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Kjell riss beherzt die Tür auf und trat in
Verhörraum drei, mit nichts anderem als dem zusammengerollten
Plakat in der Hand und ein paar flüchtigen Ideen im Kopf. Zuerst
fragte er sich, ob der schwarze Pullover wirklich ihr gehörte.
Amelie hatte ihn schon im Haus getragen. Kjell nahm ihr gegenüber
Platz und rollte das Plakat auf.
»Wir möchten alles über die Vierte Schwesternschaft
von dir wissen«, sagte er.
Amelie Heidvall schnaufte auf eine Weise durch die
Nase, die der von Linda in solchen Situationen ganz ähnlich war.
»Das hat nichts mit der Sache zu tun«, behauptete sie nach vier
Sekunden.
Sie war schnell im Denken, vielleicht, weil sie so
entschieden war. Das hatte er ihr schon im Haus angesehen. Dass die
Dinge ihr so früh klar waren, wurde ihr jetzt zum Verhängnis. Was
für eine glückliche Fügung, erkannte Kjell. Weil Sofi und er so
überrascht gewesen waren, einen hohen Richter zu finden, hatten sie
ihre Aufmerksamkeit im Haus ganz auf ihn gerichtet. Amelie war
gelassen dagesessen und hatte genau beobachtet. Und daraus die
falschen Schlüsse gezogen.
»Es ist genau umgekehrt«, erwiderte Kjell, obwohl
er das noch nicht mit Sicherheit wissen konnte. »Ahnlund hat nichts
mit der Sache zu tun. Ich möchte von dir wissen, was diese
Schwesternschaft ist, wer dazugehört und wie viele von diesen
Plakaten existieren.«
»Vierhundert.«
Das Plakat war anscheinend nicht so wichtig,
überlegte Kjell. Wenn er doch nur diese lästige Unruhe abstreifen
könnte. Amelies Haare glänzten in dem künstlichen Licht umso
schwärzer. Das Schwarz war auch künstlich und hatte keine
Ähnlichkeit mit dem von Sofi. Im Gesicht war sie eine strenge
Schönheit, und es fiel ihr bestimmt nicht schwer, alle Männer dazu
zu bringen, an ihrer Seite unglücklich sein zu wollen.
Wahrscheinlich hatten sie all diese Faktoren ganz zielstrebig zu
ihrem jetzigen Leben geführt, die Ideologisierung und Verklärung
dieser Lebensführung war wie bei den meisten Menschen ein später
Anbau. Obwohl er sie in einem ungeschminkten Moment verhaftet
hatte, funktionierten ihre Gesten eindrucksvoll gut.
»Vierhundert Exemplare gibt es also davon, verstehe
ich dich richtig? Zu welchem Zweck?«
»Es ist ein Kunstprojekt.«
»Schon klar. Du hast dir bestimmt viel Mühe
gegeben. Ich will dennoch wissen, was dahinter steht.«
»Provokation.«
»Amelie, du solltest nicht mit mir hier allein in
diesem Raum sein, wenn ich mich richtig provoziert fühle.«
»Ich will sofort mit einem Anwalt sprechen.
Außerdem will ich wissen, was mir eigentlich vorgeworfen
wird.«
Das war jetzt ihr letztes Aufgebot.
»Der Reichsankläger hat dich als verdächtige Person
eingestuft. Wir glauben, dass du Teil einer Organisation bist, die
für die Entführung von Josefin Rosenfeldt verantwortlich
ist.«
»Josefin Rosenfeldt. Ich kenne überhaupt keine
Josefin Rosenfeldt.«
»Josefin Rosenfeldt ist die Tochter des
Justizkanzlers Lennart Rosenfeldt, und in ihrem Zimmer hängt dieses
Plakat hier. Ich will von dir wissen, wie es dorthin gekommen
ist.«
Sten Haglund stand einen Schritt vor Barbro und
Henning ganz dicht an der Spiegelscheibe und wippte mit den Fersen
auf und nieder. Sofi saß auf dem Stuhl in der dunkelsten Ecke und
war damit beschäftigt, geräuschlos die Folie von ihrem
Schokoladenriegel zu reißen. Es war schon der zweite.
Schweigend folgten alle dem Verhör, das genau den
Verlauf nahm, den sie erwartet hatten.
