»Licht und Leben – noch einmal«
Unter diesem Titel wurde 1963 der Vortrag publiziert, den Bohr am 21. Juni 1962 – wenige Monate vor seinem Tod – zur Einweihung des Instituts für Genetik gehalten hatte, das dank der aktiven Mithilfe von Delbrück an der Universität von Köln gegründet worden war. Die deutschen Molekularbiologen hatten den nach 1947 als Professor für Biologie fest am Caltech etablierten Delbrück Ende der 1950er Jahre gebeten, ihnen zu helfen, die neue Wissenschaft auch nach Deutschland zu bringen. Delbrück reagierte positiv und kam persönlich für zwei Jahre nach Köln, um die von ihm initiierte Forschung auch in seiner Heimat in Gang zu setzen. Als das Gebäude fertig war, lud er Bohr nach Köln ein und forderte ihn auf, die frühen Überlegungen zu »Licht und Leben« dreißig Jahre später zu überdenken und auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen. Immerhin war mittlerweile die Molekularbiologie etabliert, die den genetischen Code zu entschlüsseln begonnen und zu verstehen angefangen hatte, wie das Leben in einer Zelle biochemisch reguliert und gesteuert wird.
Delbrück selbst hatte damals die Hoffnung aufgegeben, in der Genetik die paradoxe Situation erleben zu können, die Rutherford für die Atomphysik gefunden und die Bohr gemeistert hatte. Delbrück hatte gehofft, bei seinen Versuchen, das Leben mit Licht zu verstehen, auf dieselbe Begrenztheit des mechanischen Denkens bei den Genen zu treffen, auf die der Neuseeländer bei seinen Experimenten mit den Atomen gestoßen war. Als 1953 mit der Doppelhelix aus DNA ein Modell des Gens auftauchte, mit dem alle Fragen der Vererbung im Rahmen des klassischen – mechanischen – Denkens beantwortbar zu sein schienen und nirgends zu erkennen war, wo sich die Notwendigkeit einer Art »Quantengenetik« zeigen könnte, hatte Delbrück seine Forschung auf diesem Sektor aufgegeben. Wenn man den Phagen als Wasserstoffatom der Genetik bezeichnet, dann kann man sagen, dass Delbrück nach 1953 versuchte, den Phagen des Sehens beziehungsweise das Wasserstoffatom der Wahrnehmung zu finden. Auch dabei orientierte er sich an einem Gedanken Bohrs, der 1932 gesagt hatte, dass in seinen Augen »die unmechanische Stabilität der Atomstrukturen unverkennbar bei den charakteristischen Eigenschaften so komplizierter chemischer Verbindungen wie Chlorophyll und Hämoglobin zutage tritt«. Mit dem Chlorophyll bringt Bohr die Rede auf ein Molekül, das vom Leben – von seiner Evolution – ausgewählt wurde, um Licht einzufangen. Um diese Eigenschaft ging es auch Delbrück nach 1953, nur dass sich seine Bemühungen nicht auf die Umwandlung von Energie, sondern auf die von Information konzentrierten, die letztendlich zum Sehen führt.
Es gibt immer Menschen und Ideen, die ihrer Zeit voraus sind. Dies ist der Wissenschaft nicht unbedingt zuträglich, sondern kann auch dazu führen, dass man sich mit Problemen abgibt, die zu der Zeit, in der man sich ihnen widmet, nicht lösbar sind. Die Hoffnungen, die Bohr und Delbrück auf das Erscheinen oder Erfinden einer der Quantenphysik entsprechenden Quantenbiologie gesetzt hatten, scheinen sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu erfüllen. Dabei geht es genau um das Chlorophyll, das Bohr angesprochen hatte. Dieses Molekül dient in Pflanzen und Bakterien dazu, die Lichtenergie der Sonne einzufangen, und in den Zellen sind dazu viele Chlorophyllmoleküle als Antennen aufgereiht. Wenn sie Licht bekommen, strömt die Energie anderen Zellstrukturen zu, die als photosynthetische Reaktionszentren bezeichnet werden und mit deren Hilfe die benötigte Umwandlung von Kohlendioxid in den Zucker gelingt, mit dem die Zellen sich ernähren und Stoffwechsel betreiben.
Seit den 1930er Jahren besteht der Verdacht, dass dieser Vorgang nur mithilfe der Quantenmechanik verstanden werden kann. Denn immerhin sorgen die einfallenden Photonen dafür, dass Elektronen angeregt werden und in dieser Form – technisch: als Exzitonen – ihr Reaktionszentrum erreichen. Seit einigen Jahren weisen immer mehr Versuche daraufhin (vgl. etwa Philip Ball), dass bei dieser Bewegung eine besondere Quanteneigenschaft, die Kohärenz, eine zentrale Rolle spielt. Sie erlaubt es den Elektronen, ihre – aus dem im Text erörterten Doppelspaltexperiment bekannten – Welleneigenschaften auszunutzen und sich mehr als einen Weg zum anvisierten Reaktionszentrum offen zu halten. Zwar galt bislang der Grundsatz, dass bei Raumtemperatur zu viele Wechselwirkungen in einer Zelle stattfinden, die diesen Quantenzusammenhalt aufbrechen würden. Aber inzwischen scheint gerade der umgekehrte Gedanke Fuß zu fassen. Es sieht so aus, als ob die Schwankungen des zellulären Milieus dafür sorgen, dass das Aufbrechen der Kohärenz bei den durch Lichteinfall angeregten Elektronen verhindert wird und dadurch die Photosynthese effektiver in Gang kommt und verlässlicher in Betrieb bleibt. Ein Gedanke, der Romantikern gefallen würde.