DIE REFORMATION IN DEUTSCHLAND

1516 wird der in Gent im Jahr 1500 geborene und in Spanien aufgewachsene spanisch-burgundische Thronfolger aus dem Haus Habsburg, Karl, im Alter von 16 Jahren als Carlos I. König von Spanien.

Nach dem plötzlichen Tod seines Großvaters Kaiser Maximilian 1519 lässt er sich zum römisch-deutschen König und Kaiser Karl V. wählen. Franz I. – der bedeutende französische Renaissance-König und europäische Widersacher Karls – hatte sich übrigens ebenfalls um diese deutsche Amtsstelle beworben. Für seine Wahl hatte der sehr junge Karl bei den Fuggern und anderen Banken erhebliche Schulden aufgenommen, um hohe Bestechungsgelder an die deutschen Kurfürsten bezahlen zu können.

Karl ist spanischer König, Herr über den riesigen habsburgischen Hausbesitz und der mächtigste Mann in Europa. Seine Herrschaft hätte im Umfeld der italienischen und europäischen Renaissance sowie des kolonial sensationell expandierenden Spanien äußerst glanzvoll sein können – hätte es nicht in Deutschland die Reformation gegeben.

1517

THESENANSCHLAG    Nach ihrer Lehre gewährt die Kirche im Namen Jesu Christi dem bußfertigen Gläubigen den Nachlass irdischer Sünden. Zeichen der Reue kann auch eine Geldspende sein. Im Spätmittelalter hatte die Kirche den Wert solcher Geldbußen als Finanzierungsinstrument entdeckt und verbriefte sie quasi als Wertpapiere: Die Ablassbriefe wurden gegen klingende Münze verkauft. Während der Hochrenaissance wurde dieser Geschäftszweig unter dem Prunk liebenden Papst Leo X. Medici auf die Spitze getrieben.

Der aggressivste Ablasshändler in Deutschland war Johann Tetzel (ca. 1465–1519), sein Werbeslogan: »Sobald der Gulden im Becken klingt, im hui die Seel im Himmel springt«. 1516 bekam Martin Luther die von Tetzels Auftraggeber verfasste »Instruktion« zu Gesicht, wonach die eine Hälfte der Einnahmen für die Finanzierung des Neubaus von St. Peter in Rom, die andere für die Tilgung der Schulden gedacht war, die Kardinal Albrecht bei den Fuggern hatte. (Der Hohenzollern-Spross Albrecht hatte sich von dem Geld sowohl den Erzbischofsstuhl von Magdeburg 1513 wie den von Mainz 1514 erkauft.)

Über diese »Instruktion« war der Wittenberger Universitätsprofessor Luther zutiefst empört und wollte eine akademische Disputatio über den Ablasshandel in Gang bringen. Ob der damals 34-Jährige dann am 31. Oktober 1517 tatsächlich 95 Thesen per Anschlag an dem Portal der Schlosskirche in Wittenberg bekannt machte oder nur Handzettel verteilte, ist historisch nicht verbürgt.

Inhalt der »Thesen« sind 95 auf Latein geschriebene Sätze, in denen Luther seinen Standpunkt für die Disputatio begründet. Seiner Auffassung nach hat »jeder Christ, der wirklich bereut, Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief« und er stellt fest, dass »ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht wird«. Die Resonanz war ungeheuer und hält in ihren weltgeschichtlichen Konsequenzen bis heute an. Zuerst natürlich in Deutschland verwandelte sich Luthers Auffassung zur Buße in Verbindung mit seiner Gnadenlehre zur theologischen Grundlage der Reformation. Auf der politischen Ebene verquickten sich religiöse Motive mit handfesten Machtinteressen – meist im Sinne des Unabhängigkeitsstrebens der Fürsten.

