DIE UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNGEN

An der Gründung der Vereinten Nationen 1945 nahmen 51 Staaten teil, von Ä wie Ägypten bis V wie Venezuela. Heute hat die UNO 192 Mitgliedsländer. Bis zum Beitritt der ersten afrikanischen Staaten (Ghana und Guinea) 1960 war die Mitgliederzahl auf rund 80 gewachsen. Einen Staatenvermehrungsschub gab es in den Sechzigerjahren durch die Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien in Afrika und Asien sowie in den Neunzigern nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens.

INDISCHER NATIONALKONGRESS    Bereits 1885 war in Bombay der Indische Nationalkongress (INC) gemeinsam durch Hindus und Muslime gegründet worden. Beteiligt war daran auch Motilal Nehru, Vater von Jawaharlal Nehru und Großvater von Indira Gandhi.

Mahatma Gandhi (1869–1948) hatte noch vor den Burenkriegen in Südafrika erste politische Widerstandsaktivitäten entfaltet, weil er dort von 1893 bis 1896 als junger, in England ausgebildeter Anwalt (und aus einer hohen Kaste stammend) schikaniert worden war. Auf englischer Seite nahm Gandhi 1899 als Sanitäter am Burenkrieg teil. 1914 kehrte er endgültig nach Indien zurück und baute seinen Ashram auf. Nach dem Massaker von Amritsar am 13. April 1919, bei dem die Briten bei einer gewaltfreien Demonstration des INC Tausende von Menschen getötet und verletzt hatten, übernahm er 1920 dessen Führung.

Durch Gandhi wurde der INC zur Massenbewegung. Gandhi forderte die Inder auf, sich nicht mehr an der britischen Verwaltung Indiens zu beteiligen, britische Waren zu boykottieren und gewaltfreien, zivilen Ungehorsam zu üben. Schulen, Büros, Fabriken, Geschäfte, Verkehr, Polizei, Militär – alles wurde bestreikt und lahmgelegt. Die 100000 Briten in Indien waren schockiert. Ihnen standen 300 Millionen Inder gegenüber. Mit dem spektakulären Salzmarsch, angeführt von Gandhi, sollte 1930 das britische Salzmonopol durchbrochen werden: Inder durften kein Salz herstellen oder verkaufen und mussten auf das britische Salz Steuern zahlen. Millionen Inder gewannen aus dem Meer ihr eigenes Salz, und Zehntausende ließen sich verhaften. Erst danach signalisierten die Briten ein gewisses Entgegenkommen. 1935 wurden Wahlen zu Provinzparlamenten abgehalten und Birma 1937 zur unabhängigen Kronkolonie erhoben.

INDIEN UND PAKISTAN    Indien kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten – gegen die Zusicherung, anschließend in die Unabhängigkeit entlassen zu werden. Gandhi begann dies im Sommer 1942 einzufordern und wurde im Alter von 73 Jahren – ein weiteres Mal – für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt, was die Unterstützung für ihn nur vergrößerte. Auch sein bedeutendster Mitstreiter Jawaharlal Nehru (1889–1964) wurde bis 1945 von den Briten gefangen gehalten. Danach verhandelten Gandhi und Nehru sowie der Führer der Muslimliga Ali Jinnah mit dem letzten indischen Vizekönig Lord Mountbatten nur noch über die Modalitäten der Unabhängigkeit. Mountbatten war ein enger Verwandter der englischen Königsfamilie.

Als größter je in die Unabhängigkeit entlassene Staat erhielt Indien am 15. August 1947 seine Souveränität. Gleichzeitig wurde Pakistan abgespalten. Da die indischen Muslime fürchteten, innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung von der Mehrheit der Hindus verdrängt und überstimmt zu werden, hatten sie bereits 1906 eine eigene Muslimliga gegründet. Dies veranlasste die Briten, im Zuge der Entlassung in die Unabhängigkeit ihr indisches Kolonialreich in zwei Staaten aufzuteilen: die Indische Union und das muslimische Pakistan.

Durch die Teilung Indiens kam es zur größten Völkerwanderung in »Friedenszeiten«. Zehn Millionen Hindus und Sikhs wurden aus Pakistan und sieben Millionen Muslime aus Indien unter menschenunwürdigen Umständen vertrieben; bis zu einer Million Menschen kamen auf den entbehrungsreichen Märschen und aufgrund nackter Gewalt um.

