NEUES DENKEN
Wegen des ungefähr gleichzeitigen Auftretens von Konfuzius, Lao-tse, Buddha und der griechischen Naturphilosophen während der Jahrhunderte um 500 v. Chr. sprach der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) in seinem 1949 erschienenen Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte von einer »Achsenzeit der Weltgeschichte«. Was will er damit sagen?
ACHSENZEIT In den bis dahin am weitesten entwickelten vier Kulturkreisen China, Indien, Orient und rund um die Ägäis traten die Vordenker auf, die die bis heute gültigen geistigen Grundlagen ihrer Kulturkreise formuliert haben. Diese Männer sorgten dafür, dass die Menschen das Nachdenken lernten und das religiöse Erleben verinnerlichten. Sie verharrten nicht mehr in einem mythischen und magischen Naturdenken, das sich in Aberglaube, Zauberei, Vielgötterei und legendenhaften kosmischen Weltentstehungssagen äußerte. Diese Traumwelt wurde nachhaltig erschüttert. Mit Konfuzius, Buddha, Zarathustra, den Vorsokratikern und den biblischen Propheten erlangten die Menschen ein Selbst-Bewusstsein, das es ihnen ermöglichte, Naturerscheinungen zu berechnen, ethische Normen aus der Rücksichtnahme auf andere zu entwickeln, die politische Gemeinschaft nach frei und selbst geschaffenen Gesetzen zu organisieren und das Göttliche nicht mehr als Teil der diesseitigen materiellen Welt, sondern als jenseitiges, immaterielles Gegenüber zu begreifen.
Natürlich verwandelte sich die Welt damit nicht schlagartig. Aber in China, Athen, Rom entstanden nun Konzepte, um das Gemeinwesen zu organisieren, mit klaren Zuständigkeiten, Machtverteilungen und Machtbegrenzungen. Beamte wurden in Rom und Athen nur noch für einen bestimmten Zeitraum gewählt, in China mussten sie ihren Amtsbereich nach einer bestimmten Zeit wechseln. Auch wenn diese Gesetze abertausendfach unterlaufen wurden – so etwas hatte es vorher nicht gegeben. Machtfragen hatte man bisher immer nur mit Gewalt gelöst. Und obwohl der Aberglaube bis heute nicht aus unserem Denken verschwunden ist – seit damals gab es eine neue Option.
6. Jahrhundert v. Chr.
LAO-TSE Wie der »Gelbe Kaiser« Huang-ti soll Lao-tse von einem Licht- oder Blitzstrahl gezeugt und gleich bei seiner Geburt der Sprache mächtig gewesen sein. Beide sind legendenhafte Gestalten, keine realen Personen der Geschichte. Lao-tse, der »alte Meister«, gilt als der bedeutendste philosophische Denker des Tao (»Weg«), einer umfassenden, tiefgründigen, weltabgewandten Welterkenntnislehre. Er betrachtete das Tao, eine lebendige Lebenskraft und zugleich eine Art »Urvernunft«, als etwas, das man erfahren muss und nicht beschreiben, geschweige denn in einem Buch festhalten kann. Rechtgeleitetes Handeln in vollendetem Pflichtbewusstsein ohne die eitle Erwartung von Reichtum und Ruhm steht im Mittelpunkt der anspruchsvoll-asketischen Ethik. Erst als Lao-tse gegen sein Lebensende in die Emigration ging, soll er seine Gedanken auf Bitten eines Grenzwächters in einem Buch in aphoristischer Form niedergelegt haben. Das Tao-te-king ist auch im Westen eines der bekanntesten Werke der chinesischen Literatur und Philosophie. In den folgenden Jahrhunderten nahm der Taoismus in China religiös-kultische Züge an – bis hin zu Aberglaube und Alchimie.
ca. 550–480 v. Chr.
