesten nur besonders aufmerksam und sogar freundlich. Dahinter
vermutete sie Hilflosigkeit, wie sie viele Menschen in einer
solchen Lage befiel.
Am Ende wartete Suunaats Stille auf ihn. Ihr
grönländisches Gesicht hatte etwas ganz und gar Elementares und
passte gut hierher. Da standen sich zwei wahrhaftige Menschen
gegenüber. Sie wäre gern auch so gewesen, wünschte Sofi sich, aber
nur für einen Augenblick, denn dann behauptete Lennart Rosenfeldt,
dass er die Tote noch nie gesehen habe.