»Verdammt!«, zischte Barbro leise. »Sie weiß
nichts.«
»Doch, doch«, flüsterte Henning. »Sie weiß schon
etwas. Aber sie wird es nicht so leicht preisgeben.«
Sten trat einen Schritt zurück. »Wir müssen das
heute noch herausbekommen. Ihr seid schon im siebten
Ermittlungstag. Das mit der Schwesternschaft holt ihr heute aus ihr
raus.«
Sten drehte sich zum Gehen. In der offenen Tür
wandte er sich noch einmal um. »Ach ja, Setterlind, deine
Flitterwochen mit Oskar Rosenfeldt sind ab sofort beendet. Beim
nächsten Bericht kannst du deine Sachen packen und wieder in die
neunte Klasse gehen, wo du mit Leuten deiner Reife zusammen sein
kannst. Ist das klar?«
»Ja«, antwortete Barbro wie aus der Pistole
geschossen. Sie stand reglos da, mit durchgedrücktem Kreuz.
Henning legte Barbro seine Hand auf den Rücken.
»Hast du nicht daran gedacht, dass die Säpo an ihm klebt?«
Barbro antwortete nicht und starrte durch die
Scheibe.
Henning legte jetzt den ganzen Arm um sie. »Was
machst du denn?«, brummte er.
Ihre Stimme klang hart. »Ich habe jemand gefunden,
der wie ich ist.«
»Aber Oskar ist nicht wie du.«
»Ich weiß auch nicht.«
»Barbro!«, flüsterte Sofi von ihrem Stuhl aus.
»Dein Stichwort ist gerade gefallen.«
Barbro löste sich von Henning und drückte die
Glastür auf.
Barbro ging in gerader Linie zum Tisch und setzte
sich neben Kjell. Sie öffnete die Mappe mit den Präsentationsfolien
und drehte sie in einem perfekten Schwung in Amelies
Richtung.
»Wir haben in deiner Wohnung komplette
Aufbereitungen der Presseberichte zu neunzehn Rechtsfällen aus
diesem Jahr gefunden. In all diesen Fällen geht es um sexuelle
Nötigung oder mehr. Uns ist aufgefallen, dass in all diesen Fällen
ein ungeklärtes Element in der Ermittlungskette auftritt. Du
verstehst sicherlich, wovon ich rede. In zwölf Fällen haben wir es
mit bewaffneten Überfällen auf Personen zu tun, die wegen
Sexualdelikten verurteilt oder angeklagt waren. Darüber hinaus
haben wir eine recht umfangreiche Liste von E-Mail-Adressen bei dir
gefunden. Diese hier gehört einer Siri Wardsjö aus Halmstad. Sie
steht im Verdacht, vor zwei Jahren mit drei anderen Frauen in ihrem
Alter den Naturkundelehrer ihrer Schule überfallen und dabei
verletzt zu haben. Das ist nur ein Beispiel. Wir werden uns alle
Leute auf dieser Liste ansehen, sie observieren und im Verhör
danach fragen, ob sie auch wie du als Prostituierte arbeiten. Wir
haben alle deine Freizeitfreunde aufgesucht und Anzeige gegen sie
wegen Verstoßes gegen das Prostitutionsverbot erhoben. Schönen
Abend noch!«
Barbro stand mit einem Ruck auf, raffte ihre Sachen
zusammen und verließ den Raum. Amelie war Barbros Blitzvortrag mit
eifriger Pupillentätigkeit gefolgt und beim Hinterhersehen
erstarrt, auch nachdem Barbro die Tür hinter sich geschlossen
hatte.
Kjell lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, was den
stumpfen Schmerz in seinem Rücken ein wenig linderte. Die Folgen
des Herumsuhlens auf dem feuchten Waldboden hatten sich erst auf
der Rückfahrt richtig bemerkbar gemacht.
»Amelie Heidvall, ich sage dir jetzt mal was. Wir
suchen nach Josefin Rosenfeldt. Das Plakat da hat etwas zu
bedeuten, und wir wollen wissen, was das ist. Du hast es entworfen.
Wir werden keine Ruhe geben, bis wir Josefin gefunden haben. Es ist
eine ganz einfache Erpressungssituation. Du erzählst mir alles, was
mich zu Josefin führt, dann bin ich zufrieden und mache mir ein
Bier auf. Andernfalls lasse ich von einem zehnköpfigen Team jede
Sekunde deines Lebens rekonstruieren. Etwas sagt mir, dass es dir
sehr leichtfallen wird, dich für uns zu entscheiden. Wir sehen uns
in einer Stunde.«