PAPST UND KAISER

Die Cluniazensische Reform war das große abendländische Projekt um die Jahrtausendwende. Von Cluny, der größten Kirche der Christenheit im Mittelalter, ist nichts geblieben, was man heute noch besichtigen könnte. Während der Französischen Revolution wurde die um 1090 im romanischen Stil erbaute Kirche gesprengt und wie ein Steinbruch für den Bau eines Pferdegestüts abgetragen. Im Mittelalter aber war Cluny eine geistige und wirtschaftliche Großmacht, ein effizient verwaltetes Mönchsimperium.

ab 910

CLUNIAZENSISCHE REFORM    Das Benediktinerkloster war 910 in Burgund gegründet worden, 100 Jahre nach dem Tod Karls des Großen und einige Jahrzehnte bevor in Frankreich die Kapetinger und in Deutschland die Ottonen die Throne bestiegen. Trotz aller kulturellen Blüte mit ihrer klösterlichen Gelehrsamkeit und herrlichen Buchmalereien aus den Schreibstuben der Benediktiner war die späte Karolingerzeit eine Verfallszeit. Klöster und Pfarreien waren käuflich, die Geistlichen zu den sprichwörtlichen »Pfaffen« herabgesunken. Cluny trat nun an, eine Bresche für eine Reform zu schlagen und zum strengen Klosterleben gemäß dem benediktinischen Ora et labora zurückzufinden.

Sein Stifter Herzog Wilhelm III. von Aquitanien machte das Kloster unabhängig von jeglichen weltlichen Einflüssen; Cluny wurde direkt dem Papst unterstellt und stieg zur geistlichen Weltmacht Europas auf.

Cluny gründete unzählige Tochterklöster, andere schlossen sich der Reformbewegung an. Schließlich gehörten 1000 Klöster mit über 20000 Mönchen zum Imperium. Cluny unterstützte die Kreuzzüge und die spanische Reconquista sowie die Ansprüche von Wilhelm dem Eroberer auf den englischen Thron. Man war hervorragend organisiert und vernetzt; die auf Reform und Steigerung ihrer Macht gegenüber den weltlichen Herren gesinnten Päpste holten sich Fachleute aus Cluny.

Cluny setzte auch Herrschern neue Ziele, indem es Befriedung, Schutz der Armen, allgemeine Wohlfahrt und die Verbreitung des Evangeliums propagierte. Im Bereich des Klosterlebens intensivierte Cluny die Frömmigkeit der Mönche durch ausgiebige Psalmengebete, lange Gottesdienste und neue, besonders feierliche liturgische Formen wie prachtvolle Prozessionen, Chorumgänge, liturgische Gesänge. Auf diesen Grundlagen konnte die Kirche im nunmehr beginnenden Hochmittelalter ihre bedeutende Stellung in Europa festigen und ausbauen. Nur zehn Kilometer entfernt von Cluny liegt heute das Zentrum des ökumenischen Männerordens von Taizé.

ZÖLIBAT    Priesterkonkubinen und -bastarde waren weder in der Bibel verboten worden noch Gegenstand der kirchlichen Dogmatik. Im orthodoxen Bereich ist die Priesterehe alltäglich. Doch nun beschädigten Auswüchse das Ansehen der Kirche. Verheiratete Kleriker vergriffen sich an Kirchengütern und vererbten diese an ihre Kinder weiter. Das alles war den strengen cluniazensischen Klerikern ein Dorn im Auge. Die Kirchendiener sollten sich dem Zölibat unterwerfen, rein und unbefleckt vor den Altar treten.

1046

SYNODE VON SUTRI    Um 1045 war das cluniazensische Denken aber noch nicht bis nach Rom vorgedrungen. Seit 15 Jahren war Papst Benedikt IX. im Amt, ein bei seiner Wahl minderjähriger römischer Adelsspross, der wegen seines ausschweifenden Lebenswandels und seiner Gewalttätigkeit selbst bei den Römern verhasst war. Deswegen wurde 1045 mit Silvester III. das Mitglied einer konkurrierenden Adelsfamilie auf den Stuhl Petri gesetzt, gleichzeitig verkaufte Benedikt sein Amt an einen gewissen Pierleoni (Preis: 1000 Pfund Silber), der als Gregor VI. zu amtieren versuchte. Derartige Possen beschädigten das Ansehen des Papsttums zutiefst. Seit karolingischer Zeit war der Papstthron in dieser oder ähnlicher Weise ein Spielball italienischer Feudalherren.

