AUS OSTROM WIRD BYZANZ
Nach dem Ende des Ostengotenreiches von Theoderich in Italien machte sich Kaiser Justinian I. sogleich an die Rückeroberung der Region sowie weiterer Reichsteile. Justinian, der von 527 bis 565 regierte, verließ Konstantinopel selten, aber dank seiner herausragenden Feldherren gelang ihm eine Wiederherstellung des Oströmischen Reiches zumindest im ganzen Mittelmeerraum.
530
RÖMISCHES RECHT Nach der gelungenen militärischen Wiederherstellung des Römischen Reiches unter christlichen Vorzeichen wollte Justinian das Reich auch auf eine gesicherte rechtliche Grundlage stellen. Er veranlasste um 530 die Sammlung des gesamten römischen Rechts, das innerhalb weniger Jahre als Corpus iuris civilis zusammengetragen wurde. Dies war der wichtigste fundamentale Beitrag der Römer zum modernen Europa: Im Hochmittelalter durch Gelehrte vor allem an der Universität von Bologna wiederentdeckt, wurde es als sogenanntes »Gemeines Recht« Grundlage der kontinentalen Jurisdiktion und der großen Gesetzeswerke vom Code Napoleon (Code civil) in Frankreich bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland. So gesehen ist römisches Recht auch heute geltendes Recht.
537
»SALOMO, ICH HABE DICH ÜBERTROFFEN!« Das bedeutendste Bauwerk von Byzanz wurde auf Justinians Veranlassung in nur fünf Jahren Bauzeit errichtet. Bei der Einweihung 537 soll er ausgerufen haben: »Salomo, ich habe dich übertroffen!«
Mit dem zentralen Kuppelbau orientierten sich die Baumeister bewusst am legendären Vorbild des Tempels in Jerusalem. Die Hagia Sophia wurde ihrerseits zum Vorbild für die gesamte Architektur der griechisch-orthodoxen und russisch-orthodoxen Gotteshäuser, ebenso für die islamische Baukunst der Moscheen. Jahrhundertelang blickte die benachbarte islamische Welt auf dieses »achte Weltwunder« mit seinen – heute leider übertünchten – schimmernden Mosaiken.
ab 531
POLO UND SCHACH – SASSANIDEN II Justinian und der von 531 bis 579 herrschende Perserkönig Chosrau I. aus der Dynastie der Sassaniden waren ebenbürtige Gegenspieler. Chosrau führte den Titel Schah und knüpfte damit bewusst an die persische Tradition der Achämeniden an, die 800 Jahre zuvor von Alexander besiegt worden waren. Das sassanidische Perserreich mit seiner (toleranten) zoroastrischen Staatsreligion war eine hochkultivierte Rittergesellschaft, Panzerreiter in Turbanen und Pluderhosen sozusagen. Am märchenhaft prächtigen Sassanidenhof pflegte man Jagd und Polo. Das »königliche« Schachspiel, vermutlich aus Indien übernommen, wurde durch sie nach Europa weitervermittelt (»Schach« = persisch Schah).
Chosrau förderte den Ost-West-Austausch. Über die Seidenstraße wurde der Fernhandel nach China intensiviert. Er nahm griechische Philosophen nach der Schließung der platonischen Akademie durch Justinian auf, ließ philosophische Texte der Griechen ins Persische übersetzen ebenso wie indische Märchen, deren Stoffe später den Arabern bekannt wurden. Das Sassanidenreich vom Euphrat bis zum Indus ist neben Byzanz das letzte große spätantike Reich, bevor der gesamte Nahe und Mittlere Osten unter die Herrschaft des Islam gerät. Der Sassaniden-Hof wurde zum Vorbild des mittelalterlichen Bagdad. Chosrau selbst wurde zur legendären Figur in Tausendundeine Nacht.
Was danach geschah: Justinian hatte fast 40 Jahre lang regiert (527–565). Unter ihm umfasste das Oströmische Reich zum letzten Mal die gesamte östliche Mittelmeerwelt: Balkan, Kleinasien, Ägypten, Nordafrika, Sizilien und ganz Italien. Kurz nach seinem Tod ging als Erstes Italien an die Langobarden verloren.
ca. 630
BYZANZ In Konstantinopel kam durch Heraklios I. (575–641) eine neue Dynastie auf den Thron, die sich in dramatischen Kämpfen gegen die Sassaniden behaupten musste. 614 eroberten die Sassaniden Jerusalem, entführten das Heilige Kreuz und standen vor den Mauern von Konstantinopel. Als letzten Ausweg startete Heraklios eine Gegenoffensive, drang bis in die Hauptstadt der Perser vor und entriss ihnen 629 die Kreuzesreliquie. Er führte sie im Triumph nach Konstantinopel und brachte sie anschließend persönlich nach Jerusalem zurück. Heraklios verzichtete auf den römischen Kaisertitel Imperator und nahm 629 den griechischen Titel Basileus an – ein Symbol für den Übergang vom Oströmischen Reich zum griechisch-byzantinischen Kaisertum des Mittelalters. Griechisch wurde Amtssprache. In der römischen Cäsarentradition stand der byzantinische Kaiser hoch über allen Menschen und galt als »heilige Person«. In der christlich-orthodoxen Tradition war er »Stellvertreter Gottes« und Oberhaupt der Kirche (und nicht etwa der Patriarch). Dermaßen entrückt näherte man sich ihm nur sehr unterwürfig, was ein kompliziertes Hofzeremoniell hervorbrachte. Im byzantinischen Mittelalter entwickelte sich auch kein Lehensstaat mit »Reichstagen«, sondern es wurde direkt, von der Zentrale aus regiert. Byzanz blieb bis in die Renaissance die mit Abstand kultivierteste und bevölkerungsreichste Großstadt Europas, eine Drehscheibe des Ost-West-Handels. Die Sitte, mit der Gabel zu essen, gelangte im Hochmittelalter durch byzantinische Prinzessinnen nach Europa. Messer hatten die Barbaren seit jeher benutzt.
Und dennoch konnte Heraklios die nun kommende arabische Expansion nicht aufhalten. Ägypten war den Byzantinern bereits gegen die Sassaniden verloren gegangen. Mit der Schlacht am Yarmuk 636, nur sieben Jahre nach dem Triumpf gegen die Sassaniden, wurde der ganze Nahe und Mittlere Osten innerhalb weniger Jahre arabisch-islamisch, nachdem er 1000 Jahre lang kulturell griechisch geprägt und über 500 Jahre lang politisch Teil des Römischen Reiches gewesen war. Da die Römer und nach ihnen die Oströmer im Nahen Osten als Fremdherrscher ziemlich autoritär regiert hatten, wurden die Araber teilweise wie Befreier begrüßt.