REFORM UND RESTAURATION

Nach der Niederlage von Jena und Auerstedt war Preußen im Frieden von Tilsit 1807 nur knapp der Liquidation durch Napoleon entgangen. Als Reaktion darauf kam es zu längst überfälligen, umfassenden Reformen.

ab 1807

STEIN-HARDENBERGISCHE REFORMEN    Karl Freiherr vom Stein (1757–1831) konnte diese Reformen nur ein gutes Jahr lang leiten, dann verlangte Napoleon seinen Rücktritt. Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822) setzte sie aber in Steins Sinne fort. Spätestens nach dem Tod Friedrichs II. (1790) war Preußen gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch in spätabsolutistische Starre verfallen. Hier hielt sich das Ancien Régime anscheinend unbeeindruckt von den Ereignissen in Frankreich, während die Franzosen sich selbst trotz aller Turbulenzen inzwischen als souveränes Volk und mündige Staatsbürger begriffen.

Der alte preußische Ständestaat wurde nun abgeschafft. Die wichtigsten Ergebnisse der Reformen waren: die Aufhebung der Leibeigenschaft der Gutsbauern (1807), Gewerbefreiheit ohne Zunftzwang (1810), kommunale Selbstverwaltung (1808), die Gründung der heutigen Humboldt-Universität. An der damals »Berliner Universität« genannten Hochschule verwirklichte ihr Gründer Wilhelm von Humboldt sein Ideal einer universitas litterarum, nach der alle Wissenschaften sowie Forschung und Lehre unter einem Dach vereint sein sollten. Seit dem Mittelalter hatten die Professoren nur reines Bücherwissen an ihre Studenten weitergegeben. Das Kleben an überkommenen Lehrmeinungen blockierte den wissenschaftlichen Fortschritt. Die Humboldtsche Reformuniversität legte den Grundstein für Deutschlands führende Stellung in den Wissenschaften, bis in das 20. Jahrhundert hinein.

Eine Heeresreform durch den späteren General Gerhard von Scharnhorst (1755–1813) führte zur Bildung eines Volksheeres statt eines Söldnerheeres mit einer relativ kurzen, aber intensiven Ausbildungszeit für die Rekruten. Offiziere mussten sich nun für ihre Laufbahn fachlich qualifizieren, was in dem Adelsheer bisherigen Zuschnitts keineswegs selbstverständlich gewesen war.

Auch in anderen deutschen Staaten wurden Reformen durchgeführt. In Bayern schuf Graf Montgelas (1759–1838) ein modernes Beamtenrecht, stellte Protestanten und Katholiken gleich und verbesserte die Stellung der Juden. Bayern erhielt 1808 eine erste Verfassung und 1813 ein ultramodernes, von Anselm Feuerbach entworfenes Strafgesetzbuch einschließlich Abschaffung der Folter. Das Großherzogtum Baden hatte seit 1818 eine sehr liberale Verfassung, ebenso das Königreich Württemberg.

1815

DER KONGRESS TANZT    Führender Kopf der Restauration in der nachnapoleonischen Zeit war der österreichische Außenminister Fürst von Metternich (1773–1859). Metternich leitete die bedeutendste europäische Gipfelkonferenz, die es je gab. Staatsoberhäupter und hochkarätige Gesandte (Außenminister) aus Dutzenden europäischer Staaten waren vertreten. Da sich die Verhandlungen hinzogen, bemerkte der belgische Diplomat de Ligne: Le congrès danse beaucoup, mais il ne marche pas. »Auf dem Kongress wird viel getanzt, aber man kommt nicht voran.« Der Kongress tanzte oder tagte von September 1814 bis Juni 1815.

Politisch ging es teils um eine Wiederherstellung Europas vor Napoleon, teils um eine Neuordnung unter Wahrung des Gleichgewichts der Mächte. Frankreich konnte dank der geschickten Diplomatie Talleyrands seine Grenzen von 1789 wahren, Österreich erhielt große Gebiete in Norditalien. Bayern, das durch Napoleon um Franken sehr stark vergrößert worden war, verlor Salzburg und das bis zum Gardasee reichende Tirol an Österreich. Die wichtigste Folge des Wiener Kongresses für Deutschland insgesamt war die Gründung des Deutschen Bundes. Dieser eher lose Staatenbund war der Nachfolger des untergegangenen Reiches. Sitz des Bundestags war die damals immer noch Freie Reichsstadt Frankfurt. Tagungsort war dort das Palais Thurn und Taxis.