Herbeigerufen wurde der deutsche König, um dem Spuk ein Ende zu bereiten, und er erschien in der Person des Saliers Heinrichs III. Dieser setzte auf einem Konzil im mittelitalienischen Sutri die drei Prätendenten ab. Neuer Papst wurde für knapp zwei Jahre der Deutsche Suitger von Bamberg als Clemens II. Er krönte sogleich Heinrich III. und dessen Gemahlin Agnes zu Kaiser und Kaiserin. Agnes von Poitou stammte aus der Familie des Cluny-Gründers Wilhelm. Das Kaiserpaar war streng religiös im Sinne der Reform. Auch die drei unmittelbaren Nachfolger Clemens’ auf dem Papstthron waren Deutsche, die den cluniazensischen Reformgeist in Rom umsetzten. Der bedeutendste unter ihnen war der elsässische Adelssohn Bruno von Egisheim, ein Verwandter des salischen Kaiserhauses. Als Leo IX. regierte er von 1049 bis 1054. Er war derjenige, der die Orthodoxen exkommunizierte, und das führte zum

1054

SCHISMA    1054 »spaltete« sich die bis dahin noch einheitliche Christenheit auf. Die Westkirche (in Rom) und die Ostkirche (in Konstantinopel) »trennten« sich (griechisch schizeín). Das war das sogenannte »Morgenländische Schisma« – der Höhepunkt eines jahrhundertelangen Prozesses, in dessen Verlauf sich die (lateinisch sprechende, abendländische) Westkirche und die (griechisch sprechende, morgenländische) Ostkirche immer weiter entfremdet hatten.

Der Anlass war vergleichsweise banal. Wegen einer eher tagespolitischen Streitfrage um theologische Gepflogenheiten im neuerdings von den Normannen eroberten, ehemals byzantinischen Unteritalien wurde eine päpstliche Gesandtschaft nach Konstantinopel geschickt. In einem Anfall von Zorn legte der hitzige Kardinal Humbert, der die Verhandlungen provozierend führte, auf dem Altar der Hagia Sophia eine vom Papst unterzeichnete Urkunde nieder, in der dieser den Patriarchen exkommunizierte. Der Patriarch exkommunizierte seinerseits den Kardinal, der von der Bevölkerung beinahe gelyncht worden wäre. Damit war der Bruch zwischen Rom und Byzanz vollzogen.

1059

PAPSTWAHL    Erst durch die von Cluny angestoßene Reform wird die Wahl des Papstes durch die Kardinäle eingeführt. Bis dahin war das eher eine Angelegenheit des römischen Stadtadels. Formell ausschlaggebend war ein Dekret von Papst Nikolaus II. (1058–1061) im Zusammenhang mit dem Dritten Laterankonzil von 1059. Das Konzil übertrug die Prinzipien der Cluniazensischen Reform auf die Kirche insgesamt: Verbot der Laieninvestitur, Einführung des Zölibats für alle Priester und eben der Beschluss zur Papstwahl durch die Kardinäle.

1075

INVESTITURSTREIT    Im Mittelalter gab es keine Trennung von Kirche und Staat wie in der Moderne. Im Gegenteil – geistliche und weltliche Herrschaft waren machtpolitisch und institutionell aufs Engste miteinander verzahnt. Die Besetzung geistlicher Ämter wie Bischöfe und Äbte war als Machtfaktor für die Könige von allergrößtem Interesse, weil diese wieder an die Krone zurückfielen, da sie nicht vererbbar waren. Die Reichsbischöfe und Reichsäbte waren ihrerseits bedeutende weltliche Herren mit oftmals großem Besitz und Rechtsprechungsbefugnissen. Es kam zu Missbräuchen durch Kauf, Tausch, Vererbung von Kirchenämtern: zur Simonie. Deren Bekämpfung stand ganz oben auf der Agenda der cluniazensischen Reform. Die schärfste Kampfansage formulierte Papst Gregor VII. 1075 in seinem Dictatus Papae.

Der toskanische Adlige und ehemalige Mönch Hildebrand Aldobrandeschi, der sich von 1073 bis 1085 Papst Gregor VII. nannte, ist die Symbolfigur für den unbeugsamen Machtwillen der Päpste im Hochmittelalter. Er war ein glühender Anhänger der cluniazensischen Reform. Das berühmte Dokument besteht aus einem einzigen Blatt Papier mit genau 27 Sätzen, die in aller Deutlichkeit den universalen Herrschaftsanspruch des Papstes zum Ausdruck bringen: »Dass alle Fürsten nur des Papstes Füße küssen«, dass nur er Bischöfe und Äbte einsetzen darf, dass es nur ihm erlaubt ist, Kaiser abzusetzen, dass nur er exkommunizieren darf, dass nur er kanonisches Recht setzt, dass er unfehlbar ist. Jeder europäische Fürst musste dies als Kampfansage an seine herrscherlichen Rechte verstehen.

