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Auf dem Weg zum Haupteingang wischte Henning
Larsson mit dem Handrücken über seine verschlafenen Augen. Auf der
Fahrt von Huddinge nach Solna hatte leichter Regen eingesetzt. Der
kurze Schlaf und die verschwommenen Scheinwerfer der
entgegenkommenden Fahrzeuge hatten ihm ganz hinten in seinem
Schädel dröhnende Kopfschmerzen beschert. Dann knallte er auch noch
beinahe gegen die Glastür, die sich zu ungewohnter Nachtzeit nicht
von allein öffnete. Henning polterte mit der Faust gegen die
Scheibe und sah durch das Glas in das Foyer, aber da war niemand.
Er suchte die Nachtklingel und drückte dreimal. Während er wartete,
legte er den Kopf in den Nacken und massierte seine Schultern. Ich
muss mir dringend ein dickeres Kopfkissen kaufen, sagte er sich.
Feuchtigkeit legte sich von oben wie ein Schleier auf sein Gesicht.
Henning verharrte noch einen Augenblick und rieb sich dann mit den
Handflächen über seine feuchte Stirn und die Wangen. Hinter seinem
Rücken öffnete sich die Tür mit einem Rattern.
»Inspektor Larsson?«
Der offene Kittel wehte über dem pflaumenblauen
Pullover der Nachtschwester. Sie war nicht älter als fünfundzwanzig
und musste aus Indien stammen. Henning ging nickend auf sie zu und
folgte ihr ins Innere.
»Kann ich eine Schmerztablette haben?«, fragte er
ihren Rücken, als er ihr durch den Gang folgte. Sie blieb stehen,
zog schlagfertig einen Streifen Pillen aus der Tasche und drückte
eine davon aus der Verschweißung in seine ausgestreckte Hand. Beim
Weitergehen glaubte er, sie leise summen zu hören. Aber sie hatte
bereits die elektrische Metalltür betätigt, bevor er sich ganz
sicher war. Im Obduktionssaal zwei brannten alle Lampen, die es
darin gab. Fünf Personen sahen auf, als Henning eintrat. Ganz
hinten erblickte er Suunaat und zwei weitere Ärzte. Am Tisch davor
standen Sten Haglund und die namenlose Gunnar-Ermittlerin über den
Obduktionstisch gebeugt. Er war bedeckt mit großen Fotos und
Papieren. Sten kam auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. Er
hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die rote Krawatte
über die Lehne des Stuhls gelegt. Es musste schon vier Uhr in der
Nacht sein, dass Sten diesen Schritt wagte. Vor drei Uhr hätte er
die Krawatte bestimmt nicht abgenommen.
Statt etwas zu sagen, pustete er Luft aus und
machte eine einladende Geste in die Tiefe des Raumes.
»Kaffee?«
»Soviel ihr habt«, antwortete Henning.
Im Saal war eine Reihe unkonventioneller
Umgestaltungsmaßnahmen vorgenommen worden, die nahelegten, dass das
Beisammensein schon länger dauerte. Einer der Rollwagen war zu
einem mobilen Büffet umgebaut worden. Hinter der geschlossenen Tür
wurde eine Klospülung betätigt. Per Arrelöv trat aus der Toilette
und hob die Hand zu seinem üblichen Tyrannengruß. Sein feines,
meliertes Haar oszillierte nach allen Seiten. Das geschah immer,
wenn Per sich energetisch dem Ende seiner Möglichkeiten
näherte.
Henning deutete auf die Leiche auf dem hinteren
Tisch. »Ist das der Tote aus dem Park?«
Alle nickten. Per und die beiden Ärzte schlurften
auf den Büffetwagen zu und füllten ihre Tassen. Nur die
Untergrundermittlerin war offensichtlich wegen eines kürzlichen
Motivationsschubs vor Müdigkeit gefeit. Alle fanden sich mit ihren
Tassen um den Bürotisch ein.
»Wir haben hier die Morde zusammengestellt, die wir
der Gunnar-Bande zurechnen können«, begann Sten und deutete auf die
Fotos. Auf allen war eine Leiche in situ zu sehen, und auf allen
war die Leiche in blaue Plastikfolie eingewickelt und mit Klebeband
verschnürt.
»Das hier sind die In-situ-Bilder von heute
Vormittag«, sagte Sten.
Die Verschnürung sah ziemlich gleich aus.
»Hingen die anderen auch kopfüber an einem Baum?«,
fragte Henning.
»Nein«, sagte die Ermittlerin. »Jedesmal ist es
anders. Wir können kein Schema erkennen.«
»Kann ein spontaner Einfall gewesen sein«, sagte
Per. Seine Stimme klang belegt und dünn. »Sie haben ein
Abschleppseil benutzt.«
»Auch die Todesursache variiert. In diesem Fall
wurde das Opfer mit einem Elektroschocker und einem Stahlrohr außer
Gefecht gesetzt. Neu ist, dass er verschnürt wurde, bevor er
starb.«
»Durch einen Sturz aus zwölf Metern Höhe«, krächzte
Per. »Gleiche Flugbahn. Man kann von einem gelungenen Remake
sprechen.«
»War der Tote bei Bewusstsein?«
»Ja«, antwortete Suunaat mit grönländischer
Knappheit.
»Dann kann das als Beweis gelten, dass unsere Tote
aus der Sigtunagatan gestoßen wurde.«
»Da kannst du sicher sein. Der Tote hier ist etwa
dreißig Jahre alt und südosteuropäischer Herkunft.«
»Aber die Identität ist völlig unklar, ja?«
»Es ist Aisakos«, sagte Sten ohne jeden
Zweifel.
Henning kratzte sich am Ohr. »Aisakos? Hatte der
seinen Mitgliedsausweis vom südosteuropäischen Lyrikerverband in
Tasche stecken?«
»Kann man so sagen. Schau es dir an.«
Sie gingen geschlossen hinüber zum anderen Tisch,
wo die Leiche des Toten lag.
»Ihr habt ja noch nicht mal angefangen mit der
Obduktion.«
»Wir haben geröntgt«, sagte einer der Ärzte. »Da
gibt es keinen Zweifel an der Todesursache.«
Henning beugte sich über den Brustkorb des Toten.
Der Körper war rot und blau verfärbt, am Kopf war er vom Hängen
fast schwarz. Der Text, der mit schwarzer Farbe auf Brust und Bauch
geschrieben war, war dennoch gut zu lesen:
Er ruft. Doch keiner inmitten des
unbezwinglichen Wirbels hört sein Schreien. Die Gottheit lacht des
Tobenden. Sein Geprahl verstummt. In unendlicher Flut ermattend
schwingt er sich nicht hinaus. Der Segen vergangener Tage
zerschellt am Riff des Rechts. Und unbeklagt, ungesehen versinkt
er.