1817

EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT    Die Restauration der Monarchien war nicht das, was sich die national und liberal gesinnten Anhänger der Befreiungsbewegung in Deutschland erhofft hatten. Ihnen war die deutsche Kleinstaaterei ein Gräuel – sie wollten »Einigkeit und Recht und Freiheit« für das deutsche Vaterland, wie Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) auf Helgoland 1841 in seinem Lied der Deutschen dichtete. Die junge Burschenschafter-Generation artikulierte auf dem Wartburgfest 1817 gleichzeitig mit dem Wunsch nach einem Zusammenschluss zu einem Nationalstaat den nach einer Verfassung. Nach dem Vorbild der Französischen Revolution verlangten sie die Gleichstellung aller Bürger, Freiheitsrechte, Abschaffung der Zensur und der Rechtswillkür. Als Symbol der Fürstenwillkür wurden die für das Ancien Régime typischen Zöpfe der Zopfperücken der Soldaten abgeschnitten oder die Perücken gleich ins Feuer geworfen. Seit der Französischen Revolution trug man die Haare nämlich »offen«.

1819

KARLSBADER BESCHLÜSSE    Derlei Forderungen und »Umtriebe« erschreckten die gerade erst restaurierten Dynasten zutiefst. Die Ermordung des Schriftstellers Kotzebue, der sich in Zeitschriften über die Burschenschafter lustig gemacht hatte, durch den Studenten Karl Ludwig Sand, lieferte 1819 den willkommenen Vorwand: Metternich organisierte in Geheimkonferenzen im August in Karlsbad die Repression aller »demagogischen Umtriebe« durch rigorose Pressezensur, Verbote und Überwachungsmaßnahmen. Damals kam der Begriff »Polizeistaat« auf. Natürlich wurden die Burschenschaften verboten, die Universitäten überwacht. Insbesondere Preußen tat sich bei der »Demagogenverfolgung« hervor. Preußen setzte die Karlsbader Beschlüsse im Deutschen Bund durch, sie blieben 20 Jahre lang bis 1848 bestehen. Ähnlich war die Situation in Frankreich. Hier führten seit der endgültigen Abdankung Napoleons die aus dem Exil heimgekehrten Brüder des geköpften Ludwigs XVI. – nämlich Ludwig XVIII. (bis 1824) und Karl X. (bis 1830) – die Regierung. Vor allem Karl X. betrieb eine ultrareaktionäre royalistische und klerikale Politik, die es dem neureichen Großbürgertum ermöglichte, sich noch mehr zu bereichern. Russland schwenkte nach dem gescheiterten Dekabristenaufstand junger, westlich und konstitutionell gesinnter Aristokraten und Offiziere zur Jahreswende 1825/26 unter Nikolaus I. ebenfalls auf einen radikal polizeistaatlichen Unterdrückungskurs ein. Nur die russische Literatur entfaltete sich in dieser Zeit, obwohl der Schöpfer der russischen Literatursprache, Alexander Puschkin (1799–1837), der persönlichen Zensur Nikolaus I. unterstand. Vor Puschkin hatte man in Russland nur auf Französisch geschrieben (und in der Oberschicht auch gesprochen).

BIEDERMEIER    Die politische Aktivität des Bürgertums erlahmte in der scheinbar so beschaulichen Idylle des Biedermeier. Gleichzeitig aber vollzog sich die Industrialisierung gerade auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz in großem Maßstab. Überall begannen die Schlote zu rauchen. Noch vor der Eisenbahn revolutionierte das erste Dampfschiff Savannah auf seiner 26-tägigen Fahrt von den USA nach Europa 1819 die Schifffahrt und machte sie unabhängig von Wind und Wetter. Justus Liebig erkannte die Bedeutung des Stickstoffs für die Düngung und revolutionierte ab 1840 die Landwirtschaft. 1826 gelang den Franzosen Nièpce und Daguerre die erste beständige fotografische Aufnahme, 1828 gelang Friedrich Wöhler die erste chemische Synthese im Reagenzglas. Darwin war auf der Beagle unterwegs im Pazifik, während Morse den ersten Schreibtelegrafen in Betrieb nahm. Es ging Schlag auf Schlag. 1844 zeigten dann die schlesischen Weberaufstände die Schattenseiten des biedermeierlichen Industrieaufschwungs: Massenarmut.

