ÄGYPTEN IM
MITTLEREN
UND NEUEN REICH
Nach dem Ende der Pyramidenzeit war die Zentralmacht des Pharaos geschwächt und die Gaufürsten waren die eigentlichen – lokalen – Herrscher. Im Grunde versank das Land am Nil um 2200 v. Chr. im Chaos. Die Bemerkung des ptolemäischen Historikers Manetho, der sehr viel später die Einteilung in Dynastien vornahm, in der 7. Dynastie hätten 70 Könige in 70 Tagen regiert, lässt ahnen, wie es zugegangen sein muss. Jene zweihundertjährige Periode von etwa 2200 bis 2000 v. Chr. wird als »Erste Zwischenzeit« bezeichnet. Doch dann, als im Süden der Balkanhalbinsel die ersten Hellenen in das Ägäisgebiet einsickerten, auf Kreta die ersten minoischen Palastanlagen entstanden und Mesopotamien von Assur aus regiert wurde, dehnten in Ägypten die Herrscher der 11. und 12. Dynastie von Theben (Karnak) ihre Macht über das ganze Niltal aus.
AMUN Mit dem Beginn des Mittleren Reiches machte die 12. Dynastie um 2000 v. Chr. ihren Lokalgott Amun (Ammon) zum Hauptgott. Amun, dessen Name »der Unsichtbare, der Verborgene« bedeutet, war bereits aus frühen Lokalkulten in sehr verschiedenen Tiergestalten bekannt. In Widdergestalt trat Amun als Fruchtbarkeitsgott auf. Als etablierter Hauptgott wurde er meist in Form eines Phallus dargestellt, auch als blauer Mensch oder als Gans. Amun verschmolz mit dem Sonnengott Re aus dem Alten Reich zum ägyptischen Reichshauptgott Amun-Re. Aufgrund dieser starken Potenz wird er im Nachhinein auch als Schöpfergott angesehen. Im Grunde blieb also Re, nun in Gestalt des Amun, der Hauptgott. Sein Tempel in Karnak war der reichste und mächtigste im Lande.
Am Amuntempel in Karnak bauten auch spätere Pharaonen, vor allem im Neuen Reich, immer weiter. Er wurde sozusagen zum Petersdom der Ägypter. Der Tempel ist eine Staatsinstitution, es gibt ja keine gesonderte »Kirche«. Der Pharao ist sein höchster Priester.
MITTLERES REICH Das Mittlere Reich war eine Phase der Einigung Ägyptens, die rund 350 Jahre anhielt, dann durch die Fremdherrschaft der Hyksos beendet wurde. Auch während jener Zeit wurden in Ägypten noch Pyramiden gebaut, allerdings im Innern nur noch mit einer Art Steinfachwerk aus Lehmziegeln. Sie zerfielen zu heute nur noch unansehnlichen Schutthügeln. Erst im Neuen Reich gaben die Ägypter den Pyramidenbau ganz auf und führten die Bestattung von Pharaonen im »Tal der Könige« ein.
1650 v. Chr.
PAPYRUS RHIND Um 1650 v. Chr. entstand die Kopie eines altägyptischen Sammelwerkes, dessen »Papier« nach seinem Entdecker benannt wurde. Der schottische Rechtsanwalt Alexander H. Rhind kaufte es 1858 in einem Basar in Luxor: Der über fünf Meter lange Papyrus Rhind enthält unter anderem Tabellen zum Bruchrechnen, eine annähernde Berechnung der Zahl π (hier 3,16) sowie Darstellungen zu geometrischen und trigonometrischen Problemen. Heute befindet sich der Papyrus im Britischen Museum in London.
1650–1550 v. Chr.
HYKSOS Nach dem Ende der 12. Dynastie war die ägyptische Zentralmacht durch Intrigen und Probleme am Pharaonenhof wieder einmal so geschwächt, dass das Land seit etwa 1700 v. Chr. sukzessive und ohne besondere kriegerische Auseinandersetzung an eine von Norden anrückende, vermutlich semitische Einwanderungsgruppe fiel, die die Ägypter Hyksos nannten. Heka-chasut bedeutete: »Fürsten der Fremdländer«.
Die Hyksos dominierten Ägypten von ihrer Hauptstadt Avaris im Nildelta aus, waren aber zunächst im Land wenig präsent. Erst als sie um 1650 v. Chr. für gut 100 Jahre die Herrschaft über das Reich der Pharaonen übernahmen, kam es zu Zerstörungen.
