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»Habt ihr verschlafen? Es ist fast Mittag.«
So wurden sie von Sesselja Ragnarsdóttir empfangen.
Ihr Schwedisch klang, als schlüge der Blitz in eine Birke ein. Eine
Schönheit war Sesselja Ragnarsdóttir mit ihrem runden Gesicht
nicht. Die Haut war von einer lebenslänglichen Blässe, durch die
man an den Innenarmen türkisfarbene Äderchen schimmern sah. An den
Stellen, die an Tagen der Freiheit der Sonne ausgesetzt gewesen
waren, leuchtete ihre Haut ein wenig orange. Es gab an ihr
überhaupt nichts Dunkles, ihre Haare waren licht und ihre Augen
saphirblau.
Kjell griff instinktiv nach der Thermoskanne und
goss die beiden leeren Tassen voll. Zum Glück war es Kaffee. Sofi
kramte in ihrer Tasche und legte einen Block, einen Stift und ihren
Rekorder auf den Tisch. Sesselja Ragnarsdóttir verfolgte das
Treiben interessiert.
»Was wollt ihr eigentlich hier?«
Kjell nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Der
Kaffee schmeckte bitter. Die Frau schien jetzt abzuwägen, ob es
sich hier um eine geschickte Verhörtaktik handeln konnte, dabei
plante Kjell eine schlichte Befragung. Sesselja Ragnarsdóttir
gehörte zu den Menschen, die den Eindruck erweckten, als wüssten
sie alles und könnten alles durchschauen. Eines wusste sie jedoch
noch nicht. Sie wusste nicht, dass das tote Mädchen nicht Josefin
war.
»Wie kommst du darauf, dass wir verschlafen
haben?«
Sie zeigte auf den schwarzen Kaffee in seiner
Tasse.
»Wie ist dein Anwalt?«
»Er ist nicht mal schlecht. Was auch kein Wunder
ist, denn die Stümper werden alle als Isländer geboren.«
Sofi lächelte irritiert.
Sesselja musterte Sofi. »Du hast deine Tochter
mitgebracht.«
»Glaube kaum«, sagte Kjell und nippte von seinem
Kaffee. »Meine Tochter würde in den Ferien nicht vor dem
Mittagessen aufstehen.«
»Bist du Schwedin?«
Sofi nickte.
»Siehst gar nicht aus wie eine.«
Sofi griff reichlich unsouverän nach ihrer Tasse.
»Ein Braunbär hat meine Mutter beim Pilzesammeln vergewaltigt«,
sagte sie nach zwei Schlucken.
Sesselja war für einen Augenblick sprachlos, so wie
Kjell. Dann lachte Sesselja laut. Ihr Lachen war tief und
rasselte.
»Warst du schon einmal in Untersuchungshaft?«,
fragte Sofi. »Weil du so viel über Anwälte weißt.«
»Ich war schon zweimal in Untersuchungshaft. In
Island.«
»Zweimal? Warum?«
»Was weiß ich! Das ist die einzige Möglichkeit, wie
sie dort die Leute dazu bringen können, nicht sofort
auszureisen.«
Sesselja konnte alles auf Schwedisch sagen, auch
wenn ihre Sätze lauter Wortstellungsfehler enthielten.
»Sesselja«, versuchte Kjell es in väterlichem Ton.
Er hatte mal irgendwo gelesen, dass die Isländerinnen alle auf ihre
Väter fixiert waren. »Du bist Ausländerin, und es handelt sich um
ein Verbrechen, auf das mehr als zwei Jahre Gefängnis stehen. Wir
mussten deshalb Haft beantragen, bis wir etwas finden, das dich als
Täterin ausschließt. Alles, was Sofi und ich tun, hilft dir, so
schnell wie möglich entlassen zu werden. Du willst ja bestimmt
auch, dass dein Leben wieder weitergeht.«
Sesselja trank den letzten Schluck aus ihrer Tasse,
löste aber nicht den Blick von ihm. Dann stellte sie die Tasse
behutsam ab. »Dauðir eru dauðs manns vinir.«
Kjell schwieg und wartete auf die Übersetzung.
Sesselja öffnete ihre Hände. Ihr Alter ließ sich richtiger an ihren
Fingern als ihrem Gesicht ablesen. Sie wurde bald dreißig und
wollte nichts übersetzen.
»Erzähl mir, was du in Island gemacht hast und wie
es dich zu uns nach Stockholm verschlagen hat.«
»Ich fange gleich in Schweden an, ja? Island ist
nicht der Rede wert.«
»Immerhin bist du von dort und hast ein
Vierteljahrhundert dort gelebt.«
»Ich habe dort Medizin studiert, zwei Jahre in der
Notaufnahme vom Landspítali und bei Stígamót gearbeitet, hatte vier
Männer, alles Schlappschwänze, Säufer oder beides, hatte eine
Abtreibung und dann bin ich nach Schweden. Island bot mir keine
Möglichkeiten mehr, mich weiter zu entfalten.« Sie grinste.
