Die Erklärung einer konstanten Größe
Unter konstanter Größe versteht man die nach dem schwedischen Physiker Johannes Rydberg (1854–1919) benannte Naturkonstante, die bei der Berechnung von Spektrallinien aufgetaucht ist und höchst genau vermessen werden konnte. In Bohrs Modell und unter seinen Formvorgaben ließ sich die Rydberg-Zahl (R) auf eine Kombination aus der Elementarladung, dem Planck’schen Quantum (h), der Lichtgeschwindigkeit (c), der Masse eines Elektrons (m) und der geheimnisvollen Kreiszahl π aus der griechischen Antike zurückführen und somit auf wundervolle Weise verstehen: R war gleich 2π2e4m/h3. Bohr, Einstein und viele andere Physiker waren wie elektrisiert: Sie hatten einen gemessenen Wert auf Naturkonstanten und eine rätselhafte Zahl zurückgeführt. Das war genau das, was sie »Verstehen« nannten, ein Triumph des theoretisch-physikalischen Denkens.
Bohr stellte seine mit Rutherford erörterten Vorstellungen vom Aufbau der Atome nach einigen Rohentwürfen in drei Arbeiten zusammen, von denen die erste bereits 1912 entstanden ist. Er veröffentlichte sie aber als Ganzes im Juli, September und November 1913 unter dem Titel »On the Constitution of Atoms and Molecules«. Historiker sprechen heute voller Bewunderung von Bohrs »Trilogie«. Sie erschien in der Zeitschrift Philosophical Magazine and Journal of Science, die das eigentümlich duale Wesen des Bohr’schen Ansatzes und die Intention, das philosophische Denken mit dem wissenschaftlichen Vorgehen verknüpfen zu wollen, selbst in ihrem Titel trägt. Leider konnte dieses begrüßenswerte Begehren aus dem 19. Jahrhundert nicht in die Gegenwart hineingerettet werden, seit 1949 existiert nur noch das Philosophical Magazine, das sich kaum mit Wissenschaft befasst.
Von Niels Bohr ist bekannt, dass er die Arbeiten mithilfe seiner Frau Margrethe schrieb, und es ist anzunehmen, dass er seine Sätze langsam, vielfach variierend und um einzelne Wendungen ringend, wahrscheinlich in einer Mischung aus Dänisch und Englisch diktierte. Vermutlich erfuhren die Manuskripte bereits in ihrer Entstehungsphase durch Margrethes Englischkenntnisse – die besser waren als die ihres Mannes – eine Menge Kürzungen und editorische Eingriffe, was Bohr dazu brachte, dann keine weiteren Vorschläge für Straffungen oder Änderungen mehr anzunehmen. Rutherford und die Herausgeber der für die Publikation vorgesehenen Fachzeitschrift rieten dem Autor zwar eindringlich und nachdrücklich, sich auf die Hälfte seiner Ausführungen zu beschränken, aber eine solche Bitte hatte der junge Däne ja schon zuvor selbst dem großen J. J. Thomson gegenüber abgelehnt; jetzt zeigte er sich erneut unnachgiebig. Wort für Wort wurden die Manuskripte mit Rutherford durchdiskutiert, bis der Experimentalphysiker völlig erschöpft aufgab. Er empfahl, Bohrs Beschreibungen des Atoms in voller Länge zum Druck zu geben, und reichte die Trilogie ungekürzt mit seinen besten Empfehlungen an die Herausgeber weiter – wofür wir heute höchst dankbar sein können.