Die ägyptische Aristokratie arrangierte sich mit ihnen, und die Hyksos brachten ihnen Pfeil und Bogen, Pferd und Streitwagen. Dann riefen die Pharaonen Kamose und Ahmose zum Unabhängigkeitskampf auf, aus dem die ägyptische Armee nicht nur siegreich, sondern auch gestählt und motiviert hervorging. Das war die Voraussetzung für die nun folgenden Eroberungen und den Aufstieg Ägyptens zum Weltreich.
ab 1550 v. Chr.
NEUES REICH Der Abzug der Hyksos Richtung Kanaan erinnert in mancher Hinsicht an den biblisch-mythischen Auszug der Israeliten aus Ägypten. Seit Ahmose, dem Begründer der 18. Dynastie, datiert man die vierhundertjährige Epoche des Neuen Reiches von 1550 bis 1070 v. Chr. Ahmoses’ Enkel Thutmosis I. leitete zwischen 1500 und 1485 v. Chr. mit Eroberungen im nubischen Süden (heute Sudan) und in Syrien und Palästina Ägyptens Aufstieg zur Großmacht ein. Er begann mit dem Ausbau des Tempels von Karnak zu einer riesigen Anlage, was Amun als oberstem Reichsgott neue Geltung verschaffte. Eine seiner Töchter war die einzige regierende Pharaonin Hatschepsut. Thutmosis ließ sich als erster Pharao im Tal der Könige bestatten.
ca. 1460 v. Chr.
ARMAGEDDON/MEGIDDO Armageddon ist in der Bibel der Begriff für die apokalyptische Endzeitschlacht zwischen Gut und Böse (Offenbarung 16, 16). Der heute in Israel gelegene Ort Meggido wird in der Bibel mehrmals als Kriegsschauplatz erwähnt. Meggido lag an der uralten Handels- und Kriegsstraße zwischen Ägypten und Mesopotamien. Die wichtigste aller Schlachten von Meggido fällt in die Frühzeit der Herrschaft von Thutmosis III. (ca. 1480–1425). Der Pharao schlug einen Aufstand kanaanäischer Fürsten und phönizischer Stadtstaaten nieder und belagerte deren geschlagene Armee monatelang in der Festung Meggido, wohin sie sich geflüchtet und verschanzt hatten. Mit diesem Sieg festigte Thutmosis die Vormachtstellung der Ägypter im Nahen Osten. Während seiner über 50 Jahre währenden Herrschaft errichtete er eine effiziente Reichsverwaltung und die Macht der Aristokratie wurde endgültig gebrochen. Gesandtschaften aus Babylon und Hattusa brachten mit Geschenken ihre »diplomatische Anerkennung« zum Ausdruck.
Was danach geschah: Unter den Pharaonen der 18. Dynastie und besonders unter Amenophis III. erlebte Ägypten ein goldenes Zeitalter des Friedens, des Wohlstandes und der wohlgeordneten Verwaltung. Memphis war formell Regierungssitz, Theben die bevölkerungsreichste Stadt. Bereits Amenophis III. plante eine Entmachtung der Amun-Priesterschaft in Theben. Sein Sohn Amenophis IV., der sich später Echnaton nannte, setzte diese in aller politischen und spirituellen Radikalität um.
ca. 1350–1330 v. Chr.
ECHNATON Der Urenkel von Thutmosis III. wurde als Amenophis IV. inthronisiert und regierte in der sogenannten Amarna-Zeit von etwa 1350 bis 1330 v. Chr. Nach der von ihm durchgesetzten Religionsreform nannte er sich Echnaton, das bedeutet: der dem Gott Aton dient.
Durch die imperiale Ausdehnung unter Thutmosis I. und Thutmosis III. war Ägypten erstmals in intensiven Kontakt mit anderen Ländern und Völkern gekommen – und mit ganz anderen Kulten. Darunter gab es auch die eine oder andere Sonnengottheit. Klugen Ägyptern mag das zu denken gegeben haben. Darüber hinaus wurden die jahrzehntelangen Kriege in Vorderasien von den thutmosischen Soldaten auch von der alten Hauptstadt Memphis im Norden aus geführt, in deren Nähe sich das ursprüngliche Re-Heiligtum der »Sonnenstadt« Heliopolis befand. Im Vergleich zu den düsteren Kammern des »Verborgenen« Amun muteten die Tempel des Re oder Aton licht und luftig an.
