Die Einsicht beim Spülen
Wenn sich Menschen treffen, die Bohr gekannt haben und von ihm erzählen wollen, oder wenn sich Wissenschaftler über seinen Rang und seine Bedeutung verständigen, dann kommen unvermeidlich Anekdoten zur Sprache, die Bohrs eigentümlich dialektischen Witz und wachsame Menschlichkeit zeigen. Eine besonders eindrucksvolle Geschichte erzählt Werner Heisenberg (1901–1976) in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze. Das Geschehen spielt im Jahr 1933 auf einer Almhütte am Ende eines anstrengenden Skitags. Nach dem Essen muss Ordnung gemacht werden, und Bohr wird die Aufgabe zugeteilt, in der Küche das Geschirr zu spülen. Bei dieser für ihn ungewohnten Tätigkeit fällt dem Physiker plötzlich etwas Wunderbares auf – und es ist anzunehmen, dass Bohr seine Gedanken tatsächlich in der deutschen Sprache ausgedrückt hat, da er sie ebenso beherrschte und liebte wie seine dänische Muttersprache: »Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit die Teller und Gläser schließlich sauber zu machen. So haben wir in der Sprache unklare Begriffe und eine in ihrem Anwendungsbereich in unbekannter Weise eingeschränkte Logik, und doch gelingt es, damit Klarheit in unser Verständnis der Natur zu bringen.«
Carl Friedrich von Weizsäcker, der mit von der Partie war, erinnert sich, dass diese Geschichte damit noch nicht zu Ende war. Als Bohr voller Stolz sein Werk – die gereinigten Teller und blitzblanken Gläser – betrachtete, meinte er noch mit seinem verschmitzten Lächeln: »Dass man mit schmutzigem Wasser und einem schmutzigen Tuch schmutzige Gläser sauber machen kann, wenn man das einem Philosophen sagen würde, er würde es nicht glauben.«
Der Vergleich mit dem Spülen erhellt, wie Wissenschaft funktioniert und zu neuen Erkenntnissen führt: Eine unklare Idee wird in einem unklaren Experiment geprüft und das Ergebnis in unklaren Worten ausgedrückt. Es ist das Zusammenspiel von allen drei Komponenten – beim Spülen das Geschirr, das Wasser und der Lappen –, mit dessen Hilfe die erwünschte Klarheit entsteht. Der Versuch, Einsichten in die Natur unter Verzicht auf Experimente zu gewinnen, erscheint dann wie Spülen ohne Wasser.