Auf der philosophischen Ebene musste Bohr einräumen – wahrscheinlich sogar zu seinem Vergnügen –, dass er sein eigentliches und durch Møllers Vorgaben anvisiertes Ziel noch nicht erreicht hat: die Atome ohne Materie und allein als Form zu erklären, um auf diese Weise eine Erklärung der Materie geben zu können, ohne sie vorauszusetzen. Dies wird erst ein Dutzend Jahre später gelingen, unter anderem durch Werner Heisenberg. Vom physikalischen Standpunkt aus muss man darauf hinweisen, dass mit Bohrs Trilogie eigentlich nur der Bau des Wasserstoffatoms und die Herkunft seiner Spektrallinien verstanden werden können. Bohr selbst hob dies in einem Vortrag »Über das Wasserstoffspektrum« hervor, den er kurz vor Weihnachten 1913 in Kopenhagen hielt und in dem er den eigentlichen Vorteil dieses Elements betonte. Etwas Einfacheres als den Wasserstoff hat die Natur aus physikalischer Sicht nicht hervorgebracht, weshalb sich dessen Atome mit dem kleinstmöglichen Gewicht als ideale Hilfsmittel für den Versuch anboten, sich vorsichtig experimentierend auf das Neuland der Quantentheorie vorzuwagen. Das Wasserstoffatom mit seinem einsamen Elektron, das um einen ebenso einsamen Kernbaustein kreiste, stellte das Experimentierfeld dar, auf dem Bohr seine Ideen ratend und tastend erproben konnte, um sich anschließend den komplizierten Elementen wie Helium und Lithium mit mehr Elektronen und Kernbausteinen zu stellen.
Bohr wird später daraus die Erfahrung ableiten und als Empfehlung an junge Wissenschaftler weitergeben, dass jede Disziplin ihren Wasserstoff braucht, mit dem sie die Erkundung der Naturgesetze einleiten kann. Aber erst zwanzig Jahre nach dem Erscheinen seiner Trilogie forderte Bohr die anderen Forscher auf, ihr jeweiliges Wasserstoffatom zu suchen. Unmittelbar im Anschluss an die Publikation galt es hingegen, sich die Frage vorzunehmen, wie man Atome behandelt, bei denen sehr viel mehr Elektronen als beim Wasserstoff untergebracht werden müssen – beispielsweise 88 Stück beim Radium.
Die erste Hilfe bei dieser Aufgabe wurde Bohr im Sommer 1914 zuteil, als er gemeinsam mit seinem Bruder Harald nach Deutschland reiste, um in Göttingen und München einige Vorträge zu halten. In der bayerischen Landeshauptstadt traf er mit dem Physiker Arnold Sommerfeld zusammen, der mathematisch außerordentlich versiert und von Bohrs Ansatz überzeugt war. Sommerfeld gelang es bald, die simplen Kreise, die Bohr den Elektronen in seinen Modellen zugestanden hatte und die das Rechnen übersichtlich gestalteten, durch raffinierte Ellipsen mit verschiedenen Ausrichtungen zu erweitern. Auf diese Weise konnte er tatsächlich nicht nur viel mehr Anordnungen der atomaren Teile schaffen, sondern auch zahlreiche bislang unverstandene Linien deuten, was ihn schließlich dazu ermutigte, ein Buch über Atombau und Spektrallinien zu schreiben. Sommerfeld verhalf damit nicht nur Bohrs Ideen zum akademischen Durchbruch, sondern es gelang ihm auch, mit diesem Text den größten fachlichen Einfluss auf die nachfolgende Physikergeneration auszuüben und ihre Aufmerksamkeit auf die Atome und ihre Quantentheorie zu lenken.
Sommerfeld begann 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, mit der Niederschrift seines Buches und schloss sie 1918 ab. Bedauerlicherweise behinderten die politischen Feindseligkeiten der Staaten die persönliche Freundschaft zwischen Bohr und Sommerfeld stark, sodass es nicht zu der Zusammenarbeit kommen konnte, die sich die Wissenschaft gewünscht hätte. Bohr war mit seinem anschaulichen Modell und Sommerfelds mathematischen Erweiterungen allein, als er sich an sein großes Ziel wagte, das Periodensystem der Elemente aus der gerade gelungenen Kenntnis der Atome und dem frischen Verständnis für die Verteilung ihrer Bausteine abzuleiten und ihre periodische Vielfalt zu erklären.