Was danach geschah: Gandhi starb 1948 durch den Mordanschlag eines fanatischen Hindus. Nehru wurde von 1947 bis 1964 der erste Ministerpräsident Indiens und einer der am meisten respektierten Politiker seiner Zeit. Seine Tochter Indira Gandhi bekleidete dieses Amt von 1966 bis 1977 und erneut von 1980 bis 1984. Sie wurde von zwei ihrer Leibwächter ermordet und dabei von Kugeln regelrecht durchsiebt. Indira Gandhi regierte ausgesprochen autoritär, gab dem Land ein staatssozialistisches Gepräge und betrieb außenpolitisch einen antiwestlichen Kurs. Um 1970 lehnte sich die Bevölkerung Ostpakistans gegen die Zentralregierung Pakistans auf und erlangte mit indischer Hilfe 1971 die Unabhängigkeit als Bangladesch. Die Provinz Kaschmir bleibt zwischen Indien und Pakistan umstritten.

DEKOLONISATION    Als zweites bedeutendes Land in Asien wurde Indonesien 1949 als vormals niederländische Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen, nachdem der spätere erste Staatspräsident Sukarno bereits 1945 die Unabhängigkeit proklamierte hatte. In den Fünfzigerjahren begann die Dekolonisation in Afrika. Als erstes afrikanisches Land wurde Ghana (1957) unabhängig, die alte »Goldküste« Westafrikas und zuletzt eine britische Kolonie. Die letzten waren die portugiesischen Kolonien Mosambik (Juni 1975) und Angola (November 1975).

1946

VIETNAMKRIEG I    Seit 1863 war Frankreich Kolonialmacht in Indochina (Laos, Kambodscha, Vietnam) gewesen. Eine Widerstandsbewegung gegen die Franzosen unter dem jungen Gelehrten Ho Chih Minh gab es seit den Dreißigerjahren. Er gründete auch die dortige Kommunistische Partei. In den Turbulenzen des Zweiten Weltkrieges verdrängten die Japaner für kurze Zeit die Franzosen aus Indochina. 1945 rief Ho Chih Minh eine Republik aus.

Für die Franzosen war Indochina doch recht profitabel gewesen. Sie kehrten zurück, während Ho Chih Minhs »Liga für die Unabhängigkeit Vietnams«, die Viet Minh, in den Untergrund ging. Bald konnten die Franzosen ihren Indochina-Krieg nicht mehr allein finanzieren. 1954 trugen die Amerikaner bereits 80 Prozent der Kosten. Die USA sahen ihre Interessen in Asien gefährdet, weil die Viet Minh massiv von der kommunistischen Sowjetunion unterstützt wurden.

In Dien Bien Phu an der Nordwestgrenze zu Laos hatten die Franzosen eine strategisch wichtige, aber schwer zu verteidigende Militärbasis errichtet. Sie war von bewaldeten Bergflanken umgeben. Die Franzosen nahmen an, dass man hier keine Geschütze in Stellung bringen könne. Aber genau das taten die Viet Minh unter General Giap, der später auch Operationen in Nordvietnam gegen die Amerikaner leitete.

Die Franzosen wurden von der Eröffnung des Feuers Mitte März 1954 vollkommen überrascht. Nach fast zweimonatigem verzweifeltem und verbissenem Abwehrkampf mussten sie sich ergeben. Auf der Indochina-Konferenz 1954 stimmten die geschlagenen Franzosen der Teilung des Landes am 17. Breitengrad zu. So entwickelte sich ein kommunistischer Norden unter der Regierung der Kommunistischen Partei Ho Chih Minhs (Volksrepublik). Im Süden entstand eine prowestliche Republik Vietnam unter dem Präsidenten und sich zunehmend als Diktator gerierenden Ngo Diem.

1963–1975

VIETNAMKRIEG II    In der damaligen antikommunistischen Hysterie wollten die Amerikaner nach der von ihnen propagierten Domino-Theorie verhindern, dass die Nachbarstaaten ebenfalls »den Kommunisten in die Hände fielen«.

1963 spitzte sich die Lage in Südvietnam zu, wo Präsident Diem, ein glühender Antikommunist katholischen Glaubens, zunächst als Hoffnungsträger der USA galt. Dann aber eskalierte die Lage nach spektakulären Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche, die sich zunehmend von dem korrupten und diktatorischen Herrscher unterdrückt fühlten. Im November 1964 stürzte das ungeliebte Regime Diems. Von nun an führten die Amerikaner den Krieg mit eigenen Truppen gegen die Vietcong (die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams). Berüchtigt waren der Einsatz des ätzenden Brandmittels Napalm und des giftigen Entlaubungsmittels Agent Orange. Die Zahl der vietnamesischen Opfer (Militär und Zivilisten) geht in die Millionen. Die Amerikaner verloren in diesen zehn Jahren 170 Milliarden Dollar, sechs Millionen Tonnen Sprengstoff und 58000 Soldaten, ganz zu schweigen von den Verwundeten und Vermissten. 1975 mussten die letzten Amerikaner und vietnamesischen Helfershelfer gedemütigt mit Hubschraubern über das Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon evakuiert werden.