KONFUZIUS Kung-fu-tse (»Meister Kung«) ist der bedeutendste praktische Philosoph und Staatsdenker Chinas. Konfuzius ist die latinisierte Form seines Namens. Er stammte aus dem Fürstentum Lu (heute in der Provinz Shandong) am Unterlauf des Gelben Flusses, einem der ältesten Zentren der chinesischen Kultur. Die Kungs waren ein altes Adelsgeschlecht; Nachfahren der Familie und von Konfuzius selbst leben noch heute. Als junger Mann hatte er niedrige Amtsstellen inne. Wegen politischer Wirren musste Kung zweimal emigrieren. So führte er ein Wanderleben durch eine ganze Reihe von kleineren Feudal-Fürstentümern. Um 500 machte Konfuzius eine Karriere in hohen Staatsämtern. Sein Lebensende fällt in die Periode der »Streitenden Reiche« (480–221 v. Chr.).
Konfuzius war wenig an metaphysischen Problemen oder abstrakten Ideen interessiert, vielmehr am Verhalten der Menschen. Seine Schüler überlieferten seine Lehre, die ganz auf Harmonie gestimmt ist: Harmonie in der Familie und Harmonie im Staat spiegeln die Harmonie des Weltganzen. Erreicht wird dies durch eine aristokratische Ethik der permanenten Selbsterziehung und Charakterbildung, die den in sich ausgewogenen, human gesinnten, aufrichtigen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dieses Ideal prägte die chinesische Kultur. Ethik und Etikette spielten in der zutiefst konfuzianisch geprägten chinesischen Gesellschaft, in der das Kollektive vor dem Individualprinzip rangiert, immer eine herausragende Rolle.
vor 221 v. Chr.
STREITENDE REICHE Auch damals war das Gesamtgebiet Chinas noch nie wirklich einheitlich regiert worden. Das große, ethnisch sehr vielfältige Land kannte nur verschiedene Königreiche und Fürstentümer mit wechselnden Hauptstädten. Die geschichtliche Epoche von der Zeit nach Konfuzius’ Tod bis zur ersten Reichseinigung 221 v. Chr. nennt man »Streitende Reiche«. Zu Beginn dieser Periode gab es ungefähr 16 »Reiche«, um 300 v. Chr. noch sieben. Erst dann einte der erste Kaiser China.
ALSO SPRACH ZOROASTER Dem Zoroaster (oder Zarathustra) war der Gott Ahura Mazda, der »weise Herr«, erschienen, der ihm ein heiliges Buch der Weisheit und des Wissens aushändigte, das Avesta. Diese Offenbarung erinnert an Moses auf dem Sinai oder an die Erleuchtung Buddhas. Ahura Mazda war ein »guter Gott«, sein Gegenspieler Ahriman der Geist des Bösen und der Finsternis.
Zoroasters Lehre war historisch die erste, die eine Gottesidee als abstraktes, rein geistiges Prinzip formulierte. Sie stellt dem Menschen frei, zwischen Gut und Böse zu wählen. Durch gute Gedanken, gute Worte und gute Taten kann dieser das Paradies erlangen. Zoroaster gelang es, den damaligen Herrscher für seine Religion zu gewinnen. Der Zoroastrismus wurde unter den Königen Kyros und Dareios I. die persische Staatsreligion.
Der zoroastrische Gut-Böse-Dualismus hat die jüdische Religion und religiöse Lehren wie den Manichäismus (gegründet von Mani 241 v. Chr.) und die Gnosis tief beeinflusst. Diese Lehren wurden zwar von den christlichen Kirchenvätern erbittert bekämpft. Aber da der Kirchenvater Augustinus in seiner Jugend selbst stark unter dem Einfluss des Manichäismus stand, finden sich davon auch Züge in der christlichen Religion, zum Beispiel im Verhältnis Gott-Satan.
Was danach geschah: Heute noch lebende und praktizierende Anhänger des Zoroastrismus sind die Parsen, eine kleine, überwiegend wohlhabende Minderheit vor allem in Indien. Bekannte Parsen unserer Zeit sind der, inzwischen verstorbene, Leadsänger von Queen, Freddie Mercury, der Dirigent Zubin Metha und der Ehemann von Indira Gandhi.
ca. 560–480 v. Chr.
