37
Auf dem Weg zum Haupteingang wischte Henning Larsson mit dem Handrücken über seine verschlafenen Augen. Auf der Fahrt von Huddinge nach Solna hatte leichter Regen eingesetzt. Der kurze Schlaf und die verschwommenen Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge hatten ihm ganz hinten in seinem Schädel dröhnende Kopfschmerzen beschert. Dann knallte er auch noch beinahe gegen die Glastür, die sich zu ungewohnter Nachtzeit nicht von allein öffnete. Henning polterte mit der Faust gegen die Scheibe und sah durch das Glas in das Foyer, aber da war niemand. Er suchte die Nachtklingel und drückte dreimal. Während er wartete, legte er den Kopf in den Nacken und massierte seine Schultern. Ich muss mir dringend ein dickeres Kopfkissen kaufen, sagte er sich. Feuchtigkeit legte sich von oben wie ein Schleier auf sein Gesicht. Henning verharrte noch einen Augenblick und rieb sich dann mit den Handflächen über seine feuchte Stirn und die Wangen. Hinter seinem Rücken öffnete sich die Tür mit einem Rattern.
»Inspektor Larsson?«
Der offene Kittel wehte über dem pflaumenblauen Pullover der Nachtschwester. Sie war nicht älter als fünfundzwanzig und musste aus Indien stammen. Henning ging nickend auf sie zu und folgte ihr ins Innere.
»Kann ich eine Schmerztablette haben?«, fragte er ihren Rücken, als er ihr durch den Gang folgte. Sie blieb stehen, zog schlagfertig einen Streifen Pillen aus der Tasche und drückte eine davon aus der Verschweißung in seine ausgestreckte Hand. Beim Weitergehen glaubte er, sie leise summen zu hören. Aber sie hatte bereits die elektrische Metalltür betätigt, bevor er sich ganz sicher war. Im Obduktionssaal zwei brannten alle Lampen, die es darin gab. Fünf Personen sahen auf, als Henning eintrat. Ganz hinten erblickte er Suunaat und zwei weitere Ärzte. Am Tisch davor standen Sten Haglund und die namenlose Gunnar-Ermittlerin über den Obduktionstisch gebeugt. Er war bedeckt mit großen Fotos und Papieren. Sten kam auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die rote Krawatte über die Lehne des Stuhls gelegt. Es musste schon vier Uhr in der Nacht sein, dass Sten diesen Schritt wagte. Vor drei Uhr hätte er die Krawatte bestimmt nicht abgenommen.
Statt etwas zu sagen, pustete er Luft aus und machte eine einladende Geste in die Tiefe des Raumes.
»Kaffee?«
»Soviel ihr habt«, antwortete Henning.
Im Saal war eine Reihe unkonventioneller Umgestaltungsmaßnahmen vorgenommen worden, die nahelegten, dass das Beisammensein schon länger dauerte. Einer der Rollwagen war zu einem mobilen Büffet umgebaut worden. Hinter der geschlossenen Tür wurde eine Klospülung betätigt. Per Arrelöv trat aus der Toilette und hob die Hand zu seinem üblichen Tyrannengruß. Sein feines, meliertes Haar oszillierte nach allen Seiten. Das geschah immer, wenn Per sich energetisch dem Ende seiner Möglichkeiten näherte.
Henning deutete auf die Leiche auf dem hinteren Tisch. »Ist das der Tote aus dem Park?«
Alle nickten. Per und die beiden Ärzte schlurften auf den Büffetwagen zu und füllten ihre Tassen. Nur die Untergrundermittlerin war offensichtlich wegen eines kürzlichen Motivationsschubs vor Müdigkeit gefeit. Alle fanden sich mit ihren Tassen um den Bürotisch ein.
»Wir haben hier die Morde zusammengestellt, die wir der Gunnar-Bande zurechnen können«, begann Sten und deutete auf die Fotos. Auf allen war eine Leiche in situ zu sehen, und auf allen war die Leiche in blaue Plastikfolie eingewickelt und mit Klebeband verschnürt.
»Das hier sind die In-situ-Bilder von heute Vormittag«, sagte Sten.
Die Verschnürung sah ziemlich gleich aus.
»Hingen die anderen auch kopfüber an einem Baum?«, fragte Henning.
»Nein«, sagte die Ermittlerin. »Jedesmal ist es anders. Wir können kein Schema erkennen.«
»Kann ein spontaner Einfall gewesen sein«, sagte Per. Seine Stimme klang belegt und dünn. »Sie haben ein Abschleppseil benutzt.«
»Auch die Todesursache variiert. In diesem Fall wurde das Opfer mit einem Elektroschocker und einem Stahlrohr außer Gefecht gesetzt. Neu ist, dass er verschnürt wurde, bevor er starb.«
»Durch einen Sturz aus zwölf Metern Höhe«, krächzte Per. »Gleiche Flugbahn. Man kann von einem gelungenen Remake sprechen.«
»War der Tote bei Bewusstsein?«
»Ja«, antwortete Suunaat mit grönländischer Knappheit.
»Dann kann das als Beweis gelten, dass unsere Tote aus der Sigtunagatan gestoßen wurde.«
»Da kannst du sicher sein. Der Tote hier ist etwa dreißig Jahre alt und südosteuropäischer Herkunft.«
»Aber die Identität ist völlig unklar, ja?«
»Es ist Aisakos«, sagte Sten ohne jeden Zweifel.
Henning kratzte sich am Ohr. »Aisakos? Hatte der seinen Mitgliedsausweis vom südosteuropäischen Lyrikerverband in Tasche stecken?«
»Kann man so sagen. Schau es dir an.«
Sie gingen geschlossen hinüber zum anderen Tisch, wo die Leiche des Toten lag.
»Ihr habt ja noch nicht mal angefangen mit der Obduktion.«
»Wir haben geröntgt«, sagte einer der Ärzte. »Da gibt es keinen Zweifel an der Todesursache.«
Henning beugte sich über den Brustkorb des Toten. Der Körper war rot und blau verfärbt, am Kopf war er vom Hängen fast schwarz. Der Text, der mit schwarzer Farbe auf Brust und Bauch geschrieben war, war dennoch gut zu lesen:
Er ruft. Doch keiner inmitten des unbezwinglichen Wirbels hört sein Schreien. Die Gottheit lacht des Tobenden. Sein Geprahl verstummt. In unendlicher Flut ermattend schwingt er sich nicht hinaus. Der Segen vergangener Tage zerschellt am Riff des Rechts. Und unbeklagt, ungesehen versinkt er.
Die Falsche Tote
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