Eine ganze Generation junger Leute in den USA war traumatisiert. Dieser militärische Aufwand war nicht nur dort, sondern in der gesamten westlichen Welt umstritten. In vielen Ländern kam es zu antiamerikanischen Demonstrationen.

ab 1949

DER GROßE VORSITZENDE    Mao Tse-tung war seit der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre der maßgebliche Anführer der kommunistischen Revolution in China, jahrzehntelang der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas und 1949 Gründer der Volksrepublik China. Er führte das völlig verarmte und zerrüttete, von europäischen Kolonialmächten und Japan gedemütigte Land zu weltpolitischer Bedeutung. Wegen seiner überragenden historischen Bedeutung und jahrzehntelangen Herrschaft mit der offiziellen Bezeichnung »Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas« ist er das historische Vorbild des zum Allgemeinbegriff gewordenen »Großen Vorsitzenden«. Um seine Person entfachte Mao einen regelrechten Kult. Seine unbestrittenen historischen Verdienste erwarb Mao allerdings auch, indem er im Bürgerkrieg wie in innerparteilichen Säuberungswellen viele Millionen Menschen in den Tod trieb. Er war einer der brutalsten Gewaltherrscher des 20. Jahrhunderts, neben Hitler und Stalin.

1949

PERMANENTE REVOLUTION    Am 1. Oktober 1949 wurde nach dem Sieg der Kommunisten über die Kuomintang die größte aller »Volksrepubliken«, China, durch Mao Tse-tung begründet. Tschiang Kai-schek, der Führer der Kuomintang, gründete die »Republik China«, später als asiatischer »Tigerstaat« bekannt für »Made in Taiwan«.

Einer der wichtigsten Gedanken des »Großen Vorsitzenden« ist der von der permanenten Revolution: Die Revolution müsse immer weiter vorangetrieben werden und dürfe nicht bei einem einmal erreichten Status quo enden – wie in der Sowjetunion, fügte Mao vielleicht im Stillen hinzu. Immerhin war der Bruch mit Moskau 1960 eine seiner wichtigsten außenpolitischen Entscheidungen. Im Innern versuchte er mit immer neuen Kampagnen, den revolutionären Eifer neu zu entfachen und sich nebenbei Widersachern in der Partei zu entledigen. Um 1960 sollte mit dem »Großen Sprung nach vorn« der Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat geschafft werden. Resultat: Die Arbeitskräfte fehlten in der Landwirtschaft, die Folge war eine Hungersnot mit 20 Millionen Toten. Am bekanntesten und geradezu sprichwörtlich wurde die zehnjährige Kulturrevolution seit 1966 mit ihren aufgehetzten jugendlichen Roten Garden, die Eltern, Lehrer, Akademiker, Beamte und Betriebsleiter als »Rechtsabweichler« töteten, schlugen, verletzten und demütigten. Kulturgüter wurden massenhaft vernichtet und Kulturwissen einfach verschüttet. Die berüchtigte »Viererbande« um Maos Ehefrau leistete jeder Art von Gewaltexzessen Vorschub. Erst Maos Tod 1976 setzte dem Treiben ein Ende. Die Viererbande wurde sofort verhaftet.

Was danach geschah: Unter Deng Xiaoping (1904–1997) begann nun die innere Modernisierung Chinas. Deng war bereits vor dem Langen Marsch Funktionär der Partei und hatte alle Rückschlage und Säuberungen überlebt. Er begann eine Wirtschaftsreform und machte schrittweise die Kollektivierung der Landwirtschaft rückgängig. Dann folgte eine Liberalisierung durch Abschaffung der staatlich vorgeschriebenen Preise und die Privatisierung von Staatsunternehmen. Diesen Weg hin zur »sozialistischen Marktwirtschaft« sind seine Nachfolger weiter gegangen. Da China als Exportland unglaublich hohe Handelsüberschüsse erzielt, besitzt es mittlerweile einige der größten Staatsfonds weltweit. Die Volksrepublik China ist heute einer der größten Global Player und größter Gläubiger der USA, ganz zu schweigen von den politischen Aktivitäten und Abhängigkeiten, die es sich in den vergangenen 30 Jahren in der Dritten Welt geschaffen hat. 2008 wurden Olympische (!) Spiele in Peking ausgetragen, und das Land nimmt am Formel-1-Weltzirkus teil. Das hätten sich sicherlich weder Kaiser Ch’in noch Kaiser Pu Yi oder auch Mao jemals träumen lassen.

Wann tranken die Türken ihren Kaffee vor Wien?: Weltgeschichte - alles, was man wissen muss
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