»Hier kannst du es offenbar.« Ihm kam immer mehr
der Verdacht, dass er auf dieses Zusammentreffen nicht optimal
vorbreitet war. Anscheinend hatte ihr der Vater in der Pubertät zu
wenig Angriffsfläche geboten. Kjell war froh, dass er nicht dabei
gewesen war.
»Stiechamout?«, fragte Sofi.
»Da kannst du anrufen, wenn du mal von einem
Eisbären vergewaltigt wirst.« Sie lachte wild.
Sofi reagierte nicht darauf und machte sich eine
Notiz. »Werde ich mir merken.«
»Nach meiner Flucht hierher habe ich zuerst zwei
Tage in der Notaufnahme vom Söder zur Probe gearbeitet. Dort habe
ich knapp fünfzig Jungschweden und Jungschwedinnen den Magen
ausgepumpt. In Stockholm schaut ja jeder zwischen dreizehn und
zweiundzwanzig Jahren am Wochenende mal zum Magenauspumpen in der
Notaufnahme vorbei.«
»Manche trinken gern mal was am Wochenende«,
bemerkte Kjell. Er wollte Sesselja gerne einmal beim Arbeiten
zusehen. Sie war bestimmt gut im Wiederbeleben. Sie hätten die
Ärzte nicht so drängen sollen, Sesselja für verhörfähig zu
erklären. Die Kaffeekanne war leer gewesen, nachdem er die beiden
Tassen eingeschenkt hatte. Sesselja musste die anderen zehn Tassen
getrunken haben, während sie gewartet hatte. Deshalb war sie
bestimmt so.
»Wisst ihr, was euch Schweden fehlt?«
»Tankstellen«, sagte Sofi, ohne vom Block
aufzublicken. »Innerhalb der Zollgrenzen gibt es fast keine. Ich
muss immer nach Gröndal.«
»Du fährst nach Gröndal zum Tanken?«, staunte
Kjell.
Sofi nickte. »Ja. Immer nach Gröndal.«
»Warum fährst du nicht in die Unterirdische am
Slussen oder unten bei der Folkungagatan. Da hast du es doch nicht
weit.«
»Mach ich auch manchmal.« Sofi notierte sich
Slussen auf ihren Block und unterstrich es zweimal.
»Das ist typisch für euch«, mischte sich Sesselja
ein. »Genau so seid ihr. Euch fehlt ein verlorener Krieg oder
wenigstens eine Hungersnot. Das hat euch zu chauvinistischen
Ignoranten gemacht.«
Kjell wollte jetzt gerne auf einer Wiese im
Schatten liegen, kitzelnde Grashalme spüren und den Hummeln
lauschen, und Sofi wollte das bestimmt auch. Wie Sesselja wohl zu
anderen Zeiten war? Er entwickelte eine Ad-hoc-Theorie, warum die
Männer in ihrem Leben alle mit dem Trinken begonnen hatten.
Bestimmt lagen harten Wochen hinter ihr. Und jetzt entluden sie
sich. Er schüttelte den Kopf.
»Da siehst du’s«, sagte Sesselja.
Kjell sah, wie Sofis Stenostriche sich verdickten,
weil sie so fest aufdrückte. Das konnte beim Abtippen später große
Konfusion verursachen.
»So wie ihr, die Isländer«, erwiderte Kjell.
»So wie wir, aber Chauvinisten sind wir nicht. Wir
sind nur Schlappschwänze.«
Sofi grinste, ohne aufzuschauen. Kjell schloss die
Augen. Doch als er sie wieder aufmachte, war er immer noch in
dieser Barbarenrede gefangen. Die römischen Geschichtsschreiber
ließen den soeben besiegten Barbarenfürsten im Anschluss an die
Schlacht immer noch eine zweistündige Rede vor versammelter
Mannschaft halten. Dabei legte der Geschichtsschreiber all seinen
Groll auf Rom in den Mund des Barbaren, weil es ihn als Römer nicht
anders zierte. Ein mäßig talentierter Geschichtsschreiber musste
diese Rede hier verfasst haben.
Sofi sah auf. »Sesselja. Ich verstehe, dass du
traurig bist. Wir haben das Mädchen heute Morgen gesehen, und uns
geht es auch nicht gut. Du musst uns jetzt helfen. Wir brauchen
dich, um herauszufinden, was passiert ist, verstehst du?«
Sesseljas suchende Augen und ihr ganz auf
Wahrnehmung ausgerichtetes Gehirn erstarrten von einer Sekunde auf
die andere. Sie bewegte sich nicht mehr und saß minutenlang
schweigend da. Tränen kamen und tropften irgendwann von ihrem Kinn
herab. Das befreiende Vorspiel war hier zu Ende.