1521

HIER STEHE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS    Kardinal Albrecht zeigte Luther umgehend in Rom an. Doch Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen hielt seine schützende Hand über den Reformator. Dieser vollzog 1521 mit der öffentlichen Verbrennung der päpstlichen Bulle in Wittenberg, welche seine Thesen verdammte, den Bruch mit Rom. Luther wurde exkommuniziert. Die gesamte Reichsleitung war inzwischen involviert. Auf einem Reichstag in Worms Mitte April 1521 in Anwesenheit des frisch gewählten Kaisers Karl V. lehnte Luther die Forderung nach einem Widerruf in einer auf Latein gehaltenen Ansprache sinngemäß mit den legendären Worten ab: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Vor dem Vollzug der daraufhin ausgesprochenen Reichsacht bewahrte ihn Kurfürst Friedrich, indem er Luther in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf die Wartburg bringen ließ.

Auf der Wartburg entstand im Herbst 1521 innerhalb von knapp drei Monaten Luthers Übersetzung des Neuen Testaments direkt aus dem Griechischen, also nicht, wie frühere Bibelübersetzungen, aus der lateinischen Bibelausgabe, der Vulgata. Der sprachmächtige Luther fand einen neuen, volksnahen Ton. Durch die enorme Verbreitung seiner Übersetzung wurde die Lutherbibel zu einer der maßgeblichen Grundlagen des Neuhochdeutschen.

In Luthers theologischer Auffassung spielt gerade im Zusammenhang mit der Frage der Buße die Gewissensfreiheit eine zentrale Rolle. Wenn dem Menschen Gottes Gnade persönlich zuteil wird, ohne Vermittlung der Kirche, dann muss er sich mit seinem Gewissen persönlich vor Gott verantworten und persönlich Gottes Willen erforschen. Das kann er nur, wenn er Gottes Wort persönlich kennt. Jeder Gläubige soll in der Lage sein, die Bibel zu lesen, und nur das, was in der Bibel geschrieben steht (sola scriptura), gilt.

1524/1526

CUIUS REGIO, EIUS RELIGIO    Seit 1522 wurde die Reformation zu einer Volksbewegung. Luther kehrte nach Wittenberg zurück, reformierte die Gottesdienstordnung und versuchte, Tumulte und Exzesse wie den Bildersturm zu mäßigen. In Sachsen verließen Mönche und Nonnen die Klöster. Luther heiratete 1525 Katharina von Bora, eine ehemalige Nonne.

Die Bauern interpretierten die lutherische »Freiheit« in ihrem Sinn und rebellierten gegen Willkür, Zwang und Abgaben der Standesherren und »Pfaffen« – auch Kirche und Klöster waren große Grundbesitzer. Die sozialen Unruhen gingen vom Bodenseegebiet aus und verbreiteten sich bis nach Thüringen. Ein primitiv ausgerüstetes Bauernheer wurde dort 1525 in der Nähe des Kyffhäusers aufgerieben. Nahezu 100000 Bauern kamen bei der Niederschlagung der Aufstände ums Leben.

Das Ende der Bauernunruhen war ein Erfolg für die Fürsten. Diejenigen unter ihnen, die der Reformation anhingen, wollten die Reichsacht gegen Luther weiterhin nicht vollziehen, allen voran der Kurfürst von Sachsen. Auf einem Reichstag in Nürnberg 1524 entstand die Idee, dass jeder Landesherr für sein Territorium (regio) entscheiden solle, welche Religion dort gelte: Cuius regio, eius religio. Diese Kompromissformel wurde 1526 auf dem Reichstag in Speyer verabschiedet und 1555 Grundlage für den Augsburger Religionsfrieden.

1529

PROTESTANTEN    Karl V., der auf diesem und dem nachfolgenden Reichstag nicht anwesend war, akzeptierte die Formel nicht und hob den Beschluss wieder auf. Sein Bruder Ferdinand, der ihn vertrat, forderte beim zweiten Speyerer Reichstag 1529 nochmals den Vollzug der Acht gegen Luther. Die Mehrheit billigte Karls Entscheidung am 19. April. Daraufhin verließen die evangelischen Reichsstände den Saal. Das waren sechs Fürsten (Sachsen, Ansbach, Hessen, Anhalt, Lüneburg und Braunschweig) sowie 14 Reichsstädte (überwiegend aus dem deutschen Südwesten). Am 20. April überreichten sie eine »Protestationsschrift«. So wurden die Anhänger der reformatorischen Bewegung »Protestanten«.