Die Bevorzugung des Sonnenkultes, des Aton-Kultes, war schon von Echnatons Vater und Großvater vorbereitet worden, auch als ein politisches Gegengewicht gegen die Amun-Priesterschaft in Theben. Unter ihnen wurde Aton noch in Menschengestalt mit Falkenkopf, manchmal hinterfangen von einer Sonnenscheibe dargestellt. In der Amarna-Kunst war Aton dann die reine Sonnenscheibe, ein abstraktes Symbol. Das lässt auf eine spirituelle Vertiefung des religiösen Denkens schließen, die mit dem Pharao Echnaton persönlich in Verbindung gebracht wird. Die »gestaltlosen« Ausdrucksformen der Aton-Religion verweisen auf die intellektuell anspruchsvolle Verehrung eines einzigen göttlichen Grundprinzips wie in der strukturell ähnlichen Jahwe-Religion, die etwa gleichzeitig entstand.
In der Amarna-Zeit waren die traditionellen Kulte keineswegs verboten, sie wurden nur nicht mehr am Pharaonen-Hof bevorzugt. Das ägyptische Volk aber konnte dem Pharao auf seinen spirituellen Höhenflügen nicht folgen, sondern tanzte weiter lieber um seine goldenen Kälber, Stiere, Widder und Schakale. Umstritten ist, ob Echnaton als »Ketzerkönig« jene Andersgläubigen verfolgen und die Tempel schließen ließ.
NOFRETETE IN AMARNA Echnaton strebte nicht nur einen neuen Kult, sondern eine umfassende Reichsreform an, bei der der Erbadel zugunsten eines Dienstadels entmachtet werden sollte. Um dem Einfluss Thebens zu entgehen, ließ er in wenigen Jahren Bauzeit eine riesige Residenzstadt aus dem Wüstenboden stampfen. Amarna, heute: Tell-el-Amarna, lag auf halbem Weg zwischen Theben und Memphis. Die Stadt hieß eigentlich Achet-Aton (»Horizont des Aton«).
Die Amarna-Kunst von Achet-Aton ist weniger statisch-idealisierend als die sonstige ägyptische Kunst. Berühmte Reliefs zeigen das Pharaonenpaar in hauchdünne Gewänder gehüllt beim Spiel mit den eigenen Kindern. Echnatons Gattin Nofretete (»die Schöne ist gekommen«) spielte eine herausragende Rolle in der Regentschaft.
Nofretetes Kalksteinbüste wird in Berlin aufbewahrt, seit kurzer Zeit im wiederaufgebauten Neuen Museum. Gefunden wurde die Büste 1912 bei Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft im Schutt eines Lehmziegelhauses in Amarna. Nicht zuletzt wegen dieser Büste ist Nofretete eine der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte – und eine der schönsten.
Was danach geschah: Nach dem Ende der Herrschaft Echnatons und Nofretetes übernahm die Amun-Priesterschaft wieder das Regiment und verlegte die Hauptstadt zurück nach Theben. Jegliche Erinnerung an Echnaton wurde getilgt, sein Name in Inschriften gelöscht. Trotz dieser Zerstörungen ist Amarna heute eine der besterhaltenen altägyptischen Städte, eben weil sie in Vergessenheit geriet. Sie wurde erst durch die napoleonischen Truppen wiederentdeckt.
1333–1323 v. Chr.
TUTENCHAMUN Unter Echnatons Sohn Tutenchamun (er regierte 1333 bis 1323 v. Chr.) wurde der traditionelle Reichskult des Amun-Re umgehend wiederhergestellt. Sein Name bedeutet: »Lebendes Abbild des Amun«. Eine archäologische Sensation – die Auffindung seines beinahe unversehrten Grabes 1922 durch Howard Carter – machte den eigentlich unbedeutenden, jung verstorbenen König zu einer der berühmtesten Gestalten der ägyptischen Geschichte. Kurz nach Tutenchamun endete die 18. Dynastie.
ab 1300 v. Chr.
RAMSESSIDEN Mit Ramses I. beginnt um 1300 v. Chr. die 19. Dynastie und damit der letzte Höhepunkt des pharaonischen Ägypten. Die meisten Pharaonen tragen nun den Namen Ramses, ägyptisch Ramesesu (»Re hat ihn geboren«). Innenpolitisch sind Ramses I. und Sethos I. vor allem noch damit beschäftigt, die Erinnerung an Echnaton auszulöschen. In die Herrschaftszeit von Sethos I. fällt der Bau der großen Säulenhalle im Tempel von Karnak und sein gewaltiger Totentempel in Abydos. Sethos war der Vater von Ramses II. Etwa die Hälfte aller erhaltenen altägyptischen Bauwerke stammt aus der Zeit dieser beiden Pharaonen.
Ramses II. herrschte ungefähr von 1290 bis 1220 v. Chr. Gleich zu Beginn seiner langen Regierungszeit bestritt er um 1275 v. Chr. die Schlacht von Kadesch gegen die Hethiter, in der die Ägypter nur knapp einer Niederlage entgingen. Daraufhin schwenkte Ramses bewusst auf eine Friedenspolitik ein und ließ auf allen größeren Tempeln Darstellungen anbringen, wie er die übermächtigen Feinde besiegte. »Kadesch« war in Ägypten allgegenwärtig, und Ramses präsentierte sich als Hüter und Verteidiger der Weltordnung. Das berühmteste Bauwerk jener Epoche ist der Felsentempel von Abu Simbel (altägyptisch Ibschek), der in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wegen des Baus des Assuan-Staudamms 64 Meter höher gelegt wurde.
Bereits zur nachfolgenden 20. Dynastie gehörte Ramses III. (ca. 1190–1150 v. Chr.). In dessen Regierungszeit fielen die Seevölker in den gesamten Ostmittelmeerraum ein, was letztlich für Ägypten den Verlust seiner Großmachtstellung bedeutete.
um 1200 v. Chr.
SEEVÖLKERSTURM Die Heimsuchung durch die »Seevölker« um 1200 v. Chr. ist das einschneidendste Ereignis der altantiken Geschichte. Auch Ägypten ist davon betroffen. Weil man aber nicht weiß, wer diese Seevölker eigentlich waren, handelt es sich auch um eines der umstrittensten Ereignisse. Klar ist nur, dass sämtliche Küsten rund um das Ostmittelmeer aufs Stärkste in Mitleidenschaft gezogen wurden: Troja erlebte eine verheerende Zerstörung. Diese gilt als der »historische Hintergrund« der Sage vom Trojanischen Krieg. Die bronzezeitliche mykenisch-minoische Palastkultur ging völlig unter, auch auf Kreta. Das Reich der Hethiter wurde ausgelöscht. Assur und Ägypten gerieten ins Wanken. Die altorientalische Welt der vier bronzezeitlichen Großmächte zerbrach.
Nicht nur der Alte Orient, die gesamte vorderasiatisch-europäische Welt erlebte nach 1200 v. Chr. einen Umbruch: Im Ostalpenraum entsteht die indogermanische Urnenfelderkultur, und im Nordbalkan beginnt die Dorische Wanderung, aus der das antike Griechenland hervorgeht.
Unumstritten ist, dass in jener Zeit der sogenannten eisenzeitlichen Wanderung die indogermanischen, mit Eisenwaffen gerüsteten Philister in Südpalästina (Gaza) auftauchen und sich dort festsetzen. Auch die israelitischen Stämme wandern unter Gewaltanwendung in Kanaan ein. Ägypten verliert seine Vormachtstellung im Nahen Osten. Nur die Invasion der Seevölker in das Nilland selbst konnte gerade eben abgewendet werden. Ob es sich bei dem Seevölkerangriff um eine indogermanische Invasion vom Balkan oder gar aus Mitteleuropa, um mykenische Aggression, epidemische Seeräuberei oder eine Kombination dieser Faktoren handelte, ist bis heute ungeklärt.
Was danach geschah: Im letzten Jahrtausend vor der Zeitenwende dämmerte Ägypten – geschwächt, wenngleich äußerlich unangetastet – nur noch vor sich hin. 662 v. Chr. eroberten die Neu-Babylonier unter Nebukadnezar kurzzeitig das Land, bevor um 550 v. Chr. eine letzte Selbstständigkeit und ein reger Austausch mit den Griechen und Ioniern folgte. Die Griechen, damals relative Neuankömmlinge in der Ostmittelmeerwelt, bewunderten die jahrtausendealte ägyptische Kultur, die aber nicht mehr als eine sterbende Hülle war. 525 v. Chr. machten die Perser das Nilland zu ihrer Provinz. Persien selbst wurde 333/332 v. Chr. durch Alexander überwunden, der im Nildelta Alexandria gründete, den geistigen Mittelpunkt der hellenistischen Welt. Als seine Nachfolger regierten die makedonischen Ptolemäer Ägypten noch 300 Jahre lang erfolgreich als »Pharaonen«, mit anderen Worten: Sie passten sich der ägyptischen Kultur an. Die letzte ptolemäische Königin im »altägyptischen Stil« war Kleopatra.