BUDDHA Der legendäre oder historische indische Prinz Siddhartha Gautama (etwa 560–480 v. Chr.) stiftete eine Erlösungsreligion, die als einzige in ganz Asien Verbreitung fand, allerdings kaum in Indien.
Die heute bekannteste Ausprägung der von Buddha, dem »Erweckten« und »Erleuchteten«, begründeten Lehre ist der tibetische Lamaismus. Ähnlich wie bei Jesus gibt es von Buddha weder historische Dokumente seiner Existenz noch verbürgte direkte Äußerungen oder Berichte von echten zeitgenössischen Augenzeugen. Die legendenhafte Überlieferung setzte, ähnlich wie bei den Evangelien, etwas später ein. Danach war Prinz Gautama, geboren um 560 v. Chr., der Sohn des Radschas von Kapilavastu, eines kleinen Reiches am Fuße des Himalaja (heute im indisch-nepalesischen Grenzgebiet). Nachdem ihm die existenzielle Unausweichlichkeit von Alter, Krankheit, Leiden und Tod klar geworden war, wandte sich Gautama vom Luxusleben ab, fastete sich fast zu Tode – und erkannte, dass in der Askese kein Erlösungsweg aus dem irdischen Leiden liegt. Im Schatten eines Baumes sitzend kam ihm der Gedanke: Der Grund für den ewigen Kreislauf des Lebens mit seinen immer neuen Wiedergeburten liegt in der Begierde. Gelingt es, diese zu überwinden, kann man den Kreislauf durchbrechen, und zwar über den achtfachen heiligen Pfad: rechter Glaube, rechtes Denken, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sich-versenken. Diese Erkenntnis verkündete Gautama für den Rest seines Lebens als Wanderprediger in Nordindien.
In Antike, Mittelalter und Frühneuzeit hatte man in Europa keinerlei Kenntnis vom Buddhismus. Die erste Kunde davon kam in der Hochzeit der Entdeckungsgeschichte im 18. Jahrhundert.
ca. 625–525 v. Chr.
THALES UND DIE IONISCHEN NATURPHILOSOPHEN Um 600 v. Chr. waren Milet und Ephesos sowie die anderen Griechenstädte an der ionischen Westküste Kleinasiens schon seit Jahrhunderten in den intensiven Ost-West-Handels- und Kulturaustausch mit dem Orient eingebunden. Im eng benachbarten Lydien regierte der »Münzerfinder« und Perserherausforderer Krösus (555–541 v. Chr.). Als Thales 30 Jahre alt war, erneuerte Solon den athenischen Staat durch seine neue Verfassung (594 v. Chr.). Athen erlebte um 550 v. Chr. eine erste Blütezeit unter dem »Tyrannen« (Alleinherrscher) Peisistratos.
Thales (625–547 v. Chr.) sagte eine Sonnenfinsternis für den 23. Mai 585 voraus. Dieses Datum ist in zweierlei Hinsicht besonders markant für die Kulturgeschichte Europas. Erstens handelt es sich um eines der ganz wenigen zuverlässig datierbaren Ereignisse aus der Zeit vor 500. Zweitens wurde ein Naturereignis erstmals nicht mythologisch-religiös aus göttlichen Wirkkräften, sondern rational erklärt. Thales war auch Mathematiker (Satz des Thales) und berechnete die Höhe der Pyramiden anhand von deren Schatten.
Als Kaufmann der Handelsmetropole Milet war der vielseitige Thales weit gereist; seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse hatte er sicher im babylonisch-phönizischen »Nahen Osten« erworben. Das Wasser hielt er für den Urstoff allen Lebens. Philosophisch daran ist der Versuch, ein Urprinzip, eine grundlegende Erkenntnis oder »Wahrheit« über das Leben zu suchen – und zwar in der Natur, nicht in mythischer Überlieferung.