1830/1848

JULIREVOLUTION – FEBRUARREVOLUTION – MÄRZREVOLUTION    Eugène Delacroix’ riesenformatiges Gemälde Die Freiheit führt das Volk entstand anlässlich der Julirevolution 1830 in Paris. Als der erzreaktionäre Bourbone Karl X. die Pressefreiheit aufheben und das Wahlrecht einschränken wollte, ging das Volk auf die Barrikaden. Sein Nachfolger Louis Philippe legte einen Eid auf die Verfassung ab und wurde »Bürgerkönig« genannt. Im Laufe seiner Regentschaft geriet sein Kopf immer birnenförmiger, was in einer der berühmtesten Karikaturserien des 19. Jahrhunderts überliefert ist. Er regierte bis 1848.

Die Revolution beflügelte die freiheitlichen Bestrebungen in ganz Europa. Belgien errang seine Unabhängigkeit von den Niederlanden. Ende Mai 1832 schwenkten die deutschen Burschenschafter auf dem Hambacher Fest die schwarz-rot-goldenen Fahnen, forderten die Einheit Deutschlands, die Anerkennung der Volkssouveränität, Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit. Das Treffen war bewusst als Volksfest organisiert, da politische Kundgebungen nicht erlaubt waren.

In Frankreich regierte der Bürgerkönig nach liberalen Anfängen immer reaktionärer. Während sich das Großbürgertum schamlos bereicherte, wurde die soziale Lage der Arbeiter völlig ignoriert. Am 21. Februar 1848 erschien das Kommunistische Manifest von Karl Marx, das die Zustände des Proletariats wiedergab – am gleichen Tag, an dem in Paris die Unruhen ausbrachen, die drei Tage später zum Sturz des Bürgerkönigs führten. In Frankreich wurde die Zweite Republik ausgerufen. Auch dieses Mal sprang der Funke sofort nach Europa über. Ende Februar begann in Mannheim die Badische Revolution, Mitte April wurde dort die Republik proklamiert. Im März trat Metternich in Wien zurück und floh nach London. Die Ungarn erhoben sich gegen Österreich, seitdem hieß die Monarchie der Habsburger »Österreich-Ungarn«. In Berlin wurden Barrikaden errichtet, und die Aufständischen lieferten sich Straßenschlachten mit der königlichen Kavallerie.

18. Mai 1848

PAULSKIRCHE    Am 18. Mai trat in der Frankfurter Paulskirche das erste deutsche Parlament zusammen. Die Versammlung arbeitete unter ihrem Parlamentspräsidenten Heinrich von Gagern (1799–1880) eine Verfassung für das damals schon so genannte »Deutsche Reich« aus. Sie enthielt einen ausführlichen Grundrechtskatalog, der zum Vorbild für die Weimarer Verfassung und das Bonner Grundgesetz wurde. Dieses Deutsche Reich sollte eine konstitutionelle Monarchie und ein Bundesstaat sein mit einem aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Parlament. Österreich, traditionell die Vormacht im Deutschen Bund, wurde nicht einbezogen. Diese sogenannte kleindeutsche Lösung hatte sich bereits abgezeichnet. Allerdings nahm der als Monarch vorgesehene preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm angetragene Kaiserwürde eines konstitutionellen Monarchen »aus den Händen des Volkes« denn doch nicht entgegen. Damit war der Versuch, einen einheitlichen deutschen Nationalstaat auf der Grundlage einer freiheitlichen, demokratischen Verfassung zu schaffen, gescheitert. Es blieb also vorläufig beim Deutschen Bund und bei den souveränen deutschen Einzelstaaten. Dieser zerbrach 1866 im deutsch-österreichischen Krieg. Unmittelbar danach schuf Bismarck den Norddeutschen Bund, dem die süddeutschen Länder nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 beitraten.

Wann tranken die Türken ihren Kaffee vor Wien?: Weltgeschichte - alles, was man wissen muss
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