Anlässlich der Neubesetzung des Erzbischofssitzes von Mailand entbrannte 1075 dann ein Streit zwischen dem deutschen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor. Heinrich hatte für den Mailänder Stuhl einen anderen Kandidaten als der Papst. Beide wurden eingesetzt: Erzbischof und Gegenerzbischof.

Von einem Reichstag in Worms sandte Heinrich IV. einen Brief an Gregor, in dem er ihn »nicht mehr Papst, sondern falscher Mönch« nannte und im Befehlston aufforderte: »Verlasse den apostolischen Stuhl!« »Steige herab, steige herab!«

Umgehend setzte Gregor seinerseits den Kaiser ab, belegte ihn mit dem Kirchenbann und exkommunizierte ihn. Die deutschen Fürsten gerieten ins Wanken und drohten Heinrich ebenfalls, ihn abzusetzen, falls er sich nicht mit dem Papst aussöhnte. Diesem blieb nichts anderes übrig, als den berühmt gewordenen Gang nach Canossa anzutreten.

1076

CANOSSA    war eine der Stammburgen der Markgräfin Mathilde von Toskana, die eine wichtige Vermittlerrolle bei der Aussöhnung zwischen Kaiser und Papst spielte. Mathilde hatte Gregor auf ihre Burg eingeladen, um dort den Kaiser zu erwarten. Sie war eine hochgebildete, einflussreiche Fürstin, die über große Teile der Toskana und bis hinauf in die Po-Ebene herrschte. Canossa befindet sich am Nordrand des Appenin, unweit von Parma. Als Markgräfin der Toskana war die papsttreue Mathilde allerdings auch Reichsfürstin. Ebenfalls anwesend war der Abt von Cluny. Hugo war ein bedeutender Vollstrecker der cluniazensischen Reformen, denen auch Papst Gregor so glühend anhing. Andererseits war Hugo Taufpate von Kaiser Heinrich und damit ebenfalls für die Vermittlung prädestiniert.

Durch seinen Gang nach Canossa rettete Heinrich zwar seinen Thron im Regnum teutonicorum, wie der Papst zu sagen pflegte, verspielte aber durch die demütigenden Umstände das Ansehen des deutschen Kaisertums. Der Gang nach Canossa wurde in Italien, aber auch in anderen Teilen Europas als so etwas Erschütterndes angesehen wie in der Moderne die Schlacht von Waterloo oder in unserer Zeit der 11. September 2001.

Der Investiturstreit schwelte weiter. Der inzwischen bei den Römern verhasste Papst wurde gegen Ende seiner Amtszeit von Heinrich in der Engelsburg belagert. Nur mithilfe der Normannen konnte Gregor aus Rom entkommen. Erst Heinrichs Sohn und Nachfolger erzielte einen Kompromiss mit dem Papsttum, das Wormser Konkordat. Darin verzichtete Kaiser Heinrich V. 1122 auf die Investitur mit Ring und Stab. Der Papst gestand ihm nur das Recht zu, den erwählten Bischof oder Abt gesondert mit weltlichen Rechten zu belehnen. So blieb es im Prinzip bis zum Ende des Reiches 1806.

Was danach geschah: Im Übrigen traf die Kirche rund 100 Jahre später ähnliche Regelungen mit den englischen und französischen Königen, die ebenfalls auf die geistliche Investitur verzichteten. Ein gewaltiger Machtzuwachs für die katholische Kirche im Mittelalter. Allerdings holten sich Engländer und Franzosen nach 1500 ihr Recht wieder zurück: Heinrich VIII. 1534, indem er sich selbst zum Oberhaupt der Kirche in England machte, und Franz I., der 1516 im Konkordat von Bologna das Recht erhielt, die französischen Kleriker selbst einzusetzen. Die Päpste und staufischen Kaiser rieben sich bis 1250 gegenseitig auf. Unterhalb dieser Machtebene vollzog sich in den aufstrebenden Städten die Bildung eines sich immer mehr emanzipierenden, selbst verwaltenden Bürgertums, die erste Umwandlung Europas zur Moderne.

Wann tranken die Türken ihren Kaffee vor Wien?: Weltgeschichte - alles, was man wissen muss
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