Thales war nicht der einzige Naturdenker im Ionien jener Zeit. Ebenfalls in Milet lebten seine Schüler und Nachfolger Anaximander (610–546) und Anaximenes (575–525 v. Chr.).
Anaximander schuf die erste Weltkarte der Griechen, auf der die damals bekannte Welt mit Europa, Asien und Libyen (Afrika) rund um das Mittelmeer angeordnet ist, umflossen vom Ozean. Nach seiner Vorstellung schwebte die Erde frei im Weltraum und der Mond empfing sein Licht von der Sonne. Thales und Anaximander versuchten sich an Erklärungen der Weltentstehung und der Grundelemente der Natur ohne göttlichen Schöpfungsakt. Sie starben fast im gleichen Jahr (547/546 v. Chr.). Noch zu ihren Lebzeiten überschritt Krösus den Halys und verlor sein Reich an den Perser Kyros II. Damit stand die neue Macht unmittelbar vor der Haustür der Griechen. Die ionischen Städte wurden tributpflichtig, blieben ansonsten aber noch unabhängig.
Weitere bedeutende Naturdenker der Zeit um 500 gingen vom Mathematiker Pythagoras (580–496 v. Chr.) aus, der neben seinem berühmten Lehrsatz die mathematischen Grundlagen der Musik, die Intervalle, entdeckte und in Unteritalien eine für die Antike ungewöhnliche Seelenwanderungslehre verkündete. Pythagoras stammte von der unmittelbar vor Ephesos gelegenen Insel Samos und wich nach Unteritalien aus, als die Perser den Druck auf die ionischen Städte verstärkten. Die Pythagoreer wussten um die Kugelgestalt der Erde.
544–483 v. Chr.
HERAKLIT: »ALLES FLIEßT« Ähnlich bedeutend wie Milet war das benachbarte Ephesos, jahrhundertelang eine Weltstadt der Antike. Aus einer Familie des ephesischen Priesteradels stammte Heraklit (544–483 v. Chr.), von dem nur Fragmente überliefert sind. Den politisch-historischen Hintergrund seines Lebens bildete die voll entbrannte griechisch-persische Auseinandersetzung, die in Marathon 490 und Salamis 480 v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte. Von Heraklit stammt der berühmte Satz »Der Streit ist der Vater aller Dinge«, was allerdings nicht auf die politische Situation gemünzt war. Heraklit gilt bis in die Gegenwart als »tiefer« Denker, der ein Urprinzip der Welt im Werden und Vergehen, in den überall zutage tretenden Gegensätzen erkennen wollte. »Alles fließt« – philosophisch und modern gesprochen ein dialektisches Prinzip. Dementsprechend sah er im Feuer ein Urbild des Kosmos. Mythologische Vielgötterei lehnte er ab.
um 450 v. Chr.
WASSER, ERDE, FEUER, LUFT Empedokles (495–435 v. Chr.) aus Agrigent (Sizilien) fasste die verschiedenen Theorien über die »Urelemente« zusammen zu der später so genannten Vier-Elemente-Lehre: Aus Wasser, Erde, Feuer und Luft sollte sich alles zusammensetzen. Der jüngste der vorsokratischen Naturphilosophen und Universalgelehrten Demokrit (460–371 v. Chr.) wiederum nahm an, die Materie bestehe aus kleinsten, unteilbaren Teilchen, die schon sein Lehrer Leukipp »Atome« genannt hatte (griechisch atomos, »unteilbar«). Demokrit stellte sich vor, dass auch die Seele aus besonders feinen Seelenatomen bestand. Das ist also schon eine recht »materialistische« Naturanschauung. Die Vier-Elemente-Lehre wurde schließlich von Aristoteles »kanonisiert«. Seither begnügte man sich auch in Europa bis in die Barockzeit mit dieser »Erklärung« der Zusammensetzung der materiellen Welt und hielt es nicht weiter für nötig, über Erscheinungen der Natur nachzudenken oder sie gar systematisch zu erforschen.