Die historische Hilfe

Der innere – komplementäre – Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft zeigt sich auch bei einem Blick in die Vergangenheit unserer Kultur. Seit Längerem schon stellen Historiker fest, dass sich die Künste und die Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam bewegt haben. Nicht nur ist eine neue Physik entstanden. Gleichzeitig hat auch die Malerei neue Wege eingeschlagen, wie etwa Picassos Weg zum Kubismus oder Kandinskys Schritt zu den abstrakten Kompositionen zeigen. Daneben ist eine neue Musik mit einer eigenwilligen Harmonielehre entstanden – Arnold Schönbergs Zwölftonmusik, eine Kompositionstechnik, die später zur Seriellen Musik weiterentwickelt wurde. Zugleich hat sich die Literatur – repräsentiert etwa durch Rainer Maria Rilke – in symbolischer Spiegelung der Welt menschlicher Grunderfahrungen zugewandt.

Vielleicht kann eine vergleichende historische Analyse helfen, die Modernisierung eines Bereichs – der Physik zum Beispiel – durch die Erneuerung eines anderen Bereichs – der Malerei – verständlich zu machen. Dieses Vorhaben orientiert sich am Grundsatz der Komplementarität und formuliert seine Überzeugung als Abwandlung eines Ausspruchs von Georg Christoph Lichtenberg: Wer nur die Wissenschaft versteht, versteht auch die nicht recht; und wer nur die Kunst versteht, versteht auch die nicht recht. (Der Ausspruch von Lichtenberg lautet: »Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.«)

Um die Modernisierung der beiden Bereiche zu erreichen, nutzen wir die historische Tatsache aus, dass zwei der größten Genies des 20. Jahrhunderts – Einstein und Picasso – nicht nur fast gleichaltrige Zeitgenossen waren, sondern ihre kreativen Sprünge in denselben Jahren vollbracht haben. Zwar haben sich Einstein und Picasso nicht im Raum, wohl aber in der Zeit getroffen, was jedoch im Rahmen der Relativitätstheorie, in der die beiden getrennt scheinenden Grundgrößen unserer Wirklichkeit zu dem Gebilde »Raumzeit« verwoben werden, kaum ins Gewicht fällt. Die erste zeitliche Überschneidung vollzieht sich in dem »Wunderjahr« 1905, als der junge Albert Einstein von Bern aus die Physik revolutioniert und als der 1881 geborene Pablo Picasso in Paris anfängt, kubistisch zu malen. Die zweite Überschneidung kommt in den Jahren nach 1912 zustande, als Picasso seinen Bildern eine neue Wendung gibt und auf den analytischen Kubismus eine synthetische Variante folgen lässt. In dieser Malweise werden Gegenstände nach Eindrücken komponiert, die man zu verschiedenen Zeiten von ihnen haben kann. Einstein kommt in diesen Jahren mit der (selbst gestellten) Aufgabe zurecht, seiner sogenannten Speziellen Relativitätstheorie aus dem Jahr 1905 eine allgemeine Form zu geben. Sie erlaubt Betrachtungen über die Welt als Ganzes, und ihr verdanken wir seit 1915 das, was man ein neues Weltbild nennen kann. Gemäß der Allgemeinen Relativitätstheorie dürfen wir uns den Kosmos als etwas vorstellen, das zugleich endlich und unbegrenzt ist. Dieser Gedanke wird möglich, weil unter anderem Raum und Materie nicht mehr unabhängig voneinander sind. Die Materie krümmt vielmehr den Raum, der ihr umgekehrt die Dynamik verleiht, die wir beobachten, wenn sich Massen gegenseitig anziehen.

Was Einstein damals zeigen konnte, macht bis heute all denen viel Mühe, die seine Weltsicht verstehen wollen und sich dazu nicht auf die schwierige Mathematik einlassen können. In einer ersten Annäherung ist es möglich, die Quintessenz von Einsteins Einsichten in die Worte »Alles ist Geometrie« zu fassen. Sie drücken nicht nur aus, was Einstein erkannt hat, sie bahnen zugleich auch den Weg zurück zu Picasso: Die Bezeichnung seines Malstils zu dieser Zeit als »kubistisch« leitet sich vom lateinischen Wort für Würfel (»cubus«) ab, der als Pars pro Toto für die Aufgabe steht, Bilder aus geometrischen Grundformen zu gestalten. Dieser Gedanke geht auf Paul Cézanne zurück, der in Briefen um 1904 einem jungen Maler empfohlen hatte, in der Natur Zylinder, Kugel und Kegel – also geometrische Grundstrukturen – zu sehen und diese Formen in der richtigen Perspektive darzustellen.

Einige kubistische Bilder konnten ihre Betrachter trotz aller Abstraktion ungewöhnlich fesseln. Ihre hohe und unverbrauchte Attraktivität führte den in Paris weilenden Rainer Maria Rilke in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu der Vermutung, dass ihre geometrischen Formen sehr tief reichen, dass sie »die Bildstruktur gewissermaßen bloßlegen« und »das subcutane Netz unter der Bildhaut an’s Licht schälen«. Denn »unter ihrem blühenden Gesicht sind natürlich alle Bilder irgendwie kubistisch gewesen in ihren Grundlagen und Geweben«, wie er im August 1917 an Elisabeth Taubmann schrieb. Seine Worte klingen für naturwissenschaftlich geschulte Ohren so, als ob sie die Bildstruktur meinen, die Menschen beim Sehen in ihrem Kopf anfertigen. Die moderne Neurobiologie kann und wird das bestätigen.

Würde man Rilkes Anmerkung, dass »alle Bilder irgendwie kubistisch« sind, in einem schlichten Satz zusammenfassen wollen, dann könnte dieser lauten: »Alles ist geometrisch darstellbar«, oder noch einfacher: »Alles ist Geometrie«, womit sich eine Brücke zur Physik und den kosmologischen Theorien Einsteins bauen lässt. Wer den Mut hat, sie zu betreten, wird nach einigen Schritten in der Lage sein, Einstein mit dem Herzen zu verstehen und dabei Picasso neu zu entdecken.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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