1530/1555

AUGSBURGER BEKENNTNIS UND AUGSBURGER RELIGIONSFRIEDE    Waren bisher Worms und Speyer die Hauptschauplätze der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Fürsten, so wurde nun Augsburg zweimal der maßgebliche Tagungsort.

Für den Reichstag von 1530 verfasste Philipp Melanchthon (1497–1560) im Auftrag von Kurfürst Johann von Sachsen das »Augsburger Bekenntnis«, in dem er die reformatorische Lehre darlegte. Luther billigte Melanchthons Erklärung, und die meisten protestantischen Reichsstände bekannten sich dazu. Kaiser Karl V. war dieses Mal anwesend, nahm die Confessio Augustana immerhin zur Kenntnis, bestätigte dann aber das Wormser Edikt von 1521, mit dem Luther zum Ketzer erklärt worden war. Dem wollten sich die protestantischen Fürsten und Reichsstädte nun nicht unterwerfen und schlossen sich 1531 zum Schmalkaldischen Bund zusammen. Dieser wurde in den Dreißigerjahren des Jahrhunderts sehr mächtig, und die Protestanten konsolidierten ihre Positionen. Doch die entscheidende militärische Auseinandersetzung gewann Karl V. 1547 in der Schlacht bei Mühlberg an der Elbe. Es war der erste Religionskrieg in Europa zwischen Protestanten und Katholiken.

Trotz des Sieges bei Mühlberg änderten sich bald darauf die deutschen Machtverhältnisse. Karl V. wollte seinen Sohn Philipp II. von Spanien als deutschen Kaiser durchsetzen, das wollten nun viele deutsche Fürsten nicht und wechselten die Seite. Karls Bruder Ferdinand handelte 1555 wiederum in Augsburg den Kompromiss auf der Grundlage des Cuius regio, eius religio aus. Sie erlaubte dem Landesherrn – nicht seinen Untertanen – die Religion zu wählen und eigene Landeskirchen zu errichten. Mit diesem Reichsgrundgesetz wurde das Prinzip der Religionsfreiheit in Europa sozusagen verfassungsrechtlich anerkannt, auch wenn es nicht die individuelle Religionsfreiheit im modernen Sinn war. Außerdem wurden dadurch die protestantischen Reichsstände als gleichberechtigt anerkannt. Durch den Augsburger Friedensschluss wurde einerseits die konfessionelle Spaltung Deutschlands besiegelt, andererseits die Einheit des Reiches gewahrt. Der Erfolg der Reformation war auch »außenpolitisch« bedingt. Die beiden Habsburger waren zu stark in Konflikten außerhalb des Reiches involviert: Karl V. in seinen Auseinandersetzungen mit Franz I. und Ferdinand mit den Türken, die in Ungarn standen.

1555 verfasste Karl V. seine Abdankungserklärung und stellte sie 1556 den deutschen Kurfürsten zu. Dann zog er sich in das spanische Kloster San Yuste zurück, wo er 1558 starb.

EMIGRATION    ist als geschichtliches Phänomen eine Folge der Reformation, und das Wort wird erst seit dieser Zeit gebraucht. Bereits die Vertreibung der Mauren und Juden aus Spanien am Ende der Reconquista war eine Form der Zwangsemigration aus religiösen Gründen. Später emigrierten auch viele protestantische Hugenotten aus Frankreich in die Niederlande, die Schweiz oder nach Preußen, und Puritaner nach Amerika.

Wann tranken die Türken ihren Kaffee vor Wien?: Weltgeschichte - alles